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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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Nochmals von unsern Gymnasien.

Homer in der Secunda an. Da musz er nun vollständig von vorn anfangen.
Was er auf der Universität gelernt hat, die Ansichten der llonriusL clooU über
die homerische Frage, die Namen und Werke der alexandrinischen Grammatiker,
kann er auf der Schule nicht brauchen, und was er auf der Schule brauchen
kann, eine gründliche Kenntnis des Inhalts und der Darstellungsweise der
homerischen Gedichte, hat er auf der Universität nicht gelernt und zum Examen
auch garnicht nötig gehabt. Da merkt er denn bald, daß er nichts weiß, und
wenn ihm das Glück einen guten Lehrer des Griechischen auf der Schule ge¬
geben hatte, so kehrt er zu dessen Anregungen zurück, holt vielleicht die ver¬
gilbten Hefte, die er bei diesem nachgeschrieben hatte, hervor und freut sich, hier
doch wenigstens einigen Anhalt für den Aufbau seines Unterrichts zu finden.
Aber nicht alle haben die Frische und die geistige Kraft, das während der auf¬
nahmefähigsten Jahre verabsäumte in den Mußestunden, die ein aufreibendes
Amt läßt, und im Drange der Vorbereitung von Stunde zu Stunde nachzu¬
holen. Ihr Unterricht wird nicht Leben schaffen und den klassischen Studien
in den Herzen des heranwachsenden Geschlechtes keine Sympathien erwecken.

Es ist seltsam, daß, während die eigentlich philologischen Anforderungen auf
dem Gymnasium immer mehr hcrabgespannt (? d. Red.) und die Stunden für die
beiden klassischen Sprachen immer mehr vermindert werden, beim Staatsexamen
die streng philologischen Forderungen und Leistungen stetig wachsen, und zwar
auf Kosten einer wirklich fruchtbaren Erkenntnis des klassischen Altertums, die
sich auch der heranwachsenden Jugend gegenüber verwerten ließe. Machte man
früher und vielfach noch jetzt dem philologischen Schulmeister den leider nicht
immer unbegründeten Vorwurf, er betreibe den Unterricht so, als sollte er lauter
zukünftige Philologen bilden, so darf man jetzt mit weit größerm Rechte dem
Universitätsexaminator den Vorwurf machen, er betreibe die Prüfung so, als
solle ein jeder der Prüflinge dereinst Universitätsprofessor werden.

Auch im Deutschen tritt dieser Widerspruch hervor. Bekanntlich ist auf
den preußischen Gymnasien der Unterricht im Mittelhochdeutschen gänzlich ab¬
geschafft worden, aber über nichts prüfen die meisten Examinatoren in diesem
Fache mit größerer Vorliebe als über die verschiednen altdeutschen Dialekte und
ihre Literaturen, und auch hier wieder mit ganz besonderm Nachdrucke über das
Philologische Beiwerk. Da soll mau die gothischen Ablautreihen, die Ausgaben
vom Alexauderlied des Pfaffen Lamprecht, ja die ganze Masse der geistlichen
Literaten des zwölften Jahrhunderts kennen, aber eine Analyse von Schillers
Tell, eine Vertiefung in Goethes Hermann und Dorothea wird nie verlangt.
Da heißt es nachher: Hilf dir selbst, wenn du darin zu unterrichten hast!

Wir sehen also, wie das Gymnasium und die Uuiversttät in ihren An¬
forderungen und Ansprüchen in gerade entgegengesetzter Richtung auseinander¬
gehen; der trennende Spalt zwischen beiden wird immer größer und klaffender.
Das muß schließlich zu einer Katastrophe führen. Diese wird zunächst das


Nochmals von unsern Gymnasien.

Homer in der Secunda an. Da musz er nun vollständig von vorn anfangen.
Was er auf der Universität gelernt hat, die Ansichten der llonriusL clooU über
die homerische Frage, die Namen und Werke der alexandrinischen Grammatiker,
kann er auf der Schule nicht brauchen, und was er auf der Schule brauchen
kann, eine gründliche Kenntnis des Inhalts und der Darstellungsweise der
homerischen Gedichte, hat er auf der Universität nicht gelernt und zum Examen
auch garnicht nötig gehabt. Da merkt er denn bald, daß er nichts weiß, und
wenn ihm das Glück einen guten Lehrer des Griechischen auf der Schule ge¬
geben hatte, so kehrt er zu dessen Anregungen zurück, holt vielleicht die ver¬
gilbten Hefte, die er bei diesem nachgeschrieben hatte, hervor und freut sich, hier
doch wenigstens einigen Anhalt für den Aufbau seines Unterrichts zu finden.
Aber nicht alle haben die Frische und die geistige Kraft, das während der auf¬
nahmefähigsten Jahre verabsäumte in den Mußestunden, die ein aufreibendes
Amt läßt, und im Drange der Vorbereitung von Stunde zu Stunde nachzu¬
holen. Ihr Unterricht wird nicht Leben schaffen und den klassischen Studien
in den Herzen des heranwachsenden Geschlechtes keine Sympathien erwecken.

Es ist seltsam, daß, während die eigentlich philologischen Anforderungen auf
dem Gymnasium immer mehr hcrabgespannt (? d. Red.) und die Stunden für die
beiden klassischen Sprachen immer mehr vermindert werden, beim Staatsexamen
die streng philologischen Forderungen und Leistungen stetig wachsen, und zwar
auf Kosten einer wirklich fruchtbaren Erkenntnis des klassischen Altertums, die
sich auch der heranwachsenden Jugend gegenüber verwerten ließe. Machte man
früher und vielfach noch jetzt dem philologischen Schulmeister den leider nicht
immer unbegründeten Vorwurf, er betreibe den Unterricht so, als sollte er lauter
zukünftige Philologen bilden, so darf man jetzt mit weit größerm Rechte dem
Universitätsexaminator den Vorwurf machen, er betreibe die Prüfung so, als
solle ein jeder der Prüflinge dereinst Universitätsprofessor werden.

Auch im Deutschen tritt dieser Widerspruch hervor. Bekanntlich ist auf
den preußischen Gymnasien der Unterricht im Mittelhochdeutschen gänzlich ab¬
geschafft worden, aber über nichts prüfen die meisten Examinatoren in diesem
Fache mit größerer Vorliebe als über die verschiednen altdeutschen Dialekte und
ihre Literaturen, und auch hier wieder mit ganz besonderm Nachdrucke über das
Philologische Beiwerk. Da soll mau die gothischen Ablautreihen, die Ausgaben
vom Alexauderlied des Pfaffen Lamprecht, ja die ganze Masse der geistlichen
Literaten des zwölften Jahrhunderts kennen, aber eine Analyse von Schillers
Tell, eine Vertiefung in Goethes Hermann und Dorothea wird nie verlangt.
Da heißt es nachher: Hilf dir selbst, wenn du darin zu unterrichten hast!

Wir sehen also, wie das Gymnasium und die Uuiversttät in ihren An¬
forderungen und Ansprüchen in gerade entgegengesetzter Richtung auseinander¬
gehen; der trennende Spalt zwischen beiden wird immer größer und klaffender.
Das muß schließlich zu einer Katastrophe führen. Diese wird zunächst das


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[0595] Nochmals von unsern Gymnasien. Homer in der Secunda an. Da musz er nun vollständig von vorn anfangen. Was er auf der Universität gelernt hat, die Ansichten der llonriusL clooU über die homerische Frage, die Namen und Werke der alexandrinischen Grammatiker, kann er auf der Schule nicht brauchen, und was er auf der Schule brauchen kann, eine gründliche Kenntnis des Inhalts und der Darstellungsweise der homerischen Gedichte, hat er auf der Universität nicht gelernt und zum Examen auch garnicht nötig gehabt. Da merkt er denn bald, daß er nichts weiß, und wenn ihm das Glück einen guten Lehrer des Griechischen auf der Schule ge¬ geben hatte, so kehrt er zu dessen Anregungen zurück, holt vielleicht die ver¬ gilbten Hefte, die er bei diesem nachgeschrieben hatte, hervor und freut sich, hier doch wenigstens einigen Anhalt für den Aufbau seines Unterrichts zu finden. Aber nicht alle haben die Frische und die geistige Kraft, das während der auf¬ nahmefähigsten Jahre verabsäumte in den Mußestunden, die ein aufreibendes Amt läßt, und im Drange der Vorbereitung von Stunde zu Stunde nachzu¬ holen. Ihr Unterricht wird nicht Leben schaffen und den klassischen Studien in den Herzen des heranwachsenden Geschlechtes keine Sympathien erwecken. Es ist seltsam, daß, während die eigentlich philologischen Anforderungen auf dem Gymnasium immer mehr hcrabgespannt (? d. Red.) und die Stunden für die beiden klassischen Sprachen immer mehr vermindert werden, beim Staatsexamen die streng philologischen Forderungen und Leistungen stetig wachsen, und zwar auf Kosten einer wirklich fruchtbaren Erkenntnis des klassischen Altertums, die sich auch der heranwachsenden Jugend gegenüber verwerten ließe. Machte man früher und vielfach noch jetzt dem philologischen Schulmeister den leider nicht immer unbegründeten Vorwurf, er betreibe den Unterricht so, als sollte er lauter zukünftige Philologen bilden, so darf man jetzt mit weit größerm Rechte dem Universitätsexaminator den Vorwurf machen, er betreibe die Prüfung so, als solle ein jeder der Prüflinge dereinst Universitätsprofessor werden. Auch im Deutschen tritt dieser Widerspruch hervor. Bekanntlich ist auf den preußischen Gymnasien der Unterricht im Mittelhochdeutschen gänzlich ab¬ geschafft worden, aber über nichts prüfen die meisten Examinatoren in diesem Fache mit größerer Vorliebe als über die verschiednen altdeutschen Dialekte und ihre Literaturen, und auch hier wieder mit ganz besonderm Nachdrucke über das Philologische Beiwerk. Da soll mau die gothischen Ablautreihen, die Ausgaben vom Alexauderlied des Pfaffen Lamprecht, ja die ganze Masse der geistlichen Literaten des zwölften Jahrhunderts kennen, aber eine Analyse von Schillers Tell, eine Vertiefung in Goethes Hermann und Dorothea wird nie verlangt. Da heißt es nachher: Hilf dir selbst, wenn du darin zu unterrichten hast! Wir sehen also, wie das Gymnasium und die Uuiversttät in ihren An¬ forderungen und Ansprüchen in gerade entgegengesetzter Richtung auseinander¬ gehen; der trennende Spalt zwischen beiden wird immer größer und klaffender. Das muß schließlich zu einer Katastrophe führen. Diese wird zunächst das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/595>, abgerufen am 19.10.2024.