Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Zwei Minderer des Reichs.

Jahres auf dem Bankett des Lordmayors über die "Reinheit der Motive" des
Krimkrieges, die Aufrichtigkeit der Allianz mit Frankreich und die Schnelligkeit,
mit welcher die politischen und moralischen Ziele des Krieges erreicht worden
seien. Unzählig sind seine Deklamationen für "Freiheit"; und doch verfocht er
in einer seiner frühesten Reden das Eigentum an Sklaven und nahm während
des amerikanischen Bürgerkrieges öffentlich in Manchester Partei für die Süd¬
staaten. Der Süden, sagte er, hat sich ein Heer gemacht, hat sich eine Flotte
gemacht und wird sich zu einer Nation machen.

Für sein widerspruchsvolles Wesen sind von Freund und Feind Erklärungen
gegeben worden. Noroing' Luronioliz, damals Eigentum der Peeliten, ent¬
schuldigte eine seiner verfehlten Finanzvorlagen damit, er sei too elever, zu
gescheit, und versicherte ein andermal in vollem Ernst, sein Gedankenflug gehe
so hoch, daß er selbst zuweilen demselben nicht zu folgen vermöge. Eine gewisse
Ähnlichkeit mit dieser Verteidigung hat die epigrammatische Charakteristik Glad-
stones. welche Disraeli am 27. Juli 1873 in einer Tischrede gab: "Ein
sophistischer Rhetor, trunken von seinem überströmenden Wortschwall und begabt
mit der selbstsüchtigen Einbildungskraft, die jederzeit über eine endlose und
in sich unverträgliche Reihe von Argumenten verfügt, um einen Gegner boshaft
herunterzureißen und sich selbst zu verherrlichen." Unangenehme Belege für
diese Schilderung muß Disraeli hinterlassen haben, denn sein Testamentsexekutor
Lord Rowtvn hat erklärt, den politischen Nachlaß nicht bei Gladstones Lebzeiten
herausgeben zu wollen.

Die merkwürdigsten und die anscheinend am tiefsten gehenden Widersprüche
finden sich in seiner Kirchlichkeit, in der Frage, wie sein innerliches Verhältnis
zu Rom sein mag -- Widersprüche, welche ihm, dem nie fehlenden Besucher
des anglikanischen Gottesdienstes, immer wieder die Vermutung zugezogen haben,
daß er nach Sankt Peter gravitire, sogar Gerüchte, daß er übergetreten sei.
Diese Vermutung datirt von seiner Jugendfreundschaft mit Francis Newman,
der übertrat und es zum roten Hut brachte, und seiner Verbindung mit dem
Oxforder Professor Puseh, dem Haupt der Schule, von welcher der Kardinal
Wisemcm 1841 schrieb: "Es ist unmöglich, die Schriften der Oxforder Theologen
zu lesen und namentlich sie chronologisch zu verfolgen, ohne eine täglich wachsende
Annäherung an unsre heilige Kirche wahrzunehmen, in den Dogmen sowohl
als in den Gefühlen. Unsre Heiligen, unsre Päpste sind ihnen nach und nach
teuer geworden, unsre Gebräuche, unsre Kirchenämter, ja unsre ganze Liturgie
siud in ihren Augen kostbare Güter, weit kostbarer noch als vielen von uns;
unsre klösterlichen Institute, unsre Schulen und milden Stiftungen sind mehr
und mehr Gegenstände ihres ernsten Studiums geworden. Es ist kein Zweifel,
daß die Sehnsucht nach der Rückkehr sich tiefer und tiefer in die Seelen gräbt.
Es sind Beweise vorhanden, die freilich nicht namentlich detaillirt werden können,
daß katholische Gesinnungen viel tiefer in die Gesellschaft eingedrungen sind, als


Zwei Minderer des Reichs.

Jahres auf dem Bankett des Lordmayors über die „Reinheit der Motive" des
Krimkrieges, die Aufrichtigkeit der Allianz mit Frankreich und die Schnelligkeit,
mit welcher die politischen und moralischen Ziele des Krieges erreicht worden
seien. Unzählig sind seine Deklamationen für „Freiheit"; und doch verfocht er
in einer seiner frühesten Reden das Eigentum an Sklaven und nahm während
des amerikanischen Bürgerkrieges öffentlich in Manchester Partei für die Süd¬
staaten. Der Süden, sagte er, hat sich ein Heer gemacht, hat sich eine Flotte
gemacht und wird sich zu einer Nation machen.

Für sein widerspruchsvolles Wesen sind von Freund und Feind Erklärungen
gegeben worden. Noroing' Luronioliz, damals Eigentum der Peeliten, ent¬
schuldigte eine seiner verfehlten Finanzvorlagen damit, er sei too elever, zu
gescheit, und versicherte ein andermal in vollem Ernst, sein Gedankenflug gehe
so hoch, daß er selbst zuweilen demselben nicht zu folgen vermöge. Eine gewisse
Ähnlichkeit mit dieser Verteidigung hat die epigrammatische Charakteristik Glad-
stones. welche Disraeli am 27. Juli 1873 in einer Tischrede gab: „Ein
sophistischer Rhetor, trunken von seinem überströmenden Wortschwall und begabt
mit der selbstsüchtigen Einbildungskraft, die jederzeit über eine endlose und
in sich unverträgliche Reihe von Argumenten verfügt, um einen Gegner boshaft
herunterzureißen und sich selbst zu verherrlichen." Unangenehme Belege für
diese Schilderung muß Disraeli hinterlassen haben, denn sein Testamentsexekutor
Lord Rowtvn hat erklärt, den politischen Nachlaß nicht bei Gladstones Lebzeiten
herausgeben zu wollen.

Die merkwürdigsten und die anscheinend am tiefsten gehenden Widersprüche
finden sich in seiner Kirchlichkeit, in der Frage, wie sein innerliches Verhältnis
zu Rom sein mag — Widersprüche, welche ihm, dem nie fehlenden Besucher
des anglikanischen Gottesdienstes, immer wieder die Vermutung zugezogen haben,
daß er nach Sankt Peter gravitire, sogar Gerüchte, daß er übergetreten sei.
Diese Vermutung datirt von seiner Jugendfreundschaft mit Francis Newman,
der übertrat und es zum roten Hut brachte, und seiner Verbindung mit dem
Oxforder Professor Puseh, dem Haupt der Schule, von welcher der Kardinal
Wisemcm 1841 schrieb: „Es ist unmöglich, die Schriften der Oxforder Theologen
zu lesen und namentlich sie chronologisch zu verfolgen, ohne eine täglich wachsende
Annäherung an unsre heilige Kirche wahrzunehmen, in den Dogmen sowohl
als in den Gefühlen. Unsre Heiligen, unsre Päpste sind ihnen nach und nach
teuer geworden, unsre Gebräuche, unsre Kirchenämter, ja unsre ganze Liturgie
siud in ihren Augen kostbare Güter, weit kostbarer noch als vielen von uns;
unsre klösterlichen Institute, unsre Schulen und milden Stiftungen sind mehr
und mehr Gegenstände ihres ernsten Studiums geworden. Es ist kein Zweifel,
daß die Sehnsucht nach der Rückkehr sich tiefer und tiefer in die Seelen gräbt.
Es sind Beweise vorhanden, die freilich nicht namentlich detaillirt werden können,
daß katholische Gesinnungen viel tiefer in die Gesellschaft eingedrungen sind, als


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0059" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/199413"/>
          <fw type="header" place="top"> Zwei Minderer des Reichs.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_217" prev="#ID_216"> Jahres auf dem Bankett des Lordmayors über die &#x201E;Reinheit der Motive" des<lb/>
Krimkrieges, die Aufrichtigkeit der Allianz mit Frankreich und die Schnelligkeit,<lb/>
mit welcher die politischen und moralischen Ziele des Krieges erreicht worden<lb/>
seien. Unzählig sind seine Deklamationen für &#x201E;Freiheit"; und doch verfocht er<lb/>
in einer seiner frühesten Reden das Eigentum an Sklaven und nahm während<lb/>
des amerikanischen Bürgerkrieges öffentlich in Manchester Partei für die Süd¬<lb/>
staaten. Der Süden, sagte er, hat sich ein Heer gemacht, hat sich eine Flotte<lb/>
gemacht und wird sich zu einer Nation machen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_218"> Für sein widerspruchsvolles Wesen sind von Freund und Feind Erklärungen<lb/>
gegeben worden. Noroing' Luronioliz, damals Eigentum der Peeliten, ent¬<lb/>
schuldigte eine seiner verfehlten Finanzvorlagen damit, er sei too elever, zu<lb/>
gescheit, und versicherte ein andermal in vollem Ernst, sein Gedankenflug gehe<lb/>
so hoch, daß er selbst zuweilen demselben nicht zu folgen vermöge. Eine gewisse<lb/>
Ähnlichkeit mit dieser Verteidigung hat die epigrammatische Charakteristik Glad-<lb/>
stones. welche Disraeli am 27. Juli 1873 in einer Tischrede gab: &#x201E;Ein<lb/>
sophistischer Rhetor, trunken von seinem überströmenden Wortschwall und begabt<lb/>
mit der selbstsüchtigen Einbildungskraft, die jederzeit über eine endlose und<lb/>
in sich unverträgliche Reihe von Argumenten verfügt, um einen Gegner boshaft<lb/>
herunterzureißen und sich selbst zu verherrlichen." Unangenehme Belege für<lb/>
diese Schilderung muß Disraeli hinterlassen haben, denn sein Testamentsexekutor<lb/>
Lord Rowtvn hat erklärt, den politischen Nachlaß nicht bei Gladstones Lebzeiten<lb/>
herausgeben zu wollen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_219" next="#ID_220"> Die merkwürdigsten und die anscheinend am tiefsten gehenden Widersprüche<lb/>
finden sich in seiner Kirchlichkeit, in der Frage, wie sein innerliches Verhältnis<lb/>
zu Rom sein mag &#x2014; Widersprüche, welche ihm, dem nie fehlenden Besucher<lb/>
des anglikanischen Gottesdienstes, immer wieder die Vermutung zugezogen haben,<lb/>
daß er nach Sankt Peter gravitire, sogar Gerüchte, daß er übergetreten sei.<lb/>
Diese Vermutung datirt von seiner Jugendfreundschaft mit Francis Newman,<lb/>
der übertrat und es zum roten Hut brachte, und seiner Verbindung mit dem<lb/>
Oxforder Professor Puseh, dem Haupt der Schule, von welcher der Kardinal<lb/>
Wisemcm 1841 schrieb: &#x201E;Es ist unmöglich, die Schriften der Oxforder Theologen<lb/>
zu lesen und namentlich sie chronologisch zu verfolgen, ohne eine täglich wachsende<lb/>
Annäherung an unsre heilige Kirche wahrzunehmen, in den Dogmen sowohl<lb/>
als in den Gefühlen. Unsre Heiligen, unsre Päpste sind ihnen nach und nach<lb/>
teuer geworden, unsre Gebräuche, unsre Kirchenämter, ja unsre ganze Liturgie<lb/>
siud in ihren Augen kostbare Güter, weit kostbarer noch als vielen von uns;<lb/>
unsre klösterlichen Institute, unsre Schulen und milden Stiftungen sind mehr<lb/>
und mehr Gegenstände ihres ernsten Studiums geworden. Es ist kein Zweifel,<lb/>
daß die Sehnsucht nach der Rückkehr sich tiefer und tiefer in die Seelen gräbt.<lb/>
Es sind Beweise vorhanden, die freilich nicht namentlich detaillirt werden können,<lb/>
daß katholische Gesinnungen viel tiefer in die Gesellschaft eingedrungen sind, als</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0059] Zwei Minderer des Reichs. Jahres auf dem Bankett des Lordmayors über die „Reinheit der Motive" des Krimkrieges, die Aufrichtigkeit der Allianz mit Frankreich und die Schnelligkeit, mit welcher die politischen und moralischen Ziele des Krieges erreicht worden seien. Unzählig sind seine Deklamationen für „Freiheit"; und doch verfocht er in einer seiner frühesten Reden das Eigentum an Sklaven und nahm während des amerikanischen Bürgerkrieges öffentlich in Manchester Partei für die Süd¬ staaten. Der Süden, sagte er, hat sich ein Heer gemacht, hat sich eine Flotte gemacht und wird sich zu einer Nation machen. Für sein widerspruchsvolles Wesen sind von Freund und Feind Erklärungen gegeben worden. Noroing' Luronioliz, damals Eigentum der Peeliten, ent¬ schuldigte eine seiner verfehlten Finanzvorlagen damit, er sei too elever, zu gescheit, und versicherte ein andermal in vollem Ernst, sein Gedankenflug gehe so hoch, daß er selbst zuweilen demselben nicht zu folgen vermöge. Eine gewisse Ähnlichkeit mit dieser Verteidigung hat die epigrammatische Charakteristik Glad- stones. welche Disraeli am 27. Juli 1873 in einer Tischrede gab: „Ein sophistischer Rhetor, trunken von seinem überströmenden Wortschwall und begabt mit der selbstsüchtigen Einbildungskraft, die jederzeit über eine endlose und in sich unverträgliche Reihe von Argumenten verfügt, um einen Gegner boshaft herunterzureißen und sich selbst zu verherrlichen." Unangenehme Belege für diese Schilderung muß Disraeli hinterlassen haben, denn sein Testamentsexekutor Lord Rowtvn hat erklärt, den politischen Nachlaß nicht bei Gladstones Lebzeiten herausgeben zu wollen. Die merkwürdigsten und die anscheinend am tiefsten gehenden Widersprüche finden sich in seiner Kirchlichkeit, in der Frage, wie sein innerliches Verhältnis zu Rom sein mag — Widersprüche, welche ihm, dem nie fehlenden Besucher des anglikanischen Gottesdienstes, immer wieder die Vermutung zugezogen haben, daß er nach Sankt Peter gravitire, sogar Gerüchte, daß er übergetreten sei. Diese Vermutung datirt von seiner Jugendfreundschaft mit Francis Newman, der übertrat und es zum roten Hut brachte, und seiner Verbindung mit dem Oxforder Professor Puseh, dem Haupt der Schule, von welcher der Kardinal Wisemcm 1841 schrieb: „Es ist unmöglich, die Schriften der Oxforder Theologen zu lesen und namentlich sie chronologisch zu verfolgen, ohne eine täglich wachsende Annäherung an unsre heilige Kirche wahrzunehmen, in den Dogmen sowohl als in den Gefühlen. Unsre Heiligen, unsre Päpste sind ihnen nach und nach teuer geworden, unsre Gebräuche, unsre Kirchenämter, ja unsre ganze Liturgie siud in ihren Augen kostbare Güter, weit kostbarer noch als vielen von uns; unsre klösterlichen Institute, unsre Schulen und milden Stiftungen sind mehr und mehr Gegenstände ihres ernsten Studiums geworden. Es ist kein Zweifel, daß die Sehnsucht nach der Rückkehr sich tiefer und tiefer in die Seelen gräbt. Es sind Beweise vorhanden, die freilich nicht namentlich detaillirt werden können, daß katholische Gesinnungen viel tiefer in die Gesellschaft eingedrungen sind, als

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/59
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/59>, abgerufen am 27.09.2024.