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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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Neue Theaterstücke.

haben die Leute bei Herrn Doktor Blumenthal die Angewohnheit, auf den "Zehen¬
spitzen" zu gehen oder zu schleichen, statt auf den Fußspitzen.

Und dieser Quark hat die gebildete Bevölkerung Berlins fast hundertmal
ins Theater gezogen! Dieses Unding von Schauspiel hat den "Dichter" zum
reichen Manne gemacht, während ein Lindner mit all seinen Fähigkeiten ins
Irrenhaus wandern und seine unglückliche Familie dem Wohlthätigkeitssinn der
Schriftsteller überlassen mußte! Wir sehen, was die schönen Möbel, die Künste
der Frau Niemann und die Pvsauncnstöße der "Kritik" alles bewirken tonnen!
Aber soll es diesem Dilettanten, der auf die Kurzsichtigkeit des Publikums und
die beliebt gewordnen Manieren der Schauspieler des "Deutschen Theaters"
spekulirt, auch fernerhin gestattet sein, sich in die Reihe der Theaterschriftsteller
einzudrängen? Er schreibe seine "Kritiken" nach wie vor -- sie sind ja in "ganz
Deutschland" so überaus beliebt geworden --, aber als Ebenbürtiger neben
Schiller, Kleist und Grillparzer sich tummeln zu dürfen, während die ernstesten,
ehrlichsten Talente verkümmern müssen, das hieße denn doch die Unfähigkeit
adeln, und ich hoffe, daß das Publikum, und nicht nur das Publikum Berlins,
diese schmachvollen Zustände nicht noch wird begünstigen wollen.

Meine Leser werden es begreiflich finden, wenn ich jetzt nicht noch dem
neuesten "Werke" des Herrn Blumenthal näher trete; ebensowenig mag ich an
die Aufführung meine Worte verschwenden. Auch diesmal sollen die Darsteller
des L'Arronge-Theaters "auf der Höhe" gestanden haben. Was denkt man
sich wohl darunter? Kann bei solchen Stücken überhaupt von künstlerischen
Leistungen der Schauspieler, die sich ebeu mit allem Behagen nur gehen zu
lassen brauchen, die Rede sein? Wann hat eine Aufführung am L'Arronge-Theater
überhaupt "auf der Höhe" gestanden? Im "Don Carlos" erhitzte der Carlos
des feurigen und wirklich begabten Herrn Kainz die Köpfe, das übrige war, bis
auf die prunkenden Dekorationen und Gewänder, ganz mittelmäßig; im "Teil"
wurde selbst das wenige Gute, der Melchthal des Herrn Kainz, von den polternden
Steinen übertvbt; die "Iphigenie" forderte das Gespött selbst der nachsichtigen
heraus; in "Des Meeres und der Liebe Wellen" wurde die Rolle, um des¬
willen man sich das Werk vor allen Dingen ansieht, von dem schönen Fräulein
Geßner gespielt; Hebbels "Maria Magdalena" wurde schon allein durch deu
Meister Anton des Herrn Dr. Förster zur unbegreiflichen Posse; wenn nicht
die Herren Kainz und Pohl gewesen wären, so hätte mau den armen Hebbel
noch im Grabe beweinen müssen; selbst der "Richter von Zalamea," den man
sich in Wien genau angesehen hatte, wo gerade dieses Schallspiel in größter
Vollendung zur Darstellung gebracht wurde, bot, trotz aller Trefflichkeit im
ganzen, nicht eine einzige Leistung, die wirklich künstlerisches Gepräge getragen
hätte. Das "Käthchen von Heilbronn" und den "Homburg" von Kleist habe
ich mir nicht mehr angesehen; da ich diese Aufführungen nicht kenne, so will ich
sie gern für vollendet gelten lassen. Was aber sonst von den "Genien des


Grmzlwtm IV. 183g. 61
Neue Theaterstücke.

haben die Leute bei Herrn Doktor Blumenthal die Angewohnheit, auf den „Zehen¬
spitzen" zu gehen oder zu schleichen, statt auf den Fußspitzen.

Und dieser Quark hat die gebildete Bevölkerung Berlins fast hundertmal
ins Theater gezogen! Dieses Unding von Schauspiel hat den „Dichter" zum
reichen Manne gemacht, während ein Lindner mit all seinen Fähigkeiten ins
Irrenhaus wandern und seine unglückliche Familie dem Wohlthätigkeitssinn der
Schriftsteller überlassen mußte! Wir sehen, was die schönen Möbel, die Künste
der Frau Niemann und die Pvsauncnstöße der „Kritik" alles bewirken tonnen!
Aber soll es diesem Dilettanten, der auf die Kurzsichtigkeit des Publikums und
die beliebt gewordnen Manieren der Schauspieler des „Deutschen Theaters"
spekulirt, auch fernerhin gestattet sein, sich in die Reihe der Theaterschriftsteller
einzudrängen? Er schreibe seine „Kritiken" nach wie vor — sie sind ja in „ganz
Deutschland" so überaus beliebt geworden —, aber als Ebenbürtiger neben
Schiller, Kleist und Grillparzer sich tummeln zu dürfen, während die ernstesten,
ehrlichsten Talente verkümmern müssen, das hieße denn doch die Unfähigkeit
adeln, und ich hoffe, daß das Publikum, und nicht nur das Publikum Berlins,
diese schmachvollen Zustände nicht noch wird begünstigen wollen.

Meine Leser werden es begreiflich finden, wenn ich jetzt nicht noch dem
neuesten „Werke" des Herrn Blumenthal näher trete; ebensowenig mag ich an
die Aufführung meine Worte verschwenden. Auch diesmal sollen die Darsteller
des L'Arronge-Theaters „auf der Höhe" gestanden haben. Was denkt man
sich wohl darunter? Kann bei solchen Stücken überhaupt von künstlerischen
Leistungen der Schauspieler, die sich ebeu mit allem Behagen nur gehen zu
lassen brauchen, die Rede sein? Wann hat eine Aufführung am L'Arronge-Theater
überhaupt „auf der Höhe" gestanden? Im „Don Carlos" erhitzte der Carlos
des feurigen und wirklich begabten Herrn Kainz die Köpfe, das übrige war, bis
auf die prunkenden Dekorationen und Gewänder, ganz mittelmäßig; im „Teil"
wurde selbst das wenige Gute, der Melchthal des Herrn Kainz, von den polternden
Steinen übertvbt; die „Iphigenie" forderte das Gespött selbst der nachsichtigen
heraus; in „Des Meeres und der Liebe Wellen" wurde die Rolle, um des¬
willen man sich das Werk vor allen Dingen ansieht, von dem schönen Fräulein
Geßner gespielt; Hebbels „Maria Magdalena" wurde schon allein durch deu
Meister Anton des Herrn Dr. Förster zur unbegreiflichen Posse; wenn nicht
die Herren Kainz und Pohl gewesen wären, so hätte mau den armen Hebbel
noch im Grabe beweinen müssen; selbst der „Richter von Zalamea," den man
sich in Wien genau angesehen hatte, wo gerade dieses Schallspiel in größter
Vollendung zur Darstellung gebracht wurde, bot, trotz aller Trefflichkeit im
ganzen, nicht eine einzige Leistung, die wirklich künstlerisches Gepräge getragen
hätte. Das „Käthchen von Heilbronn" und den „Homburg" von Kleist habe
ich mir nicht mehr angesehen; da ich diese Aufführungen nicht kenne, so will ich
sie gern für vollendet gelten lassen. Was aber sonst von den „Genien des


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[0489] Neue Theaterstücke. haben die Leute bei Herrn Doktor Blumenthal die Angewohnheit, auf den „Zehen¬ spitzen" zu gehen oder zu schleichen, statt auf den Fußspitzen. Und dieser Quark hat die gebildete Bevölkerung Berlins fast hundertmal ins Theater gezogen! Dieses Unding von Schauspiel hat den „Dichter" zum reichen Manne gemacht, während ein Lindner mit all seinen Fähigkeiten ins Irrenhaus wandern und seine unglückliche Familie dem Wohlthätigkeitssinn der Schriftsteller überlassen mußte! Wir sehen, was die schönen Möbel, die Künste der Frau Niemann und die Pvsauncnstöße der „Kritik" alles bewirken tonnen! Aber soll es diesem Dilettanten, der auf die Kurzsichtigkeit des Publikums und die beliebt gewordnen Manieren der Schauspieler des „Deutschen Theaters" spekulirt, auch fernerhin gestattet sein, sich in die Reihe der Theaterschriftsteller einzudrängen? Er schreibe seine „Kritiken" nach wie vor — sie sind ja in „ganz Deutschland" so überaus beliebt geworden —, aber als Ebenbürtiger neben Schiller, Kleist und Grillparzer sich tummeln zu dürfen, während die ernstesten, ehrlichsten Talente verkümmern müssen, das hieße denn doch die Unfähigkeit adeln, und ich hoffe, daß das Publikum, und nicht nur das Publikum Berlins, diese schmachvollen Zustände nicht noch wird begünstigen wollen. Meine Leser werden es begreiflich finden, wenn ich jetzt nicht noch dem neuesten „Werke" des Herrn Blumenthal näher trete; ebensowenig mag ich an die Aufführung meine Worte verschwenden. Auch diesmal sollen die Darsteller des L'Arronge-Theaters „auf der Höhe" gestanden haben. Was denkt man sich wohl darunter? Kann bei solchen Stücken überhaupt von künstlerischen Leistungen der Schauspieler, die sich ebeu mit allem Behagen nur gehen zu lassen brauchen, die Rede sein? Wann hat eine Aufführung am L'Arronge-Theater überhaupt „auf der Höhe" gestanden? Im „Don Carlos" erhitzte der Carlos des feurigen und wirklich begabten Herrn Kainz die Köpfe, das übrige war, bis auf die prunkenden Dekorationen und Gewänder, ganz mittelmäßig; im „Teil" wurde selbst das wenige Gute, der Melchthal des Herrn Kainz, von den polternden Steinen übertvbt; die „Iphigenie" forderte das Gespött selbst der nachsichtigen heraus; in „Des Meeres und der Liebe Wellen" wurde die Rolle, um des¬ willen man sich das Werk vor allen Dingen ansieht, von dem schönen Fräulein Geßner gespielt; Hebbels „Maria Magdalena" wurde schon allein durch deu Meister Anton des Herrn Dr. Förster zur unbegreiflichen Posse; wenn nicht die Herren Kainz und Pohl gewesen wären, so hätte mau den armen Hebbel noch im Grabe beweinen müssen; selbst der „Richter von Zalamea," den man sich in Wien genau angesehen hatte, wo gerade dieses Schallspiel in größter Vollendung zur Darstellung gebracht wurde, bot, trotz aller Trefflichkeit im ganzen, nicht eine einzige Leistung, die wirklich künstlerisches Gepräge getragen hätte. Das „Käthchen von Heilbronn" und den „Homburg" von Kleist habe ich mir nicht mehr angesehen; da ich diese Aufführungen nicht kenne, so will ich sie gern für vollendet gelten lassen. Was aber sonst von den „Genien des Grmzlwtm IV. 183g. 61

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/489>, abgerufen am 20.10.2024.