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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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Frequenzverhältnissen der Vorlesungen,*) der Besuch der Seminarübnngen ein "sehr
guter ist und durchschnittlich neunzig bis hundert (!) Prozent sich ganz regelmäßig
an den Arbeite" beteiligen." Es hätte doch, sollte mau meinen, nahe gelegen,
diesen auffallenden Unterschied zum Gegenstände sorgfältiger Prüfung zu machen.
Denn daß es allein die Furcht vor dem Examen sei, welche die unsteten Be¬
sucher der Borlesungen in den Seminarien treu ausharren läßt, wird niemand
behaupten wollen, da die letztern mehr das Können befördern als das Wissen,
wenn sie letzteres auch zur Bvraussetzung haben, im Examen aber gerade das
Wissen die Hauptrolle spielt.

Der Grund des Unterschiedes in den Frcqneuzverhältnissen ist allein die
Verschiedenartigkeit der Methode. Die Thätigkeit in den Seminarien wirkt an¬
regend und fesselnd, die Methode der Bvrlesnngen muß und wird, so lange sie
so bleibt, wie sie jetzt ist, abstoßend wirken.

Der junge Jurist, der die Universität bezieht, ist, auch wenn er nicht gerade
aus Begeisterung für die Wissenschaft den Beruf ergriffen hat, doch für das
Leben, dessen Verhältnisse und Gestaltungen nicht blind geblieben, auch hat er
das feine, wenn auch vielleicht meist unbewußte Gefühl, daß er die Wissenschaft,
deren Jünger er geworden ist, auf das Leben, in dem er mitten drin steht,
anwenden soll. Und was hört er nun? Welches sind die Eindrücke, die er von
seiner Wissenschaft in den üblichen Erstlingskollegien über Institutionen und
römische Rechtsgeschichte empfängt? Von der Rechtsgeschichte will ich ganz
absehen, obgleich ich glaube, daß auch sie, wenn anders sie keine rein historische,
sondern eine Nechtsdisziplin sein will, ihr Ziel -- die Verständlichmachnng des
geltenden Rechts durch Aufdeckung feines Entwicklungsganges -- besser im Auge
behalten und die gewiß meist übertriebene Breite in der Darstellung, z. B. des
römischen Sakral- und Behördenwescns, ohne Schaden etwas einschränken konnte.
Aber man nehme nur die Institutionen! Aus eigner Erfahrung weiß ich, und
von mancher ander" Seite ist mir die Bestätigung geworden, daß in dieser
Vorlesung der Rechtsstoff genau so vorgetragen wird, als ob wir jetzt das
Jahr 530 nach Christi Geburt schriebe", sodaß geradezu eine Verwirrung des
an und für sich noch unsicher tastenden Rechtsgefühls eintreten muß.

Und hat der Anfänger diese einleitenden Vorlesungen überstanden, ohne
daß ihm die Lust und Liebe an der Wissenschaft vergangen ist, was bietet sich
ihm nnn? Wird nicht -- offen gestanden -- in den Pandektenvvrlesnngeu, die
doch -- mindestens für das Gebiet des gemeinen Rechtes -- den Zuhörer in
das geltende, anwendbare Recht einführen sollen, noch ein Wust von Institutionen
mit vorgetragen, die das praktische Leben längst hinweggeschwemmt hat und an
die kein Mensch mehr dächte, wenn sie nicht mit halsstarriger Konsequenz jeder
neuen juristischen Generation eingeprägt würden?



*) Einen regelmiißigen Besuch der Vorlesungen durch zehn Prozent der angemeldeten
Zuhörer bezeichnet Lißt als "besonders erfreulichen AnSimhmesall."

Frequenzverhältnissen der Vorlesungen,*) der Besuch der Seminarübnngen ein „sehr
guter ist und durchschnittlich neunzig bis hundert (!) Prozent sich ganz regelmäßig
an den Arbeite» beteiligen." Es hätte doch, sollte mau meinen, nahe gelegen,
diesen auffallenden Unterschied zum Gegenstände sorgfältiger Prüfung zu machen.
Denn daß es allein die Furcht vor dem Examen sei, welche die unsteten Be¬
sucher der Borlesungen in den Seminarien treu ausharren läßt, wird niemand
behaupten wollen, da die letztern mehr das Können befördern als das Wissen,
wenn sie letzteres auch zur Bvraussetzung haben, im Examen aber gerade das
Wissen die Hauptrolle spielt.

Der Grund des Unterschiedes in den Frcqneuzverhältnissen ist allein die
Verschiedenartigkeit der Methode. Die Thätigkeit in den Seminarien wirkt an¬
regend und fesselnd, die Methode der Bvrlesnngen muß und wird, so lange sie
so bleibt, wie sie jetzt ist, abstoßend wirken.

Der junge Jurist, der die Universität bezieht, ist, auch wenn er nicht gerade
aus Begeisterung für die Wissenschaft den Beruf ergriffen hat, doch für das
Leben, dessen Verhältnisse und Gestaltungen nicht blind geblieben, auch hat er
das feine, wenn auch vielleicht meist unbewußte Gefühl, daß er die Wissenschaft,
deren Jünger er geworden ist, auf das Leben, in dem er mitten drin steht,
anwenden soll. Und was hört er nun? Welches sind die Eindrücke, die er von
seiner Wissenschaft in den üblichen Erstlingskollegien über Institutionen und
römische Rechtsgeschichte empfängt? Von der Rechtsgeschichte will ich ganz
absehen, obgleich ich glaube, daß auch sie, wenn anders sie keine rein historische,
sondern eine Nechtsdisziplin sein will, ihr Ziel — die Verständlichmachnng des
geltenden Rechts durch Aufdeckung feines Entwicklungsganges — besser im Auge
behalten und die gewiß meist übertriebene Breite in der Darstellung, z. B. des
römischen Sakral- und Behördenwescns, ohne Schaden etwas einschränken konnte.
Aber man nehme nur die Institutionen! Aus eigner Erfahrung weiß ich, und
von mancher ander» Seite ist mir die Bestätigung geworden, daß in dieser
Vorlesung der Rechtsstoff genau so vorgetragen wird, als ob wir jetzt das
Jahr 530 nach Christi Geburt schriebe», sodaß geradezu eine Verwirrung des
an und für sich noch unsicher tastenden Rechtsgefühls eintreten muß.

Und hat der Anfänger diese einleitenden Vorlesungen überstanden, ohne
daß ihm die Lust und Liebe an der Wissenschaft vergangen ist, was bietet sich
ihm nnn? Wird nicht — offen gestanden — in den Pandektenvvrlesnngeu, die
doch — mindestens für das Gebiet des gemeinen Rechtes — den Zuhörer in
das geltende, anwendbare Recht einführen sollen, noch ein Wust von Institutionen
mit vorgetragen, die das praktische Leben längst hinweggeschwemmt hat und an
die kein Mensch mehr dächte, wenn sie nicht mit halsstarriger Konsequenz jeder
neuen juristischen Generation eingeprägt würden?



*) Einen regelmiißigen Besuch der Vorlesungen durch zehn Prozent der angemeldeten
Zuhörer bezeichnet Lißt als „besonders erfreulichen AnSimhmesall."
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/469>, abgerufen am 20.10.2024.