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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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Als der Großvater die Großmutter nahm.

gehören können, er forderte ans, zu küssen, und starb eilf alter, ehrsamer Jung¬
gesell. Aber rührend ist diese kindliche Art, zum Lebensgenusse aufzufordern,
rührend vor allem auch die Freude am Kleinleben der Natur:


Der Nachtigall reizende Lieder
Ertönen und locken schon wieder
Die fröhlichsten Stunden ins Jahr.
Nun singet die steigende Lerche,
Nun klappern die reisenden Störche,
Nun schwatzet der gaukelnde Staar.

Oder:


Die Luft ist blau, das Thal ist grün,
Die kleinen Maicnglocken blühn.

Oder:


Komm, stiller Abend, nieder
Auf unsre kleine Flur.

Und neben vielen andern das unvergleichliche: Wie reizend, wie wonnig ist
alles umher, das noch gegen Ende des Jahrhunderts Wilhelm Gottlieb Becker
gesungen hat. Wahrlich, wenn etwas die Unvcrwttstlichkeit der deutschen Natur
und des deutscheu Gemütes bezeugt, so ist es diese Freude an dem Stillleben
in Wald und Flur, als ver deutsche Mund nach dein entsetzlichsten Kriege, der
jemals in einem Lande gewütet hat, sich wieder aufthat zum Gesänge. Zwischen
den Fabeln und dem fröhlichen Liede erklingen in den siebziger Jahren, also
etwa ein Vierteljahrhundert später, Höltys und Matthisfons Elegien und Bürgers
Balladen. Es ist noch immer der streng bürgerliche Kreis der Anschauungen
und Erlebnisse, aber die Empfindung ist tiefer, leidenschaftlicher, das deutsche
Gemüt bereitet sich gleichsam zur Aufnahme der klassischen Werke vor. Von
der Sturm- und Drangperiode, von genialischem Treiben ist in unserm Lieder¬
buch? nichts zu spüren, diese "deutsche Revolution" vollzog sich in den höhern
literarischen Kreisen, nicht im bürgerlichen Familienleben, aber die literarischen
Ereignisse der nächstfolgenden, vorzugsweise von dem Interesse für die Literatur
erfüllten Zeit spiegelten sich in einigen wunderlichen Produkten der volkstüm¬
lichen Poesie, so die Näuberliteratur in Vulpius' Näuberliede: In des Waldes
finstern Gründen und die Wertherliteratur in: Lotte an Werthers Grabe
vom Freiherr" von Reitzenstein. Auch die von Pestalozzi und Basedow aus¬
gehende pädagogische Bewegung teilte sich dem Volksleben mit. Um die Wende
des Jahrhunderts entstehen eine Menge Erzählungen und Lieder, die einen
erzieherischen Zweck verfolgen. Die Moral, noch von der Fabel her beliebt,
kommt jetzt in der erzählenden Poesie wieder zur Geltung. Friedrich Klubs
Christabend: Still, was schleicht dort so alleine, freilich erst 1811 gedichtet,
ist uns noch hente geläufig. Die bürgerliche Dichtung hat immer einen lehr¬
haften Grundzug, der pädagogische Anstoß ließ ihn nur deutlicher hervortreten.
Die Tugenden, zu denen in jener "altmodischen" Zeit die Volksethik vorzugs¬
weise ermahnte, sind Barmherzigkeit und Zufriedenheit.


Als der Großvater die Großmutter nahm.

gehören können, er forderte ans, zu küssen, und starb eilf alter, ehrsamer Jung¬
gesell. Aber rührend ist diese kindliche Art, zum Lebensgenusse aufzufordern,
rührend vor allem auch die Freude am Kleinleben der Natur:


Der Nachtigall reizende Lieder
Ertönen und locken schon wieder
Die fröhlichsten Stunden ins Jahr.
Nun singet die steigende Lerche,
Nun klappern die reisenden Störche,
Nun schwatzet der gaukelnde Staar.

Oder:


Die Luft ist blau, das Thal ist grün,
Die kleinen Maicnglocken blühn.

Oder:


Komm, stiller Abend, nieder
Auf unsre kleine Flur.

Und neben vielen andern das unvergleichliche: Wie reizend, wie wonnig ist
alles umher, das noch gegen Ende des Jahrhunderts Wilhelm Gottlieb Becker
gesungen hat. Wahrlich, wenn etwas die Unvcrwttstlichkeit der deutschen Natur
und des deutscheu Gemütes bezeugt, so ist es diese Freude an dem Stillleben
in Wald und Flur, als ver deutsche Mund nach dein entsetzlichsten Kriege, der
jemals in einem Lande gewütet hat, sich wieder aufthat zum Gesänge. Zwischen
den Fabeln und dem fröhlichen Liede erklingen in den siebziger Jahren, also
etwa ein Vierteljahrhundert später, Höltys und Matthisfons Elegien und Bürgers
Balladen. Es ist noch immer der streng bürgerliche Kreis der Anschauungen
und Erlebnisse, aber die Empfindung ist tiefer, leidenschaftlicher, das deutsche
Gemüt bereitet sich gleichsam zur Aufnahme der klassischen Werke vor. Von
der Sturm- und Drangperiode, von genialischem Treiben ist in unserm Lieder¬
buch? nichts zu spüren, diese „deutsche Revolution" vollzog sich in den höhern
literarischen Kreisen, nicht im bürgerlichen Familienleben, aber die literarischen
Ereignisse der nächstfolgenden, vorzugsweise von dem Interesse für die Literatur
erfüllten Zeit spiegelten sich in einigen wunderlichen Produkten der volkstüm¬
lichen Poesie, so die Näuberliteratur in Vulpius' Näuberliede: In des Waldes
finstern Gründen und die Wertherliteratur in: Lotte an Werthers Grabe
vom Freiherr» von Reitzenstein. Auch die von Pestalozzi und Basedow aus¬
gehende pädagogische Bewegung teilte sich dem Volksleben mit. Um die Wende
des Jahrhunderts entstehen eine Menge Erzählungen und Lieder, die einen
erzieherischen Zweck verfolgen. Die Moral, noch von der Fabel her beliebt,
kommt jetzt in der erzählenden Poesie wieder zur Geltung. Friedrich Klubs
Christabend: Still, was schleicht dort so alleine, freilich erst 1811 gedichtet,
ist uns noch hente geläufig. Die bürgerliche Dichtung hat immer einen lehr¬
haften Grundzug, der pädagogische Anstoß ließ ihn nur deutlicher hervortreten.
Die Tugenden, zu denen in jener „altmodischen" Zeit die Volksethik vorzugs¬
weise ermahnte, sind Barmherzigkeit und Zufriedenheit.


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[0398] Als der Großvater die Großmutter nahm. gehören können, er forderte ans, zu küssen, und starb eilf alter, ehrsamer Jung¬ gesell. Aber rührend ist diese kindliche Art, zum Lebensgenusse aufzufordern, rührend vor allem auch die Freude am Kleinleben der Natur: Der Nachtigall reizende Lieder Ertönen und locken schon wieder Die fröhlichsten Stunden ins Jahr. Nun singet die steigende Lerche, Nun klappern die reisenden Störche, Nun schwatzet der gaukelnde Staar. Oder: Die Luft ist blau, das Thal ist grün, Die kleinen Maicnglocken blühn. Oder: Komm, stiller Abend, nieder Auf unsre kleine Flur. Und neben vielen andern das unvergleichliche: Wie reizend, wie wonnig ist alles umher, das noch gegen Ende des Jahrhunderts Wilhelm Gottlieb Becker gesungen hat. Wahrlich, wenn etwas die Unvcrwttstlichkeit der deutschen Natur und des deutscheu Gemütes bezeugt, so ist es diese Freude an dem Stillleben in Wald und Flur, als ver deutsche Mund nach dein entsetzlichsten Kriege, der jemals in einem Lande gewütet hat, sich wieder aufthat zum Gesänge. Zwischen den Fabeln und dem fröhlichen Liede erklingen in den siebziger Jahren, also etwa ein Vierteljahrhundert später, Höltys und Matthisfons Elegien und Bürgers Balladen. Es ist noch immer der streng bürgerliche Kreis der Anschauungen und Erlebnisse, aber die Empfindung ist tiefer, leidenschaftlicher, das deutsche Gemüt bereitet sich gleichsam zur Aufnahme der klassischen Werke vor. Von der Sturm- und Drangperiode, von genialischem Treiben ist in unserm Lieder¬ buch? nichts zu spüren, diese „deutsche Revolution" vollzog sich in den höhern literarischen Kreisen, nicht im bürgerlichen Familienleben, aber die literarischen Ereignisse der nächstfolgenden, vorzugsweise von dem Interesse für die Literatur erfüllten Zeit spiegelten sich in einigen wunderlichen Produkten der volkstüm¬ lichen Poesie, so die Näuberliteratur in Vulpius' Näuberliede: In des Waldes finstern Gründen und die Wertherliteratur in: Lotte an Werthers Grabe vom Freiherr» von Reitzenstein. Auch die von Pestalozzi und Basedow aus¬ gehende pädagogische Bewegung teilte sich dem Volksleben mit. Um die Wende des Jahrhunderts entstehen eine Menge Erzählungen und Lieder, die einen erzieherischen Zweck verfolgen. Die Moral, noch von der Fabel her beliebt, kommt jetzt in der erzählenden Poesie wieder zur Geltung. Friedrich Klubs Christabend: Still, was schleicht dort so alleine, freilich erst 1811 gedichtet, ist uns noch hente geläufig. Die bürgerliche Dichtung hat immer einen lehr¬ haften Grundzug, der pädagogische Anstoß ließ ihn nur deutlicher hervortreten. Die Tugenden, zu denen in jener „altmodischen" Zeit die Volksethik vorzugs¬ weise ermahnte, sind Barmherzigkeit und Zufriedenheit.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/398>, abgerufen am 20.10.2024.