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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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lächelnd summt die Greisin noch das alte Liebchen. Die Musik ist auch neidisch
auf deu Text. Oft tritt die Melodie so gebieterisch auf, daß sich nur die erste
Strophe dem Gedächtnis einprägt. Ist es uns doch mit Schneckenburgers Wacht
am Rhein nicht anders ergangen! Indes ist nicht immer die Musik daran schuld,
daß die Lieder nur stückweise im Volke fortleben, nicht selten ist der glückliche
poetische Wurf eben nur in der ersten Strophe oder in der ersten Zeile oder
im Refrain gelungen. Trümmer früher beliebt gewesener Lieder und Gedichte
sind in Sprichwörtern noch erhalten: z. B. Ja, Bauer, das ist ganz was anders,
Blinder Eifer schadet nur, Es kann ja nicht immer so bleiben, Noch ist Polen
nicht verloren.

So stehen wir denn bor dem Inhalte der Lieder, und das ist das wichtigste.
Die Lieder des Tages sind der Spiegel der Zeit. Woran sich ganze Geschlechter
Jahrzehnte lang erquickt haben, was auf der Straße erklang, im Hause wieder¬
hallte, gehört unzweifelhaft zu dem Gepräge der Zeit.

Der dreißigjährige Krieg hatte dem deutschen Gemütsleben so tiefe Wunden
geschlagen, daß hundert Jahre vergingen, ehe es sich wieder erholte. 1748 ver¬
kündeten die drei ersten Gesänge des Messias von Klopstock das Anbrechen einer
neuen klassischen Poesie. Daß Deutschland sich überhaupt wieder erholte, verdankt
es der festen Geschlossenheit seines Familienlebens, der strengen hausvütcrlichen
Zucht, welche mit den drohenden Gefahren zugleich die Verwilderung und Ver¬
armung abwehrte. Ernst freilich, wortkarg, eintönig, freudelcer war das Familien¬
leben nach dem großen Kriege. Man denke mir an König Friedrich Wilhelm I.
von Preußen oder an Goethes und Schillers Vater, und man hat ein Bild
von den gestrengen Hausvätern jeuer Zeit. Da waren die Dichter schlimm dran.
Wenn sie etwas andres dichten wollten als geistliche Lieder, so mußte es müßigen
Schwelgern und sittenlosen Höflingen gefallen, sonst wurden sie nicht gehört.
So die schlesischen Dichter -- mit wenig Ausnahmen. Die Studenten waren
die ersten, denen es gelang, die harte Rinde der Furcht und des Schreckens zu
durchbrechen, die sich um das deutsche Herz gelagert hatte; schon Christian
Günther mit seinem: Brüder, laßt uns lustig sein, dann Friedrich von Hagedorn,
auch lange Zeit ein lustiger Bursch, ferner die Leipziger und die Hallischen
"Ancckreontiker." Gellerts Fabeln klopften an die Bürgerhäuser und die Bauern¬
stuben, wer konnte ihnen widerstehen? Sie woben ihre neckenden und doch so
sittsamen Fäden um den deutschen Herd, und heute noch sind diese Fäden nicht
ganz zerrissen und verweht. Um die Mitte des vorigen Jahrhunderts glänzten
sie im goldnen Scheine. Durch die Fabeln lernte das deutsche Auge sich wieder
an den Sonnenglanz der Poesie gewöhnen. Dazu kamen dann die kleinen
Liedchen, die Freundschaft, Wein und Natur verherrlichten, auch schüchtern der
Liebe gedachten. Die Dichter derselben, Hagedorn und Gleim an der Spitze,
hielten gewiß diese Liedchen für kühne Thaten, denn was sie priesen, genossen
sie ja nicht. Gleim besang den Wein und hätte jedem Mäßigkeitsvereine an-


lächelnd summt die Greisin noch das alte Liebchen. Die Musik ist auch neidisch
auf deu Text. Oft tritt die Melodie so gebieterisch auf, daß sich nur die erste
Strophe dem Gedächtnis einprägt. Ist es uns doch mit Schneckenburgers Wacht
am Rhein nicht anders ergangen! Indes ist nicht immer die Musik daran schuld,
daß die Lieder nur stückweise im Volke fortleben, nicht selten ist der glückliche
poetische Wurf eben nur in der ersten Strophe oder in der ersten Zeile oder
im Refrain gelungen. Trümmer früher beliebt gewesener Lieder und Gedichte
sind in Sprichwörtern noch erhalten: z. B. Ja, Bauer, das ist ganz was anders,
Blinder Eifer schadet nur, Es kann ja nicht immer so bleiben, Noch ist Polen
nicht verloren.

So stehen wir denn bor dem Inhalte der Lieder, und das ist das wichtigste.
Die Lieder des Tages sind der Spiegel der Zeit. Woran sich ganze Geschlechter
Jahrzehnte lang erquickt haben, was auf der Straße erklang, im Hause wieder¬
hallte, gehört unzweifelhaft zu dem Gepräge der Zeit.

Der dreißigjährige Krieg hatte dem deutschen Gemütsleben so tiefe Wunden
geschlagen, daß hundert Jahre vergingen, ehe es sich wieder erholte. 1748 ver¬
kündeten die drei ersten Gesänge des Messias von Klopstock das Anbrechen einer
neuen klassischen Poesie. Daß Deutschland sich überhaupt wieder erholte, verdankt
es der festen Geschlossenheit seines Familienlebens, der strengen hausvütcrlichen
Zucht, welche mit den drohenden Gefahren zugleich die Verwilderung und Ver¬
armung abwehrte. Ernst freilich, wortkarg, eintönig, freudelcer war das Familien¬
leben nach dem großen Kriege. Man denke mir an König Friedrich Wilhelm I.
von Preußen oder an Goethes und Schillers Vater, und man hat ein Bild
von den gestrengen Hausvätern jeuer Zeit. Da waren die Dichter schlimm dran.
Wenn sie etwas andres dichten wollten als geistliche Lieder, so mußte es müßigen
Schwelgern und sittenlosen Höflingen gefallen, sonst wurden sie nicht gehört.
So die schlesischen Dichter — mit wenig Ausnahmen. Die Studenten waren
die ersten, denen es gelang, die harte Rinde der Furcht und des Schreckens zu
durchbrechen, die sich um das deutsche Herz gelagert hatte; schon Christian
Günther mit seinem: Brüder, laßt uns lustig sein, dann Friedrich von Hagedorn,
auch lange Zeit ein lustiger Bursch, ferner die Leipziger und die Hallischen
„Ancckreontiker." Gellerts Fabeln klopften an die Bürgerhäuser und die Bauern¬
stuben, wer konnte ihnen widerstehen? Sie woben ihre neckenden und doch so
sittsamen Fäden um den deutschen Herd, und heute noch sind diese Fäden nicht
ganz zerrissen und verweht. Um die Mitte des vorigen Jahrhunderts glänzten
sie im goldnen Scheine. Durch die Fabeln lernte das deutsche Auge sich wieder
an den Sonnenglanz der Poesie gewöhnen. Dazu kamen dann die kleinen
Liedchen, die Freundschaft, Wein und Natur verherrlichten, auch schüchtern der
Liebe gedachten. Die Dichter derselben, Hagedorn und Gleim an der Spitze,
hielten gewiß diese Liedchen für kühne Thaten, denn was sie priesen, genossen
sie ja nicht. Gleim besang den Wein und hätte jedem Mäßigkeitsvereine an-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/397>, abgerufen am 20.10.2024.