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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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Zur Lebensbeschreibung Heinrichs von Kleist.

Von allem scheiden müßte, von allem, was mir teuer ist. Da ging ich, in mich
gekehrt, durch das gewölbte Thor sinnend zurück in die Stadt. Warum, dachte
ich, sinkt wohl das Gewölbe nicht, da es doch keine Stütze hat? Es steht,
antwortete ich, weil alle Steine mit einmal einstürzen wollen -- und ich zog
aus diesem Gedanken einen unbeschreiblich erquickenden Trost, der mir bis zu
dein entscheidenden Augenblicke immer mit der Hoffnung zur Seite stand, daß
anch ich mich halten würde, wenn alles mich sinken läßt."

Der Wortlaut dieser Stelle lehrt, daß es sich dem Dichter darin nicht um
die Entdeckung einer ihm bisher unbekannten Geisteseigenschaft handelt, sondern
daß er gerade umgekehrt einem möglichen Verluste hangend gegenübersteht: er
fürchtet, seinem liebsten geistigen Besitze (denn auf das Geistige bezieht sich die
Stelle zweifellos) entsagen zu müssen. Was soll das heißen, wenn wir mit
Brahm annehmen wollen, Kleist habe sich an jenem Tage zum erstenmale in
seinem Leben als Dichter gefühlt? Ich wüßte darauf leine Antwort und muß
versuchen, mir die Sache anders zu deute". Kleist war auf die Reise gegangen,
um endlich eine Entscheidung über seine künftige Lebensstellung zu treffen. Sein
eigner Wunsch war der, ein Landgut zu bewirtschafte", weil er darin den ein¬
fachsten Weg sah, die Bedürfnisse des Lebens und seines Geistes zugleich zu
befriedigen. Wilhelmine und deren Angehörige wünschten dringend, daß er ein
Amt annehme, weshalb er sich dazu bequemte, von dem preußischen Finanz¬
minister gewisse Aufträge entgegenzunehmen. Diese Verbindlichkeit war ihm
aber nicht nur sehr lästig (er scheint ihr überhaupt nicht nachgekommen zu sein),
sondern er rang anch mit dem Entschlüsse, den Gedanken an eine amtliche
Stellung ein- für allemal los zu werden. Auf die Entscheidung in dem Streite
zwischen seinen Herzenswünschen und den "Forderungen der Vernunft" bezieht
sich jene Briefstelle, nicht auf die Entdeckung des Dichterberufes, welche eher in
die Knabenzeit zurückzulegen, als in die Mannesjahre hinauszurücken ist. Sehen
wir zu, wie die merkwürdigen Worte in ihre tiefsten Beziehungen zu Heinrichs
Entschlüssen aufzulösen sind.

Während Kleist bei einem Abendspaziergange in Würzburg den Sonnen-
untergang beobachtet, denkt er an seines Lebens Sonne, die Dichtkunst, und
empfindet mit Schauern, wie finster und öde sein Leben sich gestalten würde,
wenn ihm diese Sonne untergehen sollte. (Wir erkennen hier die Rückwirkung
von dem Scheitern seines Planes auf die Stimmung des Dichters.) Der Ein¬
tritt in ein Amt aber ist ihm gleichbedeutend mit dieser gefürchteten Ver¬
dunkelung seines Daseins. In ernstes Nachdenken versunken, kehrt er zur Stadt
zurück, und indem er seine Augen zu dem Gewölbe eines Thorbogens erhebt,
sagt er sich: So wie diese Steine, ohne äußere Stütze, nur durch ihr eignes
festes Zusammenschließen sich vor dem Einsturze bewahren, so ist es auch mit
deinen Wünschen: nimm einen heraus, und das ganze Gebäude stürzt in
Trümmer. Der "entscheidende Augenblick" ist derjenige, in dem er die Ve-


Zur Lebensbeschreibung Heinrichs von Kleist.

Von allem scheiden müßte, von allem, was mir teuer ist. Da ging ich, in mich
gekehrt, durch das gewölbte Thor sinnend zurück in die Stadt. Warum, dachte
ich, sinkt wohl das Gewölbe nicht, da es doch keine Stütze hat? Es steht,
antwortete ich, weil alle Steine mit einmal einstürzen wollen — und ich zog
aus diesem Gedanken einen unbeschreiblich erquickenden Trost, der mir bis zu
dein entscheidenden Augenblicke immer mit der Hoffnung zur Seite stand, daß
anch ich mich halten würde, wenn alles mich sinken läßt."

Der Wortlaut dieser Stelle lehrt, daß es sich dem Dichter darin nicht um
die Entdeckung einer ihm bisher unbekannten Geisteseigenschaft handelt, sondern
daß er gerade umgekehrt einem möglichen Verluste hangend gegenübersteht: er
fürchtet, seinem liebsten geistigen Besitze (denn auf das Geistige bezieht sich die
Stelle zweifellos) entsagen zu müssen. Was soll das heißen, wenn wir mit
Brahm annehmen wollen, Kleist habe sich an jenem Tage zum erstenmale in
seinem Leben als Dichter gefühlt? Ich wüßte darauf leine Antwort und muß
versuchen, mir die Sache anders zu deute». Kleist war auf die Reise gegangen,
um endlich eine Entscheidung über seine künftige Lebensstellung zu treffen. Sein
eigner Wunsch war der, ein Landgut zu bewirtschafte», weil er darin den ein¬
fachsten Weg sah, die Bedürfnisse des Lebens und seines Geistes zugleich zu
befriedigen. Wilhelmine und deren Angehörige wünschten dringend, daß er ein
Amt annehme, weshalb er sich dazu bequemte, von dem preußischen Finanz¬
minister gewisse Aufträge entgegenzunehmen. Diese Verbindlichkeit war ihm
aber nicht nur sehr lästig (er scheint ihr überhaupt nicht nachgekommen zu sein),
sondern er rang anch mit dem Entschlüsse, den Gedanken an eine amtliche
Stellung ein- für allemal los zu werden. Auf die Entscheidung in dem Streite
zwischen seinen Herzenswünschen und den „Forderungen der Vernunft" bezieht
sich jene Briefstelle, nicht auf die Entdeckung des Dichterberufes, welche eher in
die Knabenzeit zurückzulegen, als in die Mannesjahre hinauszurücken ist. Sehen
wir zu, wie die merkwürdigen Worte in ihre tiefsten Beziehungen zu Heinrichs
Entschlüssen aufzulösen sind.

Während Kleist bei einem Abendspaziergange in Würzburg den Sonnen-
untergang beobachtet, denkt er an seines Lebens Sonne, die Dichtkunst, und
empfindet mit Schauern, wie finster und öde sein Leben sich gestalten würde,
wenn ihm diese Sonne untergehen sollte. (Wir erkennen hier die Rückwirkung
von dem Scheitern seines Planes auf die Stimmung des Dichters.) Der Ein¬
tritt in ein Amt aber ist ihm gleichbedeutend mit dieser gefürchteten Ver¬
dunkelung seines Daseins. In ernstes Nachdenken versunken, kehrt er zur Stadt
zurück, und indem er seine Augen zu dem Gewölbe eines Thorbogens erhebt,
sagt er sich: So wie diese Steine, ohne äußere Stütze, nur durch ihr eignes
festes Zusammenschließen sich vor dem Einsturze bewahren, so ist es auch mit
deinen Wünschen: nimm einen heraus, und das ganze Gebäude stürzt in
Trümmer. Der „entscheidende Augenblick" ist derjenige, in dem er die Ve-


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[0387] Zur Lebensbeschreibung Heinrichs von Kleist. Von allem scheiden müßte, von allem, was mir teuer ist. Da ging ich, in mich gekehrt, durch das gewölbte Thor sinnend zurück in die Stadt. Warum, dachte ich, sinkt wohl das Gewölbe nicht, da es doch keine Stütze hat? Es steht, antwortete ich, weil alle Steine mit einmal einstürzen wollen — und ich zog aus diesem Gedanken einen unbeschreiblich erquickenden Trost, der mir bis zu dein entscheidenden Augenblicke immer mit der Hoffnung zur Seite stand, daß anch ich mich halten würde, wenn alles mich sinken läßt." Der Wortlaut dieser Stelle lehrt, daß es sich dem Dichter darin nicht um die Entdeckung einer ihm bisher unbekannten Geisteseigenschaft handelt, sondern daß er gerade umgekehrt einem möglichen Verluste hangend gegenübersteht: er fürchtet, seinem liebsten geistigen Besitze (denn auf das Geistige bezieht sich die Stelle zweifellos) entsagen zu müssen. Was soll das heißen, wenn wir mit Brahm annehmen wollen, Kleist habe sich an jenem Tage zum erstenmale in seinem Leben als Dichter gefühlt? Ich wüßte darauf leine Antwort und muß versuchen, mir die Sache anders zu deute». Kleist war auf die Reise gegangen, um endlich eine Entscheidung über seine künftige Lebensstellung zu treffen. Sein eigner Wunsch war der, ein Landgut zu bewirtschafte», weil er darin den ein¬ fachsten Weg sah, die Bedürfnisse des Lebens und seines Geistes zugleich zu befriedigen. Wilhelmine und deren Angehörige wünschten dringend, daß er ein Amt annehme, weshalb er sich dazu bequemte, von dem preußischen Finanz¬ minister gewisse Aufträge entgegenzunehmen. Diese Verbindlichkeit war ihm aber nicht nur sehr lästig (er scheint ihr überhaupt nicht nachgekommen zu sein), sondern er rang anch mit dem Entschlüsse, den Gedanken an eine amtliche Stellung ein- für allemal los zu werden. Auf die Entscheidung in dem Streite zwischen seinen Herzenswünschen und den „Forderungen der Vernunft" bezieht sich jene Briefstelle, nicht auf die Entdeckung des Dichterberufes, welche eher in die Knabenzeit zurückzulegen, als in die Mannesjahre hinauszurücken ist. Sehen wir zu, wie die merkwürdigen Worte in ihre tiefsten Beziehungen zu Heinrichs Entschlüssen aufzulösen sind. Während Kleist bei einem Abendspaziergange in Würzburg den Sonnen- untergang beobachtet, denkt er an seines Lebens Sonne, die Dichtkunst, und empfindet mit Schauern, wie finster und öde sein Leben sich gestalten würde, wenn ihm diese Sonne untergehen sollte. (Wir erkennen hier die Rückwirkung von dem Scheitern seines Planes auf die Stimmung des Dichters.) Der Ein¬ tritt in ein Amt aber ist ihm gleichbedeutend mit dieser gefürchteten Ver¬ dunkelung seines Daseins. In ernstes Nachdenken versunken, kehrt er zur Stadt zurück, und indem er seine Augen zu dem Gewölbe eines Thorbogens erhebt, sagt er sich: So wie diese Steine, ohne äußere Stütze, nur durch ihr eignes festes Zusammenschließen sich vor dem Einsturze bewahren, so ist es auch mit deinen Wünschen: nimm einen heraus, und das ganze Gebäude stürzt in Trümmer. Der „entscheidende Augenblick" ist derjenige, in dem er die Ve-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/387>, abgerufen am 20.10.2024.