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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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Zur Lebensbeschreibung Heinrichs von Rleist.

setzt. In dem Bemühen, die Schwester über den unerklärlichen Zweck seiner
Reise zu beruhigen, schreibt er an sie: "Elisabeth ehrte die Zwecke Posas, auch
ohne sie zu kennen." Und gegen die Braut äußert er einmal: "Würde wohl
etwas Großes auf der Erde geschehen, wenn es nicht Menschen gäbe, denen ein
hohes Bild vor der Seele steht, das sie sich anzueignen bestreben? Posa würde
seinen Freund nicht gerettet haben und Max nicht in die schwedischen Haufen
geritten sein." Noch muß bemerkt werden, daß Heinrich bei seiner Abreise
"Schreibereien" zurückläßt, die er vor den Augen der Tante Massow bewahrt
wissen will. Diese Tante, welche seit dem Tode von Heinrichs Mutter der
Haushaltung der Kleistschen Familie vorstand, scheint die heftigste Gegnerin von
Heinrichs dichterischen Neigungen gewesen zu sein. Die Papiere, die Kleist ihren
Blicken entzogen zu sehen wünscht, enthielten sicherlich seine poetischen Jugend¬
versuche. Wir dürfen annehmen, daß sich unter diesen Dichtungen auch dramatische
Entwürfe befanden, denn wir haben sein thätiges Interesse für das Drama schon
festgestellt, und er verhehlt es nie, daß Schiller und Shakespeare seine großen
Vorbilder sind.

So sehen wir, daß Kleist, schaffend und genießend, ringsum von poetischen
Interessen umdrängt ist. Diesen Interessen, im Verein mit seiner Liebe, eine
dauernde Heimstätte bei sich zu bereite", darauf war stets sein Wunsch und sein
Wille gerichtet. Aber welchen Weg er einschlagen sollte, um sowohl Wilhelmine
als Gattin heimführen zu können, als auch der vollen Freiheit dichterischen
Schaffens sich zu erfreuen, das war die große Frage, über die er nicht hinaus
kam. Einmal wünscht er nach Frankreich zu gehen, um dort Kautische Philosophie
zu lehren und Unterricht im Deutschen zu geben; dann erinnert er Wilhelmine
daran, daß ihm die Finanzlaufbahn noch offen stehe; ein drittesmal gedenkt er
eines akademischen Lehramts. Kein Plan aber hat ihm jemals näher gestanden
als der, ein Landmann zu werden, kein andrer Plan hat jemals eine so feste
Gestalt bei ihm gewonnen; dieser Gedanke bildet auch den realen Ausgangspunkt
der Würzburger Reise.

Ein Jahr später, am 10. Oktober 1801, schreibt Heinrich von Paris aus
an Wilhelmine: "Ich fühle mich von Tage zu Tage immer heiterer und heiterer,
und hoffe, daß endlich die Natur auch mir einmal das Maß von Glück zu¬
messen wird, das sie allen ihren Wesen schuldig ist. Auf welchem Wege ich
es suchen soll, darüber bin ich freilich noch nicht recht einig, obgleich sich mein
Herz fast überwiegend immer zu einem neigt. ... Eine Reihe von Jahren, in
welchen ich über die Welt im großen frei denken konnte, hat mich dem, was
die Menschen Welt nennen, sehr unähnlich gemacht. Manches, was die Menschen
ehrwürdig nennen, ist es mir nicht, vieles, was ihnen verächtlich scheint, ist es
mir nicht. Ich trage eine Vorschrift in meiner Brust, gegen welche alle äußern,
und wenn sie ein König unterschrieben hätte, nichtswürdig sind. Daher fühle
ich mich ganz unfähig, mich in irgend ein konventionelles Verhältnis der Welt


Zur Lebensbeschreibung Heinrichs von Rleist.

setzt. In dem Bemühen, die Schwester über den unerklärlichen Zweck seiner
Reise zu beruhigen, schreibt er an sie: „Elisabeth ehrte die Zwecke Posas, auch
ohne sie zu kennen." Und gegen die Braut äußert er einmal: „Würde wohl
etwas Großes auf der Erde geschehen, wenn es nicht Menschen gäbe, denen ein
hohes Bild vor der Seele steht, das sie sich anzueignen bestreben? Posa würde
seinen Freund nicht gerettet haben und Max nicht in die schwedischen Haufen
geritten sein." Noch muß bemerkt werden, daß Heinrich bei seiner Abreise
„Schreibereien" zurückläßt, die er vor den Augen der Tante Massow bewahrt
wissen will. Diese Tante, welche seit dem Tode von Heinrichs Mutter der
Haushaltung der Kleistschen Familie vorstand, scheint die heftigste Gegnerin von
Heinrichs dichterischen Neigungen gewesen zu sein. Die Papiere, die Kleist ihren
Blicken entzogen zu sehen wünscht, enthielten sicherlich seine poetischen Jugend¬
versuche. Wir dürfen annehmen, daß sich unter diesen Dichtungen auch dramatische
Entwürfe befanden, denn wir haben sein thätiges Interesse für das Drama schon
festgestellt, und er verhehlt es nie, daß Schiller und Shakespeare seine großen
Vorbilder sind.

So sehen wir, daß Kleist, schaffend und genießend, ringsum von poetischen
Interessen umdrängt ist. Diesen Interessen, im Verein mit seiner Liebe, eine
dauernde Heimstätte bei sich zu bereite», darauf war stets sein Wunsch und sein
Wille gerichtet. Aber welchen Weg er einschlagen sollte, um sowohl Wilhelmine
als Gattin heimführen zu können, als auch der vollen Freiheit dichterischen
Schaffens sich zu erfreuen, das war die große Frage, über die er nicht hinaus
kam. Einmal wünscht er nach Frankreich zu gehen, um dort Kautische Philosophie
zu lehren und Unterricht im Deutschen zu geben; dann erinnert er Wilhelmine
daran, daß ihm die Finanzlaufbahn noch offen stehe; ein drittesmal gedenkt er
eines akademischen Lehramts. Kein Plan aber hat ihm jemals näher gestanden
als der, ein Landmann zu werden, kein andrer Plan hat jemals eine so feste
Gestalt bei ihm gewonnen; dieser Gedanke bildet auch den realen Ausgangspunkt
der Würzburger Reise.

Ein Jahr später, am 10. Oktober 1801, schreibt Heinrich von Paris aus
an Wilhelmine: „Ich fühle mich von Tage zu Tage immer heiterer und heiterer,
und hoffe, daß endlich die Natur auch mir einmal das Maß von Glück zu¬
messen wird, das sie allen ihren Wesen schuldig ist. Auf welchem Wege ich
es suchen soll, darüber bin ich freilich noch nicht recht einig, obgleich sich mein
Herz fast überwiegend immer zu einem neigt. ... Eine Reihe von Jahren, in
welchen ich über die Welt im großen frei denken konnte, hat mich dem, was
die Menschen Welt nennen, sehr unähnlich gemacht. Manches, was die Menschen
ehrwürdig nennen, ist es mir nicht, vieles, was ihnen verächtlich scheint, ist es
mir nicht. Ich trage eine Vorschrift in meiner Brust, gegen welche alle äußern,
und wenn sie ein König unterschrieben hätte, nichtswürdig sind. Daher fühle
ich mich ganz unfähig, mich in irgend ein konventionelles Verhältnis der Welt


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[0383] Zur Lebensbeschreibung Heinrichs von Rleist. setzt. In dem Bemühen, die Schwester über den unerklärlichen Zweck seiner Reise zu beruhigen, schreibt er an sie: „Elisabeth ehrte die Zwecke Posas, auch ohne sie zu kennen." Und gegen die Braut äußert er einmal: „Würde wohl etwas Großes auf der Erde geschehen, wenn es nicht Menschen gäbe, denen ein hohes Bild vor der Seele steht, das sie sich anzueignen bestreben? Posa würde seinen Freund nicht gerettet haben und Max nicht in die schwedischen Haufen geritten sein." Noch muß bemerkt werden, daß Heinrich bei seiner Abreise „Schreibereien" zurückläßt, die er vor den Augen der Tante Massow bewahrt wissen will. Diese Tante, welche seit dem Tode von Heinrichs Mutter der Haushaltung der Kleistschen Familie vorstand, scheint die heftigste Gegnerin von Heinrichs dichterischen Neigungen gewesen zu sein. Die Papiere, die Kleist ihren Blicken entzogen zu sehen wünscht, enthielten sicherlich seine poetischen Jugend¬ versuche. Wir dürfen annehmen, daß sich unter diesen Dichtungen auch dramatische Entwürfe befanden, denn wir haben sein thätiges Interesse für das Drama schon festgestellt, und er verhehlt es nie, daß Schiller und Shakespeare seine großen Vorbilder sind. So sehen wir, daß Kleist, schaffend und genießend, ringsum von poetischen Interessen umdrängt ist. Diesen Interessen, im Verein mit seiner Liebe, eine dauernde Heimstätte bei sich zu bereite», darauf war stets sein Wunsch und sein Wille gerichtet. Aber welchen Weg er einschlagen sollte, um sowohl Wilhelmine als Gattin heimführen zu können, als auch der vollen Freiheit dichterischen Schaffens sich zu erfreuen, das war die große Frage, über die er nicht hinaus kam. Einmal wünscht er nach Frankreich zu gehen, um dort Kautische Philosophie zu lehren und Unterricht im Deutschen zu geben; dann erinnert er Wilhelmine daran, daß ihm die Finanzlaufbahn noch offen stehe; ein drittesmal gedenkt er eines akademischen Lehramts. Kein Plan aber hat ihm jemals näher gestanden als der, ein Landmann zu werden, kein andrer Plan hat jemals eine so feste Gestalt bei ihm gewonnen; dieser Gedanke bildet auch den realen Ausgangspunkt der Würzburger Reise. Ein Jahr später, am 10. Oktober 1801, schreibt Heinrich von Paris aus an Wilhelmine: „Ich fühle mich von Tage zu Tage immer heiterer und heiterer, und hoffe, daß endlich die Natur auch mir einmal das Maß von Glück zu¬ messen wird, das sie allen ihren Wesen schuldig ist. Auf welchem Wege ich es suchen soll, darüber bin ich freilich noch nicht recht einig, obgleich sich mein Herz fast überwiegend immer zu einem neigt. ... Eine Reihe von Jahren, in welchen ich über die Welt im großen frei denken konnte, hat mich dem, was die Menschen Welt nennen, sehr unähnlich gemacht. Manches, was die Menschen ehrwürdig nennen, ist es mir nicht, vieles, was ihnen verächtlich scheint, ist es mir nicht. Ich trage eine Vorschrift in meiner Brust, gegen welche alle äußern, und wenn sie ein König unterschrieben hätte, nichtswürdig sind. Daher fühle ich mich ganz unfähig, mich in irgend ein konventionelles Verhältnis der Welt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/383>, abgerufen am 20.10.2024.