Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Still-Leben in einer böhmischen Landstadt.

Nationalitäten war noch bis vor kurzem keine feindliche, es kam vor, daß deutsche
Eltern ihre Kinder ans einige Zeit in eine tschechische Ortschaft zu Leuten schickten,
die ihnen wieder ihre Kinder dafür überließen; man nannte das: sie uns den
"Wechsel" geben. Die Kinder lernten dabei in einer fremden Wirtschaft sich
zurecht finden und zugleich die Sprache der Landesgenvssen. Jetzt hat dies
aufgehört. Doch ist es hier immer noch besser als z. B. in Prag. Deutsche
und Tschechen beobachten doch noch gegenseitig gewisse Artigkeitsformell: man
grüßt sich, lädt sich zu den Festen ein, wenn man auch weiß, daß die Geladenen
nie kommen, und zeigt Teilnahme bei Familienereignissen. Heiraten zwischen
deutschen und tschechischen Familien kommen freilich kaum mehr vor. Nur die
kleinern Kinder, die noch nicht die Schule besuchen, spielen mit den Alters¬
genossen der andern Nation und verständigen sich, so gilt es geht; später sondern
sie sich bald ab. Aber meist werden doch beide Landessprachen erlernt: ein
Borten für die einen, ein großer Vorteil für die andern. Im ganzen darf
man sagen, daß die Spannung zwischen den beiden Nationalitäten künstlich er¬
zeugt ist, Zeitungsblätter und Agitatoren nähren sie, aber noch sind 'Elemente
vorhanden, die zu einer Versöhnung führen könnten. Ein nicht unberechtigter
Wunsch der Bürgerschaft müßte freilich erfüllt werden: daß -- da ja die Ge¬
meinde deutsch ist -- ein Teil der Beamtenschaft auch ihrer Nation angehören
möge.

Das Territorium der Stadt ist fast ganz von dem Besitze einer der reichsten
Adelsfamilien Böhmens umschlossen. Das ehrwürdige Haupt der Familie ist,
wie mau heute sagt, "verfassungstreu" oder "deutsch-österreichisch" gesinnt, be¬
zeichnender wäre: zentralistisch und altösterreichisch. Die Sohne dagegen sind alle
föderalistisch, mitunter sogar mit stark tschechischen Allüren; die Enkel werden
in diesem Sinne erzogen. Es ist dies nicht etwa eine vereinzelte Erscheinung,
sehr häufig halten die Älteren und Ältesten in den eidlichen Geschlechtern Öster¬
reichs mit der heutigen Opposition -- freilich haben sie sich meist schon vom
öffentlichen Leben zurückgezogen oder dürften dies bald thun --, während die
Jüngeren zum nationalen und klerikalen Banner schwören. Es bedarf dies
kaum einer Erklärung. Jene kannten eben nur das alte Österreich, den Ein¬
heitsstaat, in welchem eine Nationalitätcnfrage nicht bestand. Der Staatskanzler
Fürst Metternich pflegte zu sagen -- Gentz berichtet es uns --, die Föderalisten
seien ihm ebenso verhaßt wie die Liberalen. Die jüngere Generation des
Hvchadels meint aber die konservativen Interessen -- die Sache des großen
Grundbesitzes gegenüber dem mobilen Kapital und der Börse -- besser zu ver¬
treten, wenn sie es mit den erwachten slawischen Nationen und Natiönchen
hält, weil diese vom modernen Liberalismus und Manchestertum weniger an¬
gekränkelt sind. Dabei verschmähen sie -- mit Ausnahme einiger Exaltados --
die deutsche Bildung nicht, gehen in Prag lieber ins deutsche Theater als ius
tschechische, weil sie tschechisch oft mir sehr mühsam verstehen und garnicht


Still-Leben in einer böhmischen Landstadt.

Nationalitäten war noch bis vor kurzem keine feindliche, es kam vor, daß deutsche
Eltern ihre Kinder ans einige Zeit in eine tschechische Ortschaft zu Leuten schickten,
die ihnen wieder ihre Kinder dafür überließen; man nannte das: sie uns den
„Wechsel" geben. Die Kinder lernten dabei in einer fremden Wirtschaft sich
zurecht finden und zugleich die Sprache der Landesgenvssen. Jetzt hat dies
aufgehört. Doch ist es hier immer noch besser als z. B. in Prag. Deutsche
und Tschechen beobachten doch noch gegenseitig gewisse Artigkeitsformell: man
grüßt sich, lädt sich zu den Festen ein, wenn man auch weiß, daß die Geladenen
nie kommen, und zeigt Teilnahme bei Familienereignissen. Heiraten zwischen
deutschen und tschechischen Familien kommen freilich kaum mehr vor. Nur die
kleinern Kinder, die noch nicht die Schule besuchen, spielen mit den Alters¬
genossen der andern Nation und verständigen sich, so gilt es geht; später sondern
sie sich bald ab. Aber meist werden doch beide Landessprachen erlernt: ein
Borten für die einen, ein großer Vorteil für die andern. Im ganzen darf
man sagen, daß die Spannung zwischen den beiden Nationalitäten künstlich er¬
zeugt ist, Zeitungsblätter und Agitatoren nähren sie, aber noch sind 'Elemente
vorhanden, die zu einer Versöhnung führen könnten. Ein nicht unberechtigter
Wunsch der Bürgerschaft müßte freilich erfüllt werden: daß — da ja die Ge¬
meinde deutsch ist — ein Teil der Beamtenschaft auch ihrer Nation angehören
möge.

Das Territorium der Stadt ist fast ganz von dem Besitze einer der reichsten
Adelsfamilien Böhmens umschlossen. Das ehrwürdige Haupt der Familie ist,
wie mau heute sagt, „verfassungstreu" oder „deutsch-österreichisch" gesinnt, be¬
zeichnender wäre: zentralistisch und altösterreichisch. Die Sohne dagegen sind alle
föderalistisch, mitunter sogar mit stark tschechischen Allüren; die Enkel werden
in diesem Sinne erzogen. Es ist dies nicht etwa eine vereinzelte Erscheinung,
sehr häufig halten die Älteren und Ältesten in den eidlichen Geschlechtern Öster¬
reichs mit der heutigen Opposition — freilich haben sie sich meist schon vom
öffentlichen Leben zurückgezogen oder dürften dies bald thun —, während die
Jüngeren zum nationalen und klerikalen Banner schwören. Es bedarf dies
kaum einer Erklärung. Jene kannten eben nur das alte Österreich, den Ein¬
heitsstaat, in welchem eine Nationalitätcnfrage nicht bestand. Der Staatskanzler
Fürst Metternich pflegte zu sagen — Gentz berichtet es uns —, die Föderalisten
seien ihm ebenso verhaßt wie die Liberalen. Die jüngere Generation des
Hvchadels meint aber die konservativen Interessen — die Sache des großen
Grundbesitzes gegenüber dem mobilen Kapital und der Börse — besser zu ver¬
treten, wenn sie es mit den erwachten slawischen Nationen und Natiönchen
hält, weil diese vom modernen Liberalismus und Manchestertum weniger an¬
gekränkelt sind. Dabei verschmähen sie — mit Ausnahme einiger Exaltados —
die deutsche Bildung nicht, gehen in Prag lieber ins deutsche Theater als ius
tschechische, weil sie tschechisch oft mir sehr mühsam verstehen und garnicht


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0037" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/199391"/>
          <fw type="header" place="top"> Still-Leben in einer böhmischen Landstadt.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_75" prev="#ID_74"> Nationalitäten war noch bis vor kurzem keine feindliche, es kam vor, daß deutsche<lb/>
Eltern ihre Kinder ans einige Zeit in eine tschechische Ortschaft zu Leuten schickten,<lb/>
die ihnen wieder ihre Kinder dafür überließen; man nannte das: sie uns den<lb/>
&#x201E;Wechsel" geben. Die Kinder lernten dabei in einer fremden Wirtschaft sich<lb/>
zurecht finden und zugleich die Sprache der Landesgenvssen. Jetzt hat dies<lb/>
aufgehört. Doch ist es hier immer noch besser als z. B. in Prag. Deutsche<lb/>
und Tschechen beobachten doch noch gegenseitig gewisse Artigkeitsformell: man<lb/>
grüßt sich, lädt sich zu den Festen ein, wenn man auch weiß, daß die Geladenen<lb/>
nie kommen, und zeigt Teilnahme bei Familienereignissen. Heiraten zwischen<lb/>
deutschen und tschechischen Familien kommen freilich kaum mehr vor. Nur die<lb/>
kleinern Kinder, die noch nicht die Schule besuchen, spielen mit den Alters¬<lb/>
genossen der andern Nation und verständigen sich, so gilt es geht; später sondern<lb/>
sie sich bald ab. Aber meist werden doch beide Landessprachen erlernt: ein<lb/>
Borten für die einen, ein großer Vorteil für die andern. Im ganzen darf<lb/>
man sagen, daß die Spannung zwischen den beiden Nationalitäten künstlich er¬<lb/>
zeugt ist, Zeitungsblätter und Agitatoren nähren sie, aber noch sind 'Elemente<lb/>
vorhanden, die zu einer Versöhnung führen könnten. Ein nicht unberechtigter<lb/>
Wunsch der Bürgerschaft müßte freilich erfüllt werden: daß &#x2014; da ja die Ge¬<lb/>
meinde deutsch ist &#x2014; ein Teil der Beamtenschaft auch ihrer Nation angehören<lb/>
möge.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_76" next="#ID_77"> Das Territorium der Stadt ist fast ganz von dem Besitze einer der reichsten<lb/>
Adelsfamilien Böhmens umschlossen. Das ehrwürdige Haupt der Familie ist,<lb/>
wie mau heute sagt, &#x201E;verfassungstreu" oder &#x201E;deutsch-österreichisch" gesinnt, be¬<lb/>
zeichnender wäre: zentralistisch und altösterreichisch. Die Sohne dagegen sind alle<lb/>
föderalistisch, mitunter sogar mit stark tschechischen Allüren; die Enkel werden<lb/>
in diesem Sinne erzogen. Es ist dies nicht etwa eine vereinzelte Erscheinung,<lb/>
sehr häufig halten die Älteren und Ältesten in den eidlichen Geschlechtern Öster¬<lb/>
reichs mit der heutigen Opposition &#x2014; freilich haben sie sich meist schon vom<lb/>
öffentlichen Leben zurückgezogen oder dürften dies bald thun &#x2014;, während die<lb/>
Jüngeren zum nationalen und klerikalen Banner schwören. Es bedarf dies<lb/>
kaum einer Erklärung. Jene kannten eben nur das alte Österreich, den Ein¬<lb/>
heitsstaat, in welchem eine Nationalitätcnfrage nicht bestand. Der Staatskanzler<lb/>
Fürst Metternich pflegte zu sagen &#x2014; Gentz berichtet es uns &#x2014;, die Föderalisten<lb/>
seien ihm ebenso verhaßt wie die Liberalen. Die jüngere Generation des<lb/>
Hvchadels meint aber die konservativen Interessen &#x2014; die Sache des großen<lb/>
Grundbesitzes gegenüber dem mobilen Kapital und der Börse &#x2014; besser zu ver¬<lb/>
treten, wenn sie es mit den erwachten slawischen Nationen und Natiönchen<lb/>
hält, weil diese vom modernen Liberalismus und Manchestertum weniger an¬<lb/>
gekränkelt sind. Dabei verschmähen sie &#x2014; mit Ausnahme einiger Exaltados &#x2014;<lb/>
die deutsche Bildung nicht, gehen in Prag lieber ins deutsche Theater als ius<lb/>
tschechische, weil sie tschechisch oft mir sehr mühsam verstehen und garnicht</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0037] Still-Leben in einer böhmischen Landstadt. Nationalitäten war noch bis vor kurzem keine feindliche, es kam vor, daß deutsche Eltern ihre Kinder ans einige Zeit in eine tschechische Ortschaft zu Leuten schickten, die ihnen wieder ihre Kinder dafür überließen; man nannte das: sie uns den „Wechsel" geben. Die Kinder lernten dabei in einer fremden Wirtschaft sich zurecht finden und zugleich die Sprache der Landesgenvssen. Jetzt hat dies aufgehört. Doch ist es hier immer noch besser als z. B. in Prag. Deutsche und Tschechen beobachten doch noch gegenseitig gewisse Artigkeitsformell: man grüßt sich, lädt sich zu den Festen ein, wenn man auch weiß, daß die Geladenen nie kommen, und zeigt Teilnahme bei Familienereignissen. Heiraten zwischen deutschen und tschechischen Familien kommen freilich kaum mehr vor. Nur die kleinern Kinder, die noch nicht die Schule besuchen, spielen mit den Alters¬ genossen der andern Nation und verständigen sich, so gilt es geht; später sondern sie sich bald ab. Aber meist werden doch beide Landessprachen erlernt: ein Borten für die einen, ein großer Vorteil für die andern. Im ganzen darf man sagen, daß die Spannung zwischen den beiden Nationalitäten künstlich er¬ zeugt ist, Zeitungsblätter und Agitatoren nähren sie, aber noch sind 'Elemente vorhanden, die zu einer Versöhnung führen könnten. Ein nicht unberechtigter Wunsch der Bürgerschaft müßte freilich erfüllt werden: daß — da ja die Ge¬ meinde deutsch ist — ein Teil der Beamtenschaft auch ihrer Nation angehören möge. Das Territorium der Stadt ist fast ganz von dem Besitze einer der reichsten Adelsfamilien Böhmens umschlossen. Das ehrwürdige Haupt der Familie ist, wie mau heute sagt, „verfassungstreu" oder „deutsch-österreichisch" gesinnt, be¬ zeichnender wäre: zentralistisch und altösterreichisch. Die Sohne dagegen sind alle föderalistisch, mitunter sogar mit stark tschechischen Allüren; die Enkel werden in diesem Sinne erzogen. Es ist dies nicht etwa eine vereinzelte Erscheinung, sehr häufig halten die Älteren und Ältesten in den eidlichen Geschlechtern Öster¬ reichs mit der heutigen Opposition — freilich haben sie sich meist schon vom öffentlichen Leben zurückgezogen oder dürften dies bald thun —, während die Jüngeren zum nationalen und klerikalen Banner schwören. Es bedarf dies kaum einer Erklärung. Jene kannten eben nur das alte Österreich, den Ein¬ heitsstaat, in welchem eine Nationalitätcnfrage nicht bestand. Der Staatskanzler Fürst Metternich pflegte zu sagen — Gentz berichtet es uns —, die Föderalisten seien ihm ebenso verhaßt wie die Liberalen. Die jüngere Generation des Hvchadels meint aber die konservativen Interessen — die Sache des großen Grundbesitzes gegenüber dem mobilen Kapital und der Börse — besser zu ver¬ treten, wenn sie es mit den erwachten slawischen Nationen und Natiönchen hält, weil diese vom modernen Liberalismus und Manchestertum weniger an¬ gekränkelt sind. Dabei verschmähen sie — mit Ausnahme einiger Exaltados — die deutsche Bildung nicht, gehen in Prag lieber ins deutsche Theater als ius tschechische, weil sie tschechisch oft mir sehr mühsam verstehen und garnicht

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/37
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/37>, abgerufen am 27.09.2024.