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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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Zur Lebensbeschreibung Heinrichs von Aleist.

große Entdeckungsreise gewesen ist, auf der Kleist zur Erkenntnis seines Dichter-,
oder mindestens seines Schriftstellerbcrufcs gekommen sein soll. Diese Reise,
die den Dichter von Mitte August des Jahres 1800 ab etwa zwei Monate
in der Ferne gehalten hat, ist des Genaueren zu beleuchten, weil die unrichtige
Auffassung ihres Zweckes und ihres Ergebnisses vonseiten Brahms die unzu¬
treffende Darstellung über des Dichters Geistesentwicklung zum Teil bedingt.

Über den Zweck dieser Neise bestehen die verschiedensten Vermutungen.
Koberstein, der Herausgeber der Briefe Kleists an seine Schwester Ulrike, hat
von der Nichte Kleists, die im Besitze dieser Briefe war, erfahren, die Reise
sei nach der Ansicht Ulrikens politischer Natur gewesen. Adolf Wilbrandt
meint: "Es unterliegt keinem Zweifel, daß Kleist auf dieser seltsamen Reise die
Gewißheit seines Dichterberufes suchte und für den Augenblick faud." Felix
Bamberg (in der Allgemeinen deutschen Biographie) ist der Ansicht, Kleist habe
vom Berliner Zolldepnrtement einen auf Auskundschaftung industrieller Ver¬
hältnisse gerichteten und politische Beobachtungen uicht ausschließenden Auftrag
gehabt, aber teils durch den verlängerten Aufenthalt in Süddentschland, dessen
Naturschönheiten ihn anregten, teils durch das Zusammensein mit Brotes
hätten sich die dichterischen Keime mächtiger in ihm zu regen begonnen. Hieran
reiht sich Otto Brahm mit der Anffcissung, der eigentliche Zweck der Reise seien
industrielle Forschungen gewesen, der unklar strebende habe sein erstes Ziel
aus den Augen verloren, und in Wiirzburg habe er den Schriftsteller in sich
entdeckt. "Zu gleichgültigen Geschäften war er ausgegangen, und als er zurück¬
kehrte, hatte er ein Königreich gewonnen," schließt Brahm seine Erörterungen
über diese "Reise nach dem Glück."

Nach dem früher gesagten treten wir mit ganz andern Voraussetzungen
an die Beurteilung der Reise heran, als es von Brahm geschehen ist.
Zunächst ist nur soviel sicher, daß die Reise mit der künftigen Lebensstellung
Kleists in Verbindung stand, denn mehrmals giebt er seiner Braut Andeutungen
wie die folgende: "Von dem Zwecke meiner Neise weißt du wenigstens, daß er
vortrefflich ist. Unser Glück liegt dabei zu Grunde, und es kann nichts dabei
verloren, doch alles dabei gewonnen werden." Weiter ist sicher, daß neben und
über diesem realen Moment auch ein ideales in dem Verlauf der Neise zu Tage
tritt. Wühreud aber Brahm beide Momente ursachlich völlig getrennt hält,
während er sagt: Am Anfang der Reise herrschte ausschließlich das reale
Moment, am Schluß das ideale, ist zu sagen: Das ideale Moment war das
ursprüngliche und bedingte das reale.

Vor der Trennung in Frankfurt a. O. hat es bei der Braut Thränen
gegeben, Kleist selbst scheidet in großer Bewegung, und die ganze Familie schaut
mit der lebhaftesten Sorge dem Ziehenden nach. Schon diese Einleitung der
Neise macht es klar, daß es sich nicht um gewöhnliche, gleichgiltige Dinge
handelt. Allerdings tritt Kleist in Berlin mit dem preußischen Finanzminister


Zur Lebensbeschreibung Heinrichs von Aleist.

große Entdeckungsreise gewesen ist, auf der Kleist zur Erkenntnis seines Dichter-,
oder mindestens seines Schriftstellerbcrufcs gekommen sein soll. Diese Reise,
die den Dichter von Mitte August des Jahres 1800 ab etwa zwei Monate
in der Ferne gehalten hat, ist des Genaueren zu beleuchten, weil die unrichtige
Auffassung ihres Zweckes und ihres Ergebnisses vonseiten Brahms die unzu¬
treffende Darstellung über des Dichters Geistesentwicklung zum Teil bedingt.

Über den Zweck dieser Neise bestehen die verschiedensten Vermutungen.
Koberstein, der Herausgeber der Briefe Kleists an seine Schwester Ulrike, hat
von der Nichte Kleists, die im Besitze dieser Briefe war, erfahren, die Reise
sei nach der Ansicht Ulrikens politischer Natur gewesen. Adolf Wilbrandt
meint: „Es unterliegt keinem Zweifel, daß Kleist auf dieser seltsamen Reise die
Gewißheit seines Dichterberufes suchte und für den Augenblick faud." Felix
Bamberg (in der Allgemeinen deutschen Biographie) ist der Ansicht, Kleist habe
vom Berliner Zolldepnrtement einen auf Auskundschaftung industrieller Ver¬
hältnisse gerichteten und politische Beobachtungen uicht ausschließenden Auftrag
gehabt, aber teils durch den verlängerten Aufenthalt in Süddentschland, dessen
Naturschönheiten ihn anregten, teils durch das Zusammensein mit Brotes
hätten sich die dichterischen Keime mächtiger in ihm zu regen begonnen. Hieran
reiht sich Otto Brahm mit der Anffcissung, der eigentliche Zweck der Reise seien
industrielle Forschungen gewesen, der unklar strebende habe sein erstes Ziel
aus den Augen verloren, und in Wiirzburg habe er den Schriftsteller in sich
entdeckt. „Zu gleichgültigen Geschäften war er ausgegangen, und als er zurück¬
kehrte, hatte er ein Königreich gewonnen," schließt Brahm seine Erörterungen
über diese „Reise nach dem Glück."

Nach dem früher gesagten treten wir mit ganz andern Voraussetzungen
an die Beurteilung der Reise heran, als es von Brahm geschehen ist.
Zunächst ist nur soviel sicher, daß die Reise mit der künftigen Lebensstellung
Kleists in Verbindung stand, denn mehrmals giebt er seiner Braut Andeutungen
wie die folgende: „Von dem Zwecke meiner Neise weißt du wenigstens, daß er
vortrefflich ist. Unser Glück liegt dabei zu Grunde, und es kann nichts dabei
verloren, doch alles dabei gewonnen werden." Weiter ist sicher, daß neben und
über diesem realen Moment auch ein ideales in dem Verlauf der Neise zu Tage
tritt. Wühreud aber Brahm beide Momente ursachlich völlig getrennt hält,
während er sagt: Am Anfang der Reise herrschte ausschließlich das reale
Moment, am Schluß das ideale, ist zu sagen: Das ideale Moment war das
ursprüngliche und bedingte das reale.

Vor der Trennung in Frankfurt a. O. hat es bei der Braut Thränen
gegeben, Kleist selbst scheidet in großer Bewegung, und die ganze Familie schaut
mit der lebhaftesten Sorge dem Ziehenden nach. Schon diese Einleitung der
Neise macht es klar, daß es sich nicht um gewöhnliche, gleichgiltige Dinge
handelt. Allerdings tritt Kleist in Berlin mit dem preußischen Finanzminister


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[0338] Zur Lebensbeschreibung Heinrichs von Aleist. große Entdeckungsreise gewesen ist, auf der Kleist zur Erkenntnis seines Dichter-, oder mindestens seines Schriftstellerbcrufcs gekommen sein soll. Diese Reise, die den Dichter von Mitte August des Jahres 1800 ab etwa zwei Monate in der Ferne gehalten hat, ist des Genaueren zu beleuchten, weil die unrichtige Auffassung ihres Zweckes und ihres Ergebnisses vonseiten Brahms die unzu¬ treffende Darstellung über des Dichters Geistesentwicklung zum Teil bedingt. Über den Zweck dieser Neise bestehen die verschiedensten Vermutungen. Koberstein, der Herausgeber der Briefe Kleists an seine Schwester Ulrike, hat von der Nichte Kleists, die im Besitze dieser Briefe war, erfahren, die Reise sei nach der Ansicht Ulrikens politischer Natur gewesen. Adolf Wilbrandt meint: „Es unterliegt keinem Zweifel, daß Kleist auf dieser seltsamen Reise die Gewißheit seines Dichterberufes suchte und für den Augenblick faud." Felix Bamberg (in der Allgemeinen deutschen Biographie) ist der Ansicht, Kleist habe vom Berliner Zolldepnrtement einen auf Auskundschaftung industrieller Ver¬ hältnisse gerichteten und politische Beobachtungen uicht ausschließenden Auftrag gehabt, aber teils durch den verlängerten Aufenthalt in Süddentschland, dessen Naturschönheiten ihn anregten, teils durch das Zusammensein mit Brotes hätten sich die dichterischen Keime mächtiger in ihm zu regen begonnen. Hieran reiht sich Otto Brahm mit der Anffcissung, der eigentliche Zweck der Reise seien industrielle Forschungen gewesen, der unklar strebende habe sein erstes Ziel aus den Augen verloren, und in Wiirzburg habe er den Schriftsteller in sich entdeckt. „Zu gleichgültigen Geschäften war er ausgegangen, und als er zurück¬ kehrte, hatte er ein Königreich gewonnen," schließt Brahm seine Erörterungen über diese „Reise nach dem Glück." Nach dem früher gesagten treten wir mit ganz andern Voraussetzungen an die Beurteilung der Reise heran, als es von Brahm geschehen ist. Zunächst ist nur soviel sicher, daß die Reise mit der künftigen Lebensstellung Kleists in Verbindung stand, denn mehrmals giebt er seiner Braut Andeutungen wie die folgende: „Von dem Zwecke meiner Neise weißt du wenigstens, daß er vortrefflich ist. Unser Glück liegt dabei zu Grunde, und es kann nichts dabei verloren, doch alles dabei gewonnen werden." Weiter ist sicher, daß neben und über diesem realen Moment auch ein ideales in dem Verlauf der Neise zu Tage tritt. Wühreud aber Brahm beide Momente ursachlich völlig getrennt hält, während er sagt: Am Anfang der Reise herrschte ausschließlich das reale Moment, am Schluß das ideale, ist zu sagen: Das ideale Moment war das ursprüngliche und bedingte das reale. Vor der Trennung in Frankfurt a. O. hat es bei der Braut Thränen gegeben, Kleist selbst scheidet in großer Bewegung, und die ganze Familie schaut mit der lebhaftesten Sorge dem Ziehenden nach. Schon diese Einleitung der Neise macht es klar, daß es sich nicht um gewöhnliche, gleichgiltige Dinge handelt. Allerdings tritt Kleist in Berlin mit dem preußischen Finanzminister

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/338>, abgerufen am 15.01.2025.