Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Zur Lebensbeschreibung Heinrichs von Kleist.

Stufenleiter der Wissenschaft zur Dichtkunst emporgedrungen ist, sondern daß
der von jeher in ihm wohnende poetische Drang ihn in die eigentümlichen
Bahnen trieb, die er gewandelt ist.

So dürftig wir über die erste Entwicklungszeit des Dichters unterrichtet
sind, so sehlt es doch durchaus uicht an Zügen, welche, von der Knabenzeit
an, die wahre Natur des jungen Titanen enthüllen. Oft liegen Jahre zwischen
den einzelnen wegweisenden Nachrichten; alle aber zeigen nach derselben Rich¬
tung hin. Merkwürdigerweise sind diese Züge von Brahm nur nebenbei
erwähnt worden, während doch, je sparsamer sie sich darbieten, ein umso größerer
Wert ans sie gelegt werden muß. Auch geradezu falsche Auffassungen fehlen in
dem Brahmschen Buche nicht; die erste und wichtigste betrifft den Grund von
Kleists Ausscheiden aus der Militärlaufbahn. Als Ludwig Tieck im Jahre 1826
die Lebensgeschichte Kleists zum erstenmale skizzirte, lag ihm ein so mangelhaftes
Quellcnmaterial vor, daß er den Satz schreiben durfte: "Bei seiner Ankunft in
Frankfurt (nach dem Austritte aus dem Heere) hatte er die Absicht, sich zum
Gelehrten und namentlich zum Professor auf einer Universität auszubilden."
Obwohl nun in dem verflossenen langen Zeitraume uns Quellen zugänglich ge¬
macht worden sind, welche diesen Satz als irrig erweisen, so wandelt dennoch
die Kleistbiographic selbst der neuesten Zeit in Bezug auf diesen hochwichtigen
Wendepunkt in Kleists Leben durchaus in den Fußtapfen des alten Tieck.
Schon aus diesem Beispiele wird die Notwendigkeit erhellen, die Jugendgeschichte
des Dichters, soweit sie das Geistige betrifft, von neuen Gesichtspunkten aus
betrachtet darzustellen.

Schon der Knabe Kleist zeigt Spuren eines übergewöhnlicheu Geistes.
Sein erster Lehrer schildert ihn als einen "nicht zu dampfenden Feilergeist."
Heinrich selbst erinnert sich, einmal als Knabe vor neun Jahren, als er (wäh¬
rend eines mehrwochentlichen Aufenthalts am Rhein) gegen den Strom und
gegen den Abendhauch zugleich hinaufging und ihn so die Wellen der Luft und
des Wassers zugleich umtönten, "ein schmelzendes Adagio gehört zu haben, mit
allem Zauber der Musik, mit allen melodischen Wendungen und der ganzen
begleitenden Harmonie. Ja ich glaube sogar -- fügt er hinzu --, daß alles, was
die Weisen Griechenlands von der Harmonie der Sphären dichteten, nichts
Weicheres, Schöneres, Himmlischeres gewesen sei als diese seltsame Träumerei."
Dies Erlebnis lehrt, daß die Phantasie des Knaben die denkbar lebhafteste war,
daß sie sich zuweilen zu dichterischen Visionen erhob. Aber nicht nnr in un¬
klaren Traumbildern erging sich seine Einbildungskraft; seine dichterischen
Gedanken ergossen sich schon früh in feste Formen. Von dem Fünfzehn- bis
sechzehnjähriger ist uns (aus dem Jahre 1792 oder 1793) ein Gedicht
erhalten, das den blutjungen Soldaten auf Fährten zeigt, auf welchen wir den
Dichter sein Lebenlang finden: auf dem Suchen der Einsamkeit und der Natur.
Das Gedicht, "Der höhere Frieden" betitelt, lautet:


Zur Lebensbeschreibung Heinrichs von Kleist.

Stufenleiter der Wissenschaft zur Dichtkunst emporgedrungen ist, sondern daß
der von jeher in ihm wohnende poetische Drang ihn in die eigentümlichen
Bahnen trieb, die er gewandelt ist.

So dürftig wir über die erste Entwicklungszeit des Dichters unterrichtet
sind, so sehlt es doch durchaus uicht an Zügen, welche, von der Knabenzeit
an, die wahre Natur des jungen Titanen enthüllen. Oft liegen Jahre zwischen
den einzelnen wegweisenden Nachrichten; alle aber zeigen nach derselben Rich¬
tung hin. Merkwürdigerweise sind diese Züge von Brahm nur nebenbei
erwähnt worden, während doch, je sparsamer sie sich darbieten, ein umso größerer
Wert ans sie gelegt werden muß. Auch geradezu falsche Auffassungen fehlen in
dem Brahmschen Buche nicht; die erste und wichtigste betrifft den Grund von
Kleists Ausscheiden aus der Militärlaufbahn. Als Ludwig Tieck im Jahre 1826
die Lebensgeschichte Kleists zum erstenmale skizzirte, lag ihm ein so mangelhaftes
Quellcnmaterial vor, daß er den Satz schreiben durfte: „Bei seiner Ankunft in
Frankfurt (nach dem Austritte aus dem Heere) hatte er die Absicht, sich zum
Gelehrten und namentlich zum Professor auf einer Universität auszubilden."
Obwohl nun in dem verflossenen langen Zeitraume uns Quellen zugänglich ge¬
macht worden sind, welche diesen Satz als irrig erweisen, so wandelt dennoch
die Kleistbiographic selbst der neuesten Zeit in Bezug auf diesen hochwichtigen
Wendepunkt in Kleists Leben durchaus in den Fußtapfen des alten Tieck.
Schon aus diesem Beispiele wird die Notwendigkeit erhellen, die Jugendgeschichte
des Dichters, soweit sie das Geistige betrifft, von neuen Gesichtspunkten aus
betrachtet darzustellen.

Schon der Knabe Kleist zeigt Spuren eines übergewöhnlicheu Geistes.
Sein erster Lehrer schildert ihn als einen „nicht zu dampfenden Feilergeist."
Heinrich selbst erinnert sich, einmal als Knabe vor neun Jahren, als er (wäh¬
rend eines mehrwochentlichen Aufenthalts am Rhein) gegen den Strom und
gegen den Abendhauch zugleich hinaufging und ihn so die Wellen der Luft und
des Wassers zugleich umtönten, „ein schmelzendes Adagio gehört zu haben, mit
allem Zauber der Musik, mit allen melodischen Wendungen und der ganzen
begleitenden Harmonie. Ja ich glaube sogar — fügt er hinzu —, daß alles, was
die Weisen Griechenlands von der Harmonie der Sphären dichteten, nichts
Weicheres, Schöneres, Himmlischeres gewesen sei als diese seltsame Träumerei."
Dies Erlebnis lehrt, daß die Phantasie des Knaben die denkbar lebhafteste war,
daß sie sich zuweilen zu dichterischen Visionen erhob. Aber nicht nnr in un¬
klaren Traumbildern erging sich seine Einbildungskraft; seine dichterischen
Gedanken ergossen sich schon früh in feste Formen. Von dem Fünfzehn- bis
sechzehnjähriger ist uns (aus dem Jahre 1792 oder 1793) ein Gedicht
erhalten, das den blutjungen Soldaten auf Fährten zeigt, auf welchen wir den
Dichter sein Lebenlang finden: auf dem Suchen der Einsamkeit und der Natur.
Das Gedicht, „Der höhere Frieden" betitelt, lautet:


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0328" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/199682"/>
          <fw type="header" place="top"> Zur Lebensbeschreibung Heinrichs von Kleist.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1321" prev="#ID_1320"> Stufenleiter der Wissenschaft zur Dichtkunst emporgedrungen ist, sondern daß<lb/>
der von jeher in ihm wohnende poetische Drang ihn in die eigentümlichen<lb/>
Bahnen trieb, die er gewandelt ist.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1322"> So dürftig wir über die erste Entwicklungszeit des Dichters unterrichtet<lb/>
sind, so sehlt es doch durchaus uicht an Zügen, welche, von der Knabenzeit<lb/>
an, die wahre Natur des jungen Titanen enthüllen. Oft liegen Jahre zwischen<lb/>
den einzelnen wegweisenden Nachrichten; alle aber zeigen nach derselben Rich¬<lb/>
tung hin. Merkwürdigerweise sind diese Züge von Brahm nur nebenbei<lb/>
erwähnt worden, während doch, je sparsamer sie sich darbieten, ein umso größerer<lb/>
Wert ans sie gelegt werden muß. Auch geradezu falsche Auffassungen fehlen in<lb/>
dem Brahmschen Buche nicht; die erste und wichtigste betrifft den Grund von<lb/>
Kleists Ausscheiden aus der Militärlaufbahn. Als Ludwig Tieck im Jahre 1826<lb/>
die Lebensgeschichte Kleists zum erstenmale skizzirte, lag ihm ein so mangelhaftes<lb/>
Quellcnmaterial vor, daß er den Satz schreiben durfte: &#x201E;Bei seiner Ankunft in<lb/>
Frankfurt (nach dem Austritte aus dem Heere) hatte er die Absicht, sich zum<lb/>
Gelehrten und namentlich zum Professor auf einer Universität auszubilden."<lb/>
Obwohl nun in dem verflossenen langen Zeitraume uns Quellen zugänglich ge¬<lb/>
macht worden sind, welche diesen Satz als irrig erweisen, so wandelt dennoch<lb/>
die Kleistbiographic selbst der neuesten Zeit in Bezug auf diesen hochwichtigen<lb/>
Wendepunkt in Kleists Leben durchaus in den Fußtapfen des alten Tieck.<lb/>
Schon aus diesem Beispiele wird die Notwendigkeit erhellen, die Jugendgeschichte<lb/>
des Dichters, soweit sie das Geistige betrifft, von neuen Gesichtspunkten aus<lb/>
betrachtet darzustellen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1323" next="#ID_1324"> Schon der Knabe Kleist zeigt Spuren eines übergewöhnlicheu Geistes.<lb/>
Sein erster Lehrer schildert ihn als einen &#x201E;nicht zu dampfenden Feilergeist."<lb/>
Heinrich selbst erinnert sich, einmal als Knabe vor neun Jahren, als er (wäh¬<lb/>
rend eines mehrwochentlichen Aufenthalts am Rhein) gegen den Strom und<lb/>
gegen den Abendhauch zugleich hinaufging und ihn so die Wellen der Luft und<lb/>
des Wassers zugleich umtönten, &#x201E;ein schmelzendes Adagio gehört zu haben, mit<lb/>
allem Zauber der Musik, mit allen melodischen Wendungen und der ganzen<lb/>
begleitenden Harmonie. Ja ich glaube sogar &#x2014; fügt er hinzu &#x2014;, daß alles, was<lb/>
die Weisen Griechenlands von der Harmonie der Sphären dichteten, nichts<lb/>
Weicheres, Schöneres, Himmlischeres gewesen sei als diese seltsame Träumerei."<lb/>
Dies Erlebnis lehrt, daß die Phantasie des Knaben die denkbar lebhafteste war,<lb/>
daß sie sich zuweilen zu dichterischen Visionen erhob. Aber nicht nnr in un¬<lb/>
klaren Traumbildern erging sich seine Einbildungskraft; seine dichterischen<lb/>
Gedanken ergossen sich schon früh in feste Formen. Von dem Fünfzehn- bis<lb/>
sechzehnjähriger ist uns (aus dem Jahre 1792 oder 1793) ein Gedicht<lb/>
erhalten, das den blutjungen Soldaten auf Fährten zeigt, auf welchen wir den<lb/>
Dichter sein Lebenlang finden: auf dem Suchen der Einsamkeit und der Natur.<lb/>
Das Gedicht, &#x201E;Der höhere Frieden" betitelt, lautet:</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0328] Zur Lebensbeschreibung Heinrichs von Kleist. Stufenleiter der Wissenschaft zur Dichtkunst emporgedrungen ist, sondern daß der von jeher in ihm wohnende poetische Drang ihn in die eigentümlichen Bahnen trieb, die er gewandelt ist. So dürftig wir über die erste Entwicklungszeit des Dichters unterrichtet sind, so sehlt es doch durchaus uicht an Zügen, welche, von der Knabenzeit an, die wahre Natur des jungen Titanen enthüllen. Oft liegen Jahre zwischen den einzelnen wegweisenden Nachrichten; alle aber zeigen nach derselben Rich¬ tung hin. Merkwürdigerweise sind diese Züge von Brahm nur nebenbei erwähnt worden, während doch, je sparsamer sie sich darbieten, ein umso größerer Wert ans sie gelegt werden muß. Auch geradezu falsche Auffassungen fehlen in dem Brahmschen Buche nicht; die erste und wichtigste betrifft den Grund von Kleists Ausscheiden aus der Militärlaufbahn. Als Ludwig Tieck im Jahre 1826 die Lebensgeschichte Kleists zum erstenmale skizzirte, lag ihm ein so mangelhaftes Quellcnmaterial vor, daß er den Satz schreiben durfte: „Bei seiner Ankunft in Frankfurt (nach dem Austritte aus dem Heere) hatte er die Absicht, sich zum Gelehrten und namentlich zum Professor auf einer Universität auszubilden." Obwohl nun in dem verflossenen langen Zeitraume uns Quellen zugänglich ge¬ macht worden sind, welche diesen Satz als irrig erweisen, so wandelt dennoch die Kleistbiographic selbst der neuesten Zeit in Bezug auf diesen hochwichtigen Wendepunkt in Kleists Leben durchaus in den Fußtapfen des alten Tieck. Schon aus diesem Beispiele wird die Notwendigkeit erhellen, die Jugendgeschichte des Dichters, soweit sie das Geistige betrifft, von neuen Gesichtspunkten aus betrachtet darzustellen. Schon der Knabe Kleist zeigt Spuren eines übergewöhnlicheu Geistes. Sein erster Lehrer schildert ihn als einen „nicht zu dampfenden Feilergeist." Heinrich selbst erinnert sich, einmal als Knabe vor neun Jahren, als er (wäh¬ rend eines mehrwochentlichen Aufenthalts am Rhein) gegen den Strom und gegen den Abendhauch zugleich hinaufging und ihn so die Wellen der Luft und des Wassers zugleich umtönten, „ein schmelzendes Adagio gehört zu haben, mit allem Zauber der Musik, mit allen melodischen Wendungen und der ganzen begleitenden Harmonie. Ja ich glaube sogar — fügt er hinzu —, daß alles, was die Weisen Griechenlands von der Harmonie der Sphären dichteten, nichts Weicheres, Schöneres, Himmlischeres gewesen sei als diese seltsame Träumerei." Dies Erlebnis lehrt, daß die Phantasie des Knaben die denkbar lebhafteste war, daß sie sich zuweilen zu dichterischen Visionen erhob. Aber nicht nnr in un¬ klaren Traumbildern erging sich seine Einbildungskraft; seine dichterischen Gedanken ergossen sich schon früh in feste Formen. Von dem Fünfzehn- bis sechzehnjähriger ist uns (aus dem Jahre 1792 oder 1793) ein Gedicht erhalten, das den blutjungen Soldaten auf Fährten zeigt, auf welchen wir den Dichter sein Lebenlang finden: auf dem Suchen der Einsamkeit und der Natur. Das Gedicht, „Der höhere Frieden" betitelt, lautet:

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/328
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/328>, abgerufen am 20.10.2024.