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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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Zur Lebensbeschreibung Heinrichs von Aleist.

und dies mag wohl ein Hauptgrund sein, warum wir uns uicht verstehen. Mein
Interesse besonders ist dem ihrigen so fremd und ungleichartig, daß sie gleich¬
sam wie aus den Wolken fallen, wenn sie etwas davon ahnden. Auch haben
mich einige mißlungene Versuche, es ihnen näher vor die Angen, näher an das
Herz zu rücken, für immer davon zurückgeschreckt, und ich werde mich dazu be¬
quemen müssen, es für immer in das Innerste meines Herzens zu verschließen."
Diese Verschließung hat der Dichter jahrelang so peinlich strenge durchgeführt,
daß es sehr schwer ist, das wahre Interesse des Jünglings mit einem vollen Blick
zu erHaschen. Vielfach sind wir auf Erraten und Vermuten angewiesen. Die
unaufhörliche Währung in des Dichters jugendlichem Geiste, das Schwanken aus
einem Berufe in den andern, der unbesiegliche Widerwille gegen den Eintritt in
ein Amt -- das alles müssen wir doch als die Vorboten der spätern Aus-
brüche in seinem Geiste erklären. Ich denke, so gewiß wir auf den Hohen des
Vesuvs das rollende Getöse zu unsern Füßen mit der vulkanischen Thätigkeit
des Berges in Zusammenhang bringen, so gewiß werden wir, wenn wir auf das
Leben des Dichters Kleist zurückblicken, die revolutionären Regungen des Jüng¬
lings für die Äußerungen seiner poetischen Natur anzusehen haben. Dürfen
wir aber annehmen, daß dem Dichter selbst Quell und Richtung der sein Inneres
durchwühlenden Ströme lange Jahre hindurch unbekannt geblieben seien? Dem
widersprechen tausendfältige Erfahrungen im Bunde mit den gewichtigsten Gründen,
die uns die Seelenlehre an die Hand giebt: alles starke Wollen des Menschen,
vor allem des Künstlers, kündigt sich frühzeitig in nicht falsch zu deutenden
Stößen an. Bei Kleist war es nicht anders.

Die Darstellungen seiner Biographen zeichnen, im Gegensatz zu dieser Auf¬
fassung, die geistige Entwicklung Kleists wie eine vielfach gekrümmte Linie.
Adolf Wilbrcmdt schreibt: "Noch in demselben Jahre 1795 ... kam Kleist als
Fähndrich nach Potsdam, und hier begann in ihm die Umwälzung, die ihn zu¬
nächst seinein Stande entfremden, dann der Wissenschaft in die Arme führen und
endlich unter verhängnisvollen Kämpfen zum Dichter umbilden sollte." Also
durch einen merkwürdigen, ihm selbst unklaren Prozeß soll Kleist stufenweise
vom Soldaten zum Studenten, vom Studenten zum Dichter umgeformt worden
sein. Das ist unwahrscheinlich, mit der eisernen Konsequenz in Kleists Charakter
und Lebensführung unvereinbar. In den nachfolgenden Zeilen soll der Versuch
gemacht werden, nachzuweisen, daß die Darstellung Wilbrandts, und noch mehr
diejenige Otto Brahms,") welcher die Ansicht seines Vorgängers in eine noch
ausgeprägtere Form faßt, das Wesen unsers Dichters verkennt; es soll nach¬
gewiesen werden, daß Kleist keineswegs, wie angenommen wird, mittels der



*) Die unvermeidliche Polemik dieses Aufsatzes hat sich in erster Linie gegen Brahms
Buch (Heinrich von Kleist voll Otto Brechen. Berlin, Allg. Verein f. deutsche Literatur, 1884)
zu richten, weil dasselbe die Summe miles desjenigen enthält, lors bisher für die Lebens¬
beschreibung Kleists geleistet worden ihl.
Zur Lebensbeschreibung Heinrichs von Aleist.

und dies mag wohl ein Hauptgrund sein, warum wir uns uicht verstehen. Mein
Interesse besonders ist dem ihrigen so fremd und ungleichartig, daß sie gleich¬
sam wie aus den Wolken fallen, wenn sie etwas davon ahnden. Auch haben
mich einige mißlungene Versuche, es ihnen näher vor die Angen, näher an das
Herz zu rücken, für immer davon zurückgeschreckt, und ich werde mich dazu be¬
quemen müssen, es für immer in das Innerste meines Herzens zu verschließen."
Diese Verschließung hat der Dichter jahrelang so peinlich strenge durchgeführt,
daß es sehr schwer ist, das wahre Interesse des Jünglings mit einem vollen Blick
zu erHaschen. Vielfach sind wir auf Erraten und Vermuten angewiesen. Die
unaufhörliche Währung in des Dichters jugendlichem Geiste, das Schwanken aus
einem Berufe in den andern, der unbesiegliche Widerwille gegen den Eintritt in
ein Amt — das alles müssen wir doch als die Vorboten der spätern Aus-
brüche in seinem Geiste erklären. Ich denke, so gewiß wir auf den Hohen des
Vesuvs das rollende Getöse zu unsern Füßen mit der vulkanischen Thätigkeit
des Berges in Zusammenhang bringen, so gewiß werden wir, wenn wir auf das
Leben des Dichters Kleist zurückblicken, die revolutionären Regungen des Jüng¬
lings für die Äußerungen seiner poetischen Natur anzusehen haben. Dürfen
wir aber annehmen, daß dem Dichter selbst Quell und Richtung der sein Inneres
durchwühlenden Ströme lange Jahre hindurch unbekannt geblieben seien? Dem
widersprechen tausendfältige Erfahrungen im Bunde mit den gewichtigsten Gründen,
die uns die Seelenlehre an die Hand giebt: alles starke Wollen des Menschen,
vor allem des Künstlers, kündigt sich frühzeitig in nicht falsch zu deutenden
Stößen an. Bei Kleist war es nicht anders.

Die Darstellungen seiner Biographen zeichnen, im Gegensatz zu dieser Auf¬
fassung, die geistige Entwicklung Kleists wie eine vielfach gekrümmte Linie.
Adolf Wilbrcmdt schreibt: „Noch in demselben Jahre 1795 ... kam Kleist als
Fähndrich nach Potsdam, und hier begann in ihm die Umwälzung, die ihn zu¬
nächst seinein Stande entfremden, dann der Wissenschaft in die Arme führen und
endlich unter verhängnisvollen Kämpfen zum Dichter umbilden sollte." Also
durch einen merkwürdigen, ihm selbst unklaren Prozeß soll Kleist stufenweise
vom Soldaten zum Studenten, vom Studenten zum Dichter umgeformt worden
sein. Das ist unwahrscheinlich, mit der eisernen Konsequenz in Kleists Charakter
und Lebensführung unvereinbar. In den nachfolgenden Zeilen soll der Versuch
gemacht werden, nachzuweisen, daß die Darstellung Wilbrandts, und noch mehr
diejenige Otto Brahms,") welcher die Ansicht seines Vorgängers in eine noch
ausgeprägtere Form faßt, das Wesen unsers Dichters verkennt; es soll nach¬
gewiesen werden, daß Kleist keineswegs, wie angenommen wird, mittels der



*) Die unvermeidliche Polemik dieses Aufsatzes hat sich in erster Linie gegen Brahms
Buch (Heinrich von Kleist voll Otto Brechen. Berlin, Allg. Verein f. deutsche Literatur, 1884)
zu richten, weil dasselbe die Summe miles desjenigen enthält, lors bisher für die Lebens¬
beschreibung Kleists geleistet worden ihl.
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[0327] Zur Lebensbeschreibung Heinrichs von Aleist. und dies mag wohl ein Hauptgrund sein, warum wir uns uicht verstehen. Mein Interesse besonders ist dem ihrigen so fremd und ungleichartig, daß sie gleich¬ sam wie aus den Wolken fallen, wenn sie etwas davon ahnden. Auch haben mich einige mißlungene Versuche, es ihnen näher vor die Angen, näher an das Herz zu rücken, für immer davon zurückgeschreckt, und ich werde mich dazu be¬ quemen müssen, es für immer in das Innerste meines Herzens zu verschließen." Diese Verschließung hat der Dichter jahrelang so peinlich strenge durchgeführt, daß es sehr schwer ist, das wahre Interesse des Jünglings mit einem vollen Blick zu erHaschen. Vielfach sind wir auf Erraten und Vermuten angewiesen. Die unaufhörliche Währung in des Dichters jugendlichem Geiste, das Schwanken aus einem Berufe in den andern, der unbesiegliche Widerwille gegen den Eintritt in ein Amt — das alles müssen wir doch als die Vorboten der spätern Aus- brüche in seinem Geiste erklären. Ich denke, so gewiß wir auf den Hohen des Vesuvs das rollende Getöse zu unsern Füßen mit der vulkanischen Thätigkeit des Berges in Zusammenhang bringen, so gewiß werden wir, wenn wir auf das Leben des Dichters Kleist zurückblicken, die revolutionären Regungen des Jüng¬ lings für die Äußerungen seiner poetischen Natur anzusehen haben. Dürfen wir aber annehmen, daß dem Dichter selbst Quell und Richtung der sein Inneres durchwühlenden Ströme lange Jahre hindurch unbekannt geblieben seien? Dem widersprechen tausendfältige Erfahrungen im Bunde mit den gewichtigsten Gründen, die uns die Seelenlehre an die Hand giebt: alles starke Wollen des Menschen, vor allem des Künstlers, kündigt sich frühzeitig in nicht falsch zu deutenden Stößen an. Bei Kleist war es nicht anders. Die Darstellungen seiner Biographen zeichnen, im Gegensatz zu dieser Auf¬ fassung, die geistige Entwicklung Kleists wie eine vielfach gekrümmte Linie. Adolf Wilbrcmdt schreibt: „Noch in demselben Jahre 1795 ... kam Kleist als Fähndrich nach Potsdam, und hier begann in ihm die Umwälzung, die ihn zu¬ nächst seinein Stande entfremden, dann der Wissenschaft in die Arme führen und endlich unter verhängnisvollen Kämpfen zum Dichter umbilden sollte." Also durch einen merkwürdigen, ihm selbst unklaren Prozeß soll Kleist stufenweise vom Soldaten zum Studenten, vom Studenten zum Dichter umgeformt worden sein. Das ist unwahrscheinlich, mit der eisernen Konsequenz in Kleists Charakter und Lebensführung unvereinbar. In den nachfolgenden Zeilen soll der Versuch gemacht werden, nachzuweisen, daß die Darstellung Wilbrandts, und noch mehr diejenige Otto Brahms,") welcher die Ansicht seines Vorgängers in eine noch ausgeprägtere Form faßt, das Wesen unsers Dichters verkennt; es soll nach¬ gewiesen werden, daß Kleist keineswegs, wie angenommen wird, mittels der *) Die unvermeidliche Polemik dieses Aufsatzes hat sich in erster Linie gegen Brahms Buch (Heinrich von Kleist voll Otto Brechen. Berlin, Allg. Verein f. deutsche Literatur, 1884) zu richten, weil dasselbe die Summe miles desjenigen enthält, lors bisher für die Lebens¬ beschreibung Kleists geleistet worden ihl.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/327>, abgerufen am 27.09.2024.