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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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Das Wachstum der Sozialdemokratie nach der Statistik der Reichstagswahlen.

brachten, dann Hannover mit 7400, die freien Städte mit 7100 Stimmen
ebenfalls Lassallescher Richtung. In einer Anzahl von Provinzen und Staaten
waren gar keine sozinldemokratischen Stimmen abgegeben worden, in allen übrigen
blieb der sozialdemokratische Anteil unter 4000. In der Stadt Breslau gab
es kaum 300 sozialdemokratische Wähler, ganz Schlesien zählte knapp 2000.

Schweitzer trat freiwillig von der großen Volksbühne ab und widmete sich
als Lustspieldichter den weltbedeutendeu Brettern, indem er das Vermächtnis
Lassalles den minder geschickten Händen Hasenelevcrs überließ. Was die Ver¬
herrlichungen der Pariser Kommune in den Parteiblättern, die zahlreich von
den Eisenachern gegründet wurden, nicht vermocht hatten, das brachte die
Schwindelperiode mit dem nachfolgenden großen Krach zu stände: der Umsturz¬
gedanke ward mächtiger und tilgte die Wirkungen des großen Jahres auf die
Gesinnung der Arbeitermassen mehr und mehr aus, der Anblick der wirtschaft¬
lichen Zerrüttung brachte die politischen Großthaten in Vergessenheit. Die
Wahlen von 1874 führten sechs Eisenacher und drei Lassalleaner in deu Reichs¬
tag; beide Richtungen teilten sich zu ziemlich gleichen Teilen in die etwa
350000 Stimmen, welche gegen die bestehende Gesellschaftsordnung abgegeben
worden waren. Die sechs Eisenacher waren sämtlich im Königreiche Sachsen
gewählt worden, von den Lassalleanern zwei in Schleswig-Holstein und einer
in der Rheinprovinz. Es gab keine preußische Provinz und keinen Staat, in
dem die Bewegung nicht erhebliche Fortschritte gemacht hatte. Nur in Posen
und in Mecklenburg-Strelitz und in mehreren kleinen Fürstentümern fand sich
keine sozialdemokratische Stimme. Westpreußen blieb uoch ziemlich unberührt;
dagegen wiesen Schlesien 9000 gegen 2000 im Jahre 1871, Schleswig-Holstein
45000 gegen 11200, Bwndciibnrg 14700 gegen 2400, das Königreich Sachsen
92000 gegen 33300, die Herzogtümer 32 000 gegen 3700 Stimmen auf.

Das erschreckende Anwachsen der Sozialdemokratie veranlaßte zwar die Be¬
hörden zu scharfem Einschreiten, aber unter dem Eindrucke desselben, welches
sich gleichmäßig gegen Lassalleaner und Eisenacher richtete, vollzog sich auch die
Vereinigung der feindlichen Brüder auf dem Gothaer Kongreß 1875.

Noch erschreckender war die Wirkung der Wahlen von 1877. Von
5 401021 giltigen Stimmen fielen 493 288 9,1 Prozent der Sozial¬
demokratie zu, 3520000 Wahlberechtigte hatten sich der Wahl enthalten. Die
Partei brachte ans den ersten ordentlichen Wahlen zehn Mandate heim, von
denen eines, Altona, bei der Nachwahl wieder verloren ging, und blieb an
zwanzig Stichwahlen beteiligt, von denen wenigstens drei für sie günstig aus¬
fielen. Wenn das Verhältnis der auf eine Partei gefallenen Stimmen zu der
Gesamtzahl aller giltigen Wahlzettcl für die Zahl der Abgeordneten jeder Partei
maßgebend wäre, so hatte die Sozialdemokratie sechsunddreißig Abgeordnete zu
beanspruchen gehabt. Der verhältnismäßig geringe Erfolg hat seinen Grund
nicht allein in dem Zusammenstehen der übrige" Parteien gegen die sozial-


Grenzboteu IV. 188g. 39
Das Wachstum der Sozialdemokratie nach der Statistik der Reichstagswahlen.

brachten, dann Hannover mit 7400, die freien Städte mit 7100 Stimmen
ebenfalls Lassallescher Richtung. In einer Anzahl von Provinzen und Staaten
waren gar keine sozinldemokratischen Stimmen abgegeben worden, in allen übrigen
blieb der sozialdemokratische Anteil unter 4000. In der Stadt Breslau gab
es kaum 300 sozialdemokratische Wähler, ganz Schlesien zählte knapp 2000.

Schweitzer trat freiwillig von der großen Volksbühne ab und widmete sich
als Lustspieldichter den weltbedeutendeu Brettern, indem er das Vermächtnis
Lassalles den minder geschickten Händen Hasenelevcrs überließ. Was die Ver¬
herrlichungen der Pariser Kommune in den Parteiblättern, die zahlreich von
den Eisenachern gegründet wurden, nicht vermocht hatten, das brachte die
Schwindelperiode mit dem nachfolgenden großen Krach zu stände: der Umsturz¬
gedanke ward mächtiger und tilgte die Wirkungen des großen Jahres auf die
Gesinnung der Arbeitermassen mehr und mehr aus, der Anblick der wirtschaft¬
lichen Zerrüttung brachte die politischen Großthaten in Vergessenheit. Die
Wahlen von 1874 führten sechs Eisenacher und drei Lassalleaner in deu Reichs¬
tag; beide Richtungen teilten sich zu ziemlich gleichen Teilen in die etwa
350000 Stimmen, welche gegen die bestehende Gesellschaftsordnung abgegeben
worden waren. Die sechs Eisenacher waren sämtlich im Königreiche Sachsen
gewählt worden, von den Lassalleanern zwei in Schleswig-Holstein und einer
in der Rheinprovinz. Es gab keine preußische Provinz und keinen Staat, in
dem die Bewegung nicht erhebliche Fortschritte gemacht hatte. Nur in Posen
und in Mecklenburg-Strelitz und in mehreren kleinen Fürstentümern fand sich
keine sozialdemokratische Stimme. Westpreußen blieb uoch ziemlich unberührt;
dagegen wiesen Schlesien 9000 gegen 2000 im Jahre 1871, Schleswig-Holstein
45000 gegen 11200, Bwndciibnrg 14700 gegen 2400, das Königreich Sachsen
92000 gegen 33300, die Herzogtümer 32 000 gegen 3700 Stimmen auf.

Das erschreckende Anwachsen der Sozialdemokratie veranlaßte zwar die Be¬
hörden zu scharfem Einschreiten, aber unter dem Eindrucke desselben, welches
sich gleichmäßig gegen Lassalleaner und Eisenacher richtete, vollzog sich auch die
Vereinigung der feindlichen Brüder auf dem Gothaer Kongreß 1875.

Noch erschreckender war die Wirkung der Wahlen von 1877. Von
5 401021 giltigen Stimmen fielen 493 288 9,1 Prozent der Sozial¬
demokratie zu, 3520000 Wahlberechtigte hatten sich der Wahl enthalten. Die
Partei brachte ans den ersten ordentlichen Wahlen zehn Mandate heim, von
denen eines, Altona, bei der Nachwahl wieder verloren ging, und blieb an
zwanzig Stichwahlen beteiligt, von denen wenigstens drei für sie günstig aus¬
fielen. Wenn das Verhältnis der auf eine Partei gefallenen Stimmen zu der
Gesamtzahl aller giltigen Wahlzettcl für die Zahl der Abgeordneten jeder Partei
maßgebend wäre, so hatte die Sozialdemokratie sechsunddreißig Abgeordnete zu
beanspruchen gehabt. Der verhältnismäßig geringe Erfolg hat seinen Grund
nicht allein in dem Zusammenstehen der übrige« Parteien gegen die sozial-


Grenzboteu IV. 188g. 39
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/313>, abgerufen am 20.10.2024.