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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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Neue Theaterstücke.

besucht die Museen und Ausstellungen, weil man weiß, daß dort eine Fülle von
Anregungen geboten wird und in jedem Falle wenigstens einige Kunstwerke der
Art sind, daß man sich nur schwer von ihnen losreißen mag. Aber zu welchem
Zwecke soll man ins Theater gehen? Soll man sich ein Stück, das dem ge¬
schmacklosen Herrn Direkter mit seinen Regisseuren gefallen hat, von Leuten
vorführen lassen, die ebenfalls mit Behagen den Quark breit treten? Soll man
bestenfalls irgend eine nach der Schablone gearbeitete Jambentragödie, in welcher
schlechtgehobelte Puppen die ungehobelten Verse des Sö-lva poris. Dichters rade-
brechcn, in sich aufnehmen, um acht Nächte lang am Alpdrücken zu leiden?

Wir stehen hier vor dem, was den Kern aller Theaterklagen bildet: ob
sie auch in der Gegenwart berechtigt sind? Sie müssen doch wohl einen Kern
von Berechtigung haben, weil sonst jene Entbehrenden nicht klagen oder vielmehr
dem Theater nicht so gleichgiltig gegenüber stehen würden.

Da uns aber mit leeren Klagen nicht geholfen wird, da wir uus obendrein
bereits darüber klar geworden sind, daß die Verhältnisse von heute durchaus
besser sind, als die von gestern und vorgestern, und nur uoch lauge nicht so,
wie sie morgen und übermorgen hoffentlich sein werden, da wir zu alledem der Über¬
zeugung leben, daß eine Anstalt wie das Theater, welchem die edelsten Geister
der Nation seit langer Zeit ihre, wenn auch meist unfruchtbare und uubelohnte
Liebe zugewandt haben, durchaus ein wesentlicher Kulturfaktor ist, der der
ernstesten Aufmerksamkeit, namentlich der führenden Kreise der Nation, würdig
erscheint, so wird es keine unnütze Mühe sein, wenn wir das Leben und Treiben
dieser Anstalt wenigstens an der sichtbarsten Stelle des Reiches mit aufrichtiger
Liebe verfolgen, um zu erkennen, wie weit jene Klagen auch heute noch be¬
rechtigt sind, und ob nicht am Ende doch schon unter dem welken Lanbe, das
die Vergangenheit uus hinterlassen hat, die Keime grünen, welche den kommenden
Frühling verkünden. Alles Gute muß sich entwickeln; wie wir nichts vom
Himmel herabreißcn können, um uns damit zu schmücken, wie die Rosen nicht
aus den Wolken in unsre Gurten fallen, sondern aus dem Boden emporblühen,
so muß auch die Kunst von unten auf zu Kräften nud zur Entfaltung kommen.
Der dramatischen Kunst vor allem kann kein Segen aus Bestrebungen erwachsen,
welche das Vorhandene von Grund aus bestreiten. Wenn wir die wilden, die
ungezogenen und zur "Entartung" neigenden Kinder töten wollten, so würden
wir keine würdigen Männer großziehen. Von diesem Gesichtspunkte ans wird
auch die dramatische Kunst oder das, was dieselbe vertritt, zu betrachten sein.
Das Unzulängliche soll nicht als ausreichend anerkannt, das Schlechte nicht be¬
schönigt, aber das Verheißungsvolle soll gepflegt und womöglich zum Guten
geleitet werden. Der Einzelne, der dem Theaterleben obenein nur als Betrachter
uahezustehen scheint, kann freilich nichts andres thun als reden, und vielleicht
ein- oder das andremal raten; aber es ist hier, wo alles wild nud wirr durch-
eiucmderjagt, wo die buntesten Anschauungen und Ansprüche herrschen, schon


Neue Theaterstücke.

besucht die Museen und Ausstellungen, weil man weiß, daß dort eine Fülle von
Anregungen geboten wird und in jedem Falle wenigstens einige Kunstwerke der
Art sind, daß man sich nur schwer von ihnen losreißen mag. Aber zu welchem
Zwecke soll man ins Theater gehen? Soll man sich ein Stück, das dem ge¬
schmacklosen Herrn Direkter mit seinen Regisseuren gefallen hat, von Leuten
vorführen lassen, die ebenfalls mit Behagen den Quark breit treten? Soll man
bestenfalls irgend eine nach der Schablone gearbeitete Jambentragödie, in welcher
schlechtgehobelte Puppen die ungehobelten Verse des Sö-lva poris. Dichters rade-
brechcn, in sich aufnehmen, um acht Nächte lang am Alpdrücken zu leiden?

Wir stehen hier vor dem, was den Kern aller Theaterklagen bildet: ob
sie auch in der Gegenwart berechtigt sind? Sie müssen doch wohl einen Kern
von Berechtigung haben, weil sonst jene Entbehrenden nicht klagen oder vielmehr
dem Theater nicht so gleichgiltig gegenüber stehen würden.

Da uns aber mit leeren Klagen nicht geholfen wird, da wir uus obendrein
bereits darüber klar geworden sind, daß die Verhältnisse von heute durchaus
besser sind, als die von gestern und vorgestern, und nur uoch lauge nicht so,
wie sie morgen und übermorgen hoffentlich sein werden, da wir zu alledem der Über¬
zeugung leben, daß eine Anstalt wie das Theater, welchem die edelsten Geister
der Nation seit langer Zeit ihre, wenn auch meist unfruchtbare und uubelohnte
Liebe zugewandt haben, durchaus ein wesentlicher Kulturfaktor ist, der der
ernstesten Aufmerksamkeit, namentlich der führenden Kreise der Nation, würdig
erscheint, so wird es keine unnütze Mühe sein, wenn wir das Leben und Treiben
dieser Anstalt wenigstens an der sichtbarsten Stelle des Reiches mit aufrichtiger
Liebe verfolgen, um zu erkennen, wie weit jene Klagen auch heute noch be¬
rechtigt sind, und ob nicht am Ende doch schon unter dem welken Lanbe, das
die Vergangenheit uus hinterlassen hat, die Keime grünen, welche den kommenden
Frühling verkünden. Alles Gute muß sich entwickeln; wie wir nichts vom
Himmel herabreißcn können, um uns damit zu schmücken, wie die Rosen nicht
aus den Wolken in unsre Gurten fallen, sondern aus dem Boden emporblühen,
so muß auch die Kunst von unten auf zu Kräften nud zur Entfaltung kommen.
Der dramatischen Kunst vor allem kann kein Segen aus Bestrebungen erwachsen,
welche das Vorhandene von Grund aus bestreiten. Wenn wir die wilden, die
ungezogenen und zur „Entartung" neigenden Kinder töten wollten, so würden
wir keine würdigen Männer großziehen. Von diesem Gesichtspunkte ans wird
auch die dramatische Kunst oder das, was dieselbe vertritt, zu betrachten sein.
Das Unzulängliche soll nicht als ausreichend anerkannt, das Schlechte nicht be¬
schönigt, aber das Verheißungsvolle soll gepflegt und womöglich zum Guten
geleitet werden. Der Einzelne, der dem Theaterleben obenein nur als Betrachter
uahezustehen scheint, kann freilich nichts andres thun als reden, und vielleicht
ein- oder das andremal raten; aber es ist hier, wo alles wild nud wirr durch-
eiucmderjagt, wo die buntesten Anschauungen und Ansprüche herrschen, schon


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[0294] Neue Theaterstücke. besucht die Museen und Ausstellungen, weil man weiß, daß dort eine Fülle von Anregungen geboten wird und in jedem Falle wenigstens einige Kunstwerke der Art sind, daß man sich nur schwer von ihnen losreißen mag. Aber zu welchem Zwecke soll man ins Theater gehen? Soll man sich ein Stück, das dem ge¬ schmacklosen Herrn Direkter mit seinen Regisseuren gefallen hat, von Leuten vorführen lassen, die ebenfalls mit Behagen den Quark breit treten? Soll man bestenfalls irgend eine nach der Schablone gearbeitete Jambentragödie, in welcher schlechtgehobelte Puppen die ungehobelten Verse des Sö-lva poris. Dichters rade- brechcn, in sich aufnehmen, um acht Nächte lang am Alpdrücken zu leiden? Wir stehen hier vor dem, was den Kern aller Theaterklagen bildet: ob sie auch in der Gegenwart berechtigt sind? Sie müssen doch wohl einen Kern von Berechtigung haben, weil sonst jene Entbehrenden nicht klagen oder vielmehr dem Theater nicht so gleichgiltig gegenüber stehen würden. Da uns aber mit leeren Klagen nicht geholfen wird, da wir uus obendrein bereits darüber klar geworden sind, daß die Verhältnisse von heute durchaus besser sind, als die von gestern und vorgestern, und nur uoch lauge nicht so, wie sie morgen und übermorgen hoffentlich sein werden, da wir zu alledem der Über¬ zeugung leben, daß eine Anstalt wie das Theater, welchem die edelsten Geister der Nation seit langer Zeit ihre, wenn auch meist unfruchtbare und uubelohnte Liebe zugewandt haben, durchaus ein wesentlicher Kulturfaktor ist, der der ernstesten Aufmerksamkeit, namentlich der führenden Kreise der Nation, würdig erscheint, so wird es keine unnütze Mühe sein, wenn wir das Leben und Treiben dieser Anstalt wenigstens an der sichtbarsten Stelle des Reiches mit aufrichtiger Liebe verfolgen, um zu erkennen, wie weit jene Klagen auch heute noch be¬ rechtigt sind, und ob nicht am Ende doch schon unter dem welken Lanbe, das die Vergangenheit uus hinterlassen hat, die Keime grünen, welche den kommenden Frühling verkünden. Alles Gute muß sich entwickeln; wie wir nichts vom Himmel herabreißcn können, um uns damit zu schmücken, wie die Rosen nicht aus den Wolken in unsre Gurten fallen, sondern aus dem Boden emporblühen, so muß auch die Kunst von unten auf zu Kräften nud zur Entfaltung kommen. Der dramatischen Kunst vor allem kann kein Segen aus Bestrebungen erwachsen, welche das Vorhandene von Grund aus bestreiten. Wenn wir die wilden, die ungezogenen und zur „Entartung" neigenden Kinder töten wollten, so würden wir keine würdigen Männer großziehen. Von diesem Gesichtspunkte ans wird auch die dramatische Kunst oder das, was dieselbe vertritt, zu betrachten sein. Das Unzulängliche soll nicht als ausreichend anerkannt, das Schlechte nicht be¬ schönigt, aber das Verheißungsvolle soll gepflegt und womöglich zum Guten geleitet werden. Der Einzelne, der dem Theaterleben obenein nur als Betrachter uahezustehen scheint, kann freilich nichts andres thun als reden, und vielleicht ein- oder das andremal raten; aber es ist hier, wo alles wild nud wirr durch- eiucmderjagt, wo die buntesten Anschauungen und Ansprüche herrschen, schon

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/294>, abgerufen am 27.09.2024.