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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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Neue Theaterstücke.

Die Widersprüche sind so grell wie möglich. Nun klagen aber gar die
Theaterleiter selbst, daß sie keine vernünftigen Stücke bekommen können, daß
das Gute, ja nur das Brauchbare von Jahr zu Jahr seltener werde, während
zugleich von allen Seiten das Toben der Schriftsteller über die Faulheit
und Urteilslosigkeit dieser beklagenswerten Direktoren lauter und lauter wird.
Was soll der außerhalb dieses vielstimmigen Lärmes stehende Beobachter zu
alledem sagen? Auch Goethe klagte 1795: "Alles will schreiben und schreibt,
und wir leiden auf dem Theater die bitterste Not"; und doch ließ der notleidende
Intendant ein Talent wie den unglücklichen Heinrich von Kleist nicht nur un¬
beachtet, er that sogar sein Möglichstes, ihm durch einen unzweideutigen Durchfall
allen Mut zu benehmen!

Werden wir uns also nur zunächst einmal darüber klar, daß die Theater-
Verhältnisse jedenfalls zu keiner Zeit besser gewesen sind als heute, daß sie heute
wenigstens kein trostloseres Bild darbieten als früher.

Aber sind sie nicht vielleicht schon deshalb trostloser, weil wir vor sechzehn
Jahren eine Nation geworden sind? Wenn vor hundert Jahren der "gutherzige
Einfall," den Deutschen ein Nationaltheater zu schaffen, scheiterte, so lag das,
wie es scheint, daran, daß es keine deutsche Nation gab; diese Entschuldigung
dürfen wir heute jedoch nicht mehr anwenden: wir sind eine Nation, wir be¬
sitzen sogar eine Hauptstadt, deren Einwohnerzahl die Million bereits über¬
schritten hat. Unser Nationalbewußtsein ist so stark geworden, daß man es
bisweilen fast weniger stark wünschen möchte. Aber ob auch wirklich "Theater"
und "Nation" zwei sich sozusagen deckende Begriffe sind? Griechenland war
eigentlich nie eine Nation (Staat), und doch soll in Athen das Theater geblüht
haben. Rom war der mächtigste Staat, aber das römische Theater blieb immer
elend. Die spanische Bühne leistete ihr Bestes, als die Nation von ihrer Höhe
hinabgesunken war. Es scheint demnach, als ob die witzige Bemerkung Lessings
nicht viel mehr als eben eine witzige Bemerkung gewesen sei, die für den Tag
ihre Pflicht that.*) Der Begriff "Nation" dürfte wohl auch mit der Kunst
nichts zu schaffen haben. Das Gemeinwesen ist allerdings eine wichtige Vor¬
bedingung für jede Kunst, welche sich an die Gesellschaft wendet; aber dieses
Gemeinwesen bleibt auf engere Kreise beschränkt und kann als größere oder
große Stadt blühen, wenn Blütcnkeime in ihr vorhanden sind. Diese Blütenkeime
müssen jedoch vor allen Dingen wirklich vorhanden sein; sind sie da, so werden
sie sich entwickeln, wenn die Verhältnisse günstig sind. Für die Kunst und ihre



Schon Nicolai meinte: "Lessing thut Hamburg wirklich Unrecht. Nicht das Ham¬
burgische Publikum, sondern große Fehler in der innern Verwaltung der sogenannten aka¬
demischen Schaubühne, falsche Maßregeln und Mißverständnisse maucher Art waren schuld,
daß diese Unternehmung bald fallen mußte. Ich weiß nicht, was das Wort "Nationaltheater"
bedeuten soll; aber ein sehr vorzügliches Theater zu besitzen ist Hamburg gewiß der erste Ort
in Deutschland."
Neue Theaterstücke.

Die Widersprüche sind so grell wie möglich. Nun klagen aber gar die
Theaterleiter selbst, daß sie keine vernünftigen Stücke bekommen können, daß
das Gute, ja nur das Brauchbare von Jahr zu Jahr seltener werde, während
zugleich von allen Seiten das Toben der Schriftsteller über die Faulheit
und Urteilslosigkeit dieser beklagenswerten Direktoren lauter und lauter wird.
Was soll der außerhalb dieses vielstimmigen Lärmes stehende Beobachter zu
alledem sagen? Auch Goethe klagte 1795: „Alles will schreiben und schreibt,
und wir leiden auf dem Theater die bitterste Not"; und doch ließ der notleidende
Intendant ein Talent wie den unglücklichen Heinrich von Kleist nicht nur un¬
beachtet, er that sogar sein Möglichstes, ihm durch einen unzweideutigen Durchfall
allen Mut zu benehmen!

Werden wir uns also nur zunächst einmal darüber klar, daß die Theater-
Verhältnisse jedenfalls zu keiner Zeit besser gewesen sind als heute, daß sie heute
wenigstens kein trostloseres Bild darbieten als früher.

Aber sind sie nicht vielleicht schon deshalb trostloser, weil wir vor sechzehn
Jahren eine Nation geworden sind? Wenn vor hundert Jahren der „gutherzige
Einfall," den Deutschen ein Nationaltheater zu schaffen, scheiterte, so lag das,
wie es scheint, daran, daß es keine deutsche Nation gab; diese Entschuldigung
dürfen wir heute jedoch nicht mehr anwenden: wir sind eine Nation, wir be¬
sitzen sogar eine Hauptstadt, deren Einwohnerzahl die Million bereits über¬
schritten hat. Unser Nationalbewußtsein ist so stark geworden, daß man es
bisweilen fast weniger stark wünschen möchte. Aber ob auch wirklich „Theater"
und „Nation" zwei sich sozusagen deckende Begriffe sind? Griechenland war
eigentlich nie eine Nation (Staat), und doch soll in Athen das Theater geblüht
haben. Rom war der mächtigste Staat, aber das römische Theater blieb immer
elend. Die spanische Bühne leistete ihr Bestes, als die Nation von ihrer Höhe
hinabgesunken war. Es scheint demnach, als ob die witzige Bemerkung Lessings
nicht viel mehr als eben eine witzige Bemerkung gewesen sei, die für den Tag
ihre Pflicht that.*) Der Begriff „Nation" dürfte wohl auch mit der Kunst
nichts zu schaffen haben. Das Gemeinwesen ist allerdings eine wichtige Vor¬
bedingung für jede Kunst, welche sich an die Gesellschaft wendet; aber dieses
Gemeinwesen bleibt auf engere Kreise beschränkt und kann als größere oder
große Stadt blühen, wenn Blütcnkeime in ihr vorhanden sind. Diese Blütenkeime
müssen jedoch vor allen Dingen wirklich vorhanden sein; sind sie da, so werden
sie sich entwickeln, wenn die Verhältnisse günstig sind. Für die Kunst und ihre



Schon Nicolai meinte: „Lessing thut Hamburg wirklich Unrecht. Nicht das Ham¬
burgische Publikum, sondern große Fehler in der innern Verwaltung der sogenannten aka¬
demischen Schaubühne, falsche Maßregeln und Mißverständnisse maucher Art waren schuld,
daß diese Unternehmung bald fallen mußte. Ich weiß nicht, was das Wort »Nationaltheater«
bedeuten soll; aber ein sehr vorzügliches Theater zu besitzen ist Hamburg gewiß der erste Ort
in Deutschland."
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[0292] Neue Theaterstücke. Die Widersprüche sind so grell wie möglich. Nun klagen aber gar die Theaterleiter selbst, daß sie keine vernünftigen Stücke bekommen können, daß das Gute, ja nur das Brauchbare von Jahr zu Jahr seltener werde, während zugleich von allen Seiten das Toben der Schriftsteller über die Faulheit und Urteilslosigkeit dieser beklagenswerten Direktoren lauter und lauter wird. Was soll der außerhalb dieses vielstimmigen Lärmes stehende Beobachter zu alledem sagen? Auch Goethe klagte 1795: „Alles will schreiben und schreibt, und wir leiden auf dem Theater die bitterste Not"; und doch ließ der notleidende Intendant ein Talent wie den unglücklichen Heinrich von Kleist nicht nur un¬ beachtet, er that sogar sein Möglichstes, ihm durch einen unzweideutigen Durchfall allen Mut zu benehmen! Werden wir uns also nur zunächst einmal darüber klar, daß die Theater- Verhältnisse jedenfalls zu keiner Zeit besser gewesen sind als heute, daß sie heute wenigstens kein trostloseres Bild darbieten als früher. Aber sind sie nicht vielleicht schon deshalb trostloser, weil wir vor sechzehn Jahren eine Nation geworden sind? Wenn vor hundert Jahren der „gutherzige Einfall," den Deutschen ein Nationaltheater zu schaffen, scheiterte, so lag das, wie es scheint, daran, daß es keine deutsche Nation gab; diese Entschuldigung dürfen wir heute jedoch nicht mehr anwenden: wir sind eine Nation, wir be¬ sitzen sogar eine Hauptstadt, deren Einwohnerzahl die Million bereits über¬ schritten hat. Unser Nationalbewußtsein ist so stark geworden, daß man es bisweilen fast weniger stark wünschen möchte. Aber ob auch wirklich „Theater" und „Nation" zwei sich sozusagen deckende Begriffe sind? Griechenland war eigentlich nie eine Nation (Staat), und doch soll in Athen das Theater geblüht haben. Rom war der mächtigste Staat, aber das römische Theater blieb immer elend. Die spanische Bühne leistete ihr Bestes, als die Nation von ihrer Höhe hinabgesunken war. Es scheint demnach, als ob die witzige Bemerkung Lessings nicht viel mehr als eben eine witzige Bemerkung gewesen sei, die für den Tag ihre Pflicht that.*) Der Begriff „Nation" dürfte wohl auch mit der Kunst nichts zu schaffen haben. Das Gemeinwesen ist allerdings eine wichtige Vor¬ bedingung für jede Kunst, welche sich an die Gesellschaft wendet; aber dieses Gemeinwesen bleibt auf engere Kreise beschränkt und kann als größere oder große Stadt blühen, wenn Blütcnkeime in ihr vorhanden sind. Diese Blütenkeime müssen jedoch vor allen Dingen wirklich vorhanden sein; sind sie da, so werden sie sich entwickeln, wenn die Verhältnisse günstig sind. Für die Kunst und ihre Schon Nicolai meinte: „Lessing thut Hamburg wirklich Unrecht. Nicht das Ham¬ burgische Publikum, sondern große Fehler in der innern Verwaltung der sogenannten aka¬ demischen Schaubühne, falsche Maßregeln und Mißverständnisse maucher Art waren schuld, daß diese Unternehmung bald fallen mußte. Ich weiß nicht, was das Wort »Nationaltheater« bedeuten soll; aber ein sehr vorzügliches Theater zu besitzen ist Hamburg gewiß der erste Ort in Deutschland."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/292>, abgerufen am 27.09.2024.