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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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Liberal und konservativ.

die Strafen öfters in weitem Umfange dem Ermessen des Richters überlassen
wurden. Wenn nun aber heute manche Richter von dieser liberalen Gesetz¬
gebung in der Art Gebrauch machen, daß sie fast immer auf die mildeste Strafe
erkennen und dadurch das Ansehen der Strafgesetze herabsetzen, kann sich davon
Wahl ein verständiger Liberaler erbaut suhlen?

Eine der tiefsten Einschnitte in die Grundsätze des Liberalismus war das
Socialistengesetz. Visher hatte es als ein unbedingter Glaubenssatz der liberalen
Parteien gegolten, daß Preßfreiheit, sowie Vereins- und Versammlungsrecht
durchweg im Staatsleben bestehen müßten, und daß dieselben auch, mit einigen
Nepressivmaßregeln gehandhabt, keine Gefahren in sich trügen. Da war es
denn ein schwerer Schlag, daß man mit diesem Gesetze plötzlich bekennen sollte:
es geht doch nicht. Bekanntlich war dieses Gesetz die erste Klippe, an welcher
das Schiff der Nationalliberalen ein Leck bekam. Heute giebt es wohl nur
wenige besonnene Männer, die uicht, trotz alles Liberalismus, der Überzeugung
wären, daß das Gesetz leider eine Notwendigkeit sei. Wiederum ein Beweis,
daß man mit abstrakten Prinzipien die Welt nicht regieren kann.

Fast komisch möchte man es nennen, daß ein Teil der Liberalen auch den
"Freihandel" zu seinen unantastbaren Grundsätzen rechnet. Sieht man von
dem Worte "frei" ab, so hat die Frage, ob man bestimmte Waaren für die,
Einfuhr freigeben oder einem Zoll unterwerfen will, mit dem Liberalismus uicht
das mindeste zu thun. Gleichwohl war es die Zollgesetzgebung des Jahres 1879,
welche in deu Bestand der nationalliberalen Partei einen neuen Riß brachte.

Dennoch würde es vielleicht nicht zu der verhängnisvollen Trennung der
Partei gekommen sein, wenn nicht in deren Kreisen ein geheimes Weh geherrscht
Hütte. Das war die Thatsache, daß der Reichskanzler das vom Liberalismus
von alters her auf sein Programm geschriebene Verlangen einer parlamenta¬
rischen Regierung zu erfüllen andauernd sich weigerte. Nach jahrelangem Langen
und Bangen hatte man im Jahre 1873 geglaubt, dieses Ziel mindestens that¬
sächlich erreicht zu haben. Da schwand es wieder vor den Blicken der Hoff¬
nungsreichen wie eine Fata Morgana. Das war für einen Teil der Liberalen,
welche bisher die Negierung gestützt hatten, zu viel. Sie trennten sich von der
uatioualliberaleu Partei nud gingen nach einem kurzen Zwischenstadium zur
Fortschrittspartei, d. h. zur grundsätzlichen Opposition, über. So ist denn bis
auf den heutigen Tag das liberale Prinzip der parlamentarischen Regierung
bei uns nicht zur Geltung gekommen. Aber wir fragen jeden Besonnenen:
Würden die deutschen Zustünde sich wohl besser gestaltet haben, wenn in buntem
Wechsel die Herren von Kleist-Netzow, Windthorst, Laster, Richter, vielleicht
auch Bebel einmal die öffentlichen Dinge geleitet hätten? Die Zustände der
Länder, in welchen eine parlamentarische Negierung herrscht, bieten mit ihren
ständigen Miuisterwcchselu, abgesehen von der darin liegenden Befriedigung ein¬
zelner, doch in der That nichts verlockendes.


Liberal und konservativ.

die Strafen öfters in weitem Umfange dem Ermessen des Richters überlassen
wurden. Wenn nun aber heute manche Richter von dieser liberalen Gesetz¬
gebung in der Art Gebrauch machen, daß sie fast immer auf die mildeste Strafe
erkennen und dadurch das Ansehen der Strafgesetze herabsetzen, kann sich davon
Wahl ein verständiger Liberaler erbaut suhlen?

Eine der tiefsten Einschnitte in die Grundsätze des Liberalismus war das
Socialistengesetz. Visher hatte es als ein unbedingter Glaubenssatz der liberalen
Parteien gegolten, daß Preßfreiheit, sowie Vereins- und Versammlungsrecht
durchweg im Staatsleben bestehen müßten, und daß dieselben auch, mit einigen
Nepressivmaßregeln gehandhabt, keine Gefahren in sich trügen. Da war es
denn ein schwerer Schlag, daß man mit diesem Gesetze plötzlich bekennen sollte:
es geht doch nicht. Bekanntlich war dieses Gesetz die erste Klippe, an welcher
das Schiff der Nationalliberalen ein Leck bekam. Heute giebt es wohl nur
wenige besonnene Männer, die uicht, trotz alles Liberalismus, der Überzeugung
wären, daß das Gesetz leider eine Notwendigkeit sei. Wiederum ein Beweis,
daß man mit abstrakten Prinzipien die Welt nicht regieren kann.

Fast komisch möchte man es nennen, daß ein Teil der Liberalen auch den
„Freihandel" zu seinen unantastbaren Grundsätzen rechnet. Sieht man von
dem Worte „frei" ab, so hat die Frage, ob man bestimmte Waaren für die,
Einfuhr freigeben oder einem Zoll unterwerfen will, mit dem Liberalismus uicht
das mindeste zu thun. Gleichwohl war es die Zollgesetzgebung des Jahres 1879,
welche in deu Bestand der nationalliberalen Partei einen neuen Riß brachte.

Dennoch würde es vielleicht nicht zu der verhängnisvollen Trennung der
Partei gekommen sein, wenn nicht in deren Kreisen ein geheimes Weh geherrscht
Hütte. Das war die Thatsache, daß der Reichskanzler das vom Liberalismus
von alters her auf sein Programm geschriebene Verlangen einer parlamenta¬
rischen Regierung zu erfüllen andauernd sich weigerte. Nach jahrelangem Langen
und Bangen hatte man im Jahre 1873 geglaubt, dieses Ziel mindestens that¬
sächlich erreicht zu haben. Da schwand es wieder vor den Blicken der Hoff¬
nungsreichen wie eine Fata Morgana. Das war für einen Teil der Liberalen,
welche bisher die Negierung gestützt hatten, zu viel. Sie trennten sich von der
uatioualliberaleu Partei nud gingen nach einem kurzen Zwischenstadium zur
Fortschrittspartei, d. h. zur grundsätzlichen Opposition, über. So ist denn bis
auf den heutigen Tag das liberale Prinzip der parlamentarischen Regierung
bei uns nicht zur Geltung gekommen. Aber wir fragen jeden Besonnenen:
Würden die deutschen Zustünde sich wohl besser gestaltet haben, wenn in buntem
Wechsel die Herren von Kleist-Netzow, Windthorst, Laster, Richter, vielleicht
auch Bebel einmal die öffentlichen Dinge geleitet hätten? Die Zustände der
Länder, in welchen eine parlamentarische Negierung herrscht, bieten mit ihren
ständigen Miuisterwcchselu, abgesehen von der darin liegenden Befriedigung ein¬
zelner, doch in der That nichts verlockendes.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/260>, abgerufen am 27.09.2024.