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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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Liberal und konservativ.

Freiheit mit der Sicherheit und Wohlfahrt des Staates verträglich sei, lassen
sich verschiedne Ansichten hegen, und es haben sich auch öfters Meinungsver¬
schiedenheiten darüber ergeben. Aber wer kann sich rühmen, daß ihm eine po¬
litische Rechenkunst zu Gebote stehe, welche diese Frage unbedingt beherrsche?
Am allerwenigsten läßt sie sich beherrschen mit abstrakten Prinzipien. Und in
der Befreiung von einer solchen Prinzipicnherrschast liegt zum erheblichen Teile
die Größe der Staatskunst unsers deutschen Staatsmannes.

Schon bei der ersten Berufung des norddeutschen Reichstages wurde alle
Welt überrascht durch Gewährung des allgemeinen Stimmrechts mit geheimer
Abstimmung -- einer der weitestgehenden Wünsche des Liberalismus. Dem "libe¬
ralen" Ansprüche auf Gewährung von Diäten für die Neichstagsnütglicder trat
dagegen bis auf den heutigen Tag der Reichskanzler entschieden entgegen. Eine
Reihe von Jahren hindurch hat der nach diesem Wahlsystem berufene Reichstag
unbestreitbar eine würdige Vertretung des deutschen Volkes dargestellt. Wer
aber den heutigen Reichstag betrachtet, wird vielleicht auch als liberaler Mann
den Zweifel kaum unterdrücken können, ob man nicht schon mit Gewährung
des allgemeinen Stimmrechts ein Fehler begangen habe? Und wie würde der
Reichstag erst aussehen, wenn daneben noch Diäten gewährt und damit noch
ein weiterer Anreiz in die Wahlagitation hineingeworfen wäre?

Die ganze Gesetzgebung aus der Zeit des Norddeutschen Bundes und der
ersten Periode des deutschen Reiches atmet einen durchaus liberalen Geist. Eine
große Menge der Forderungen des liberalen Programms ist durch dieselbe
erfüllt worden. Bei einzelnen Dingen hat freilich der Reichskanzler beharrlichen
Widerstand geleistet. Wird man ihn deshalb tadeln wollen? Kann man z. B.
behaupten, es sei ein Fehler gewesen, daß der liberalen Forderung: Abschaffung
der Todesstrafe, nicht nachgegeben worden sei? Wir möchten fast glauben,
daß manche Liberale selbst im Laufe der Zeit an diesem Axiom zweifelhaft ge¬
worden seien.

Im allgemeinen kann man unbedenklich sagen, daß die Gesetzgebung jener
Periode sich bewährt hat. Gleichwohl hat mau in einzelnen Punkten, wo man
mit dem Liberalismus zu weit gegangen war, bereits korrigiren müssen. Aber
auch in solchen Dingen, die wir als bewährt betrachten und nicht wieder auf¬
geben möchten, hat es sich vielfach gezeigt, daß die Sache doch ihre zwei Seiten
hat, und daß den gewonnenen Vorteilen anch manche Nachteile gegenüberstehen,
welche die Vorteile nicht als reinen Gewinn erscheinen lassen. Auch diese Er¬
kenntnis ist geeignet gewesen, darüber zu belehren, daß der Liberalismus doch
nicht das alleinseligmachende Prinzip ist. Sie hat namentlich die Folge ge¬
habt, daß heute der Liberalismus in der großen Masse unsers Volkes bei weitem
nicht mehr die unbedingte Anerkennung findet, deren er sich noch vor einem
Vierteljahrhundert erfreute. Dem liberalen Prinzip entsprach es z. B., daß in
dem Strafgesetzbuch, um die Möglichkeit milderer Bestrafungen herbeizuführen,


Liberal und konservativ.

Freiheit mit der Sicherheit und Wohlfahrt des Staates verträglich sei, lassen
sich verschiedne Ansichten hegen, und es haben sich auch öfters Meinungsver¬
schiedenheiten darüber ergeben. Aber wer kann sich rühmen, daß ihm eine po¬
litische Rechenkunst zu Gebote stehe, welche diese Frage unbedingt beherrsche?
Am allerwenigsten läßt sie sich beherrschen mit abstrakten Prinzipien. Und in
der Befreiung von einer solchen Prinzipicnherrschast liegt zum erheblichen Teile
die Größe der Staatskunst unsers deutschen Staatsmannes.

Schon bei der ersten Berufung des norddeutschen Reichstages wurde alle
Welt überrascht durch Gewährung des allgemeinen Stimmrechts mit geheimer
Abstimmung — einer der weitestgehenden Wünsche des Liberalismus. Dem „libe¬
ralen" Ansprüche auf Gewährung von Diäten für die Neichstagsnütglicder trat
dagegen bis auf den heutigen Tag der Reichskanzler entschieden entgegen. Eine
Reihe von Jahren hindurch hat der nach diesem Wahlsystem berufene Reichstag
unbestreitbar eine würdige Vertretung des deutschen Volkes dargestellt. Wer
aber den heutigen Reichstag betrachtet, wird vielleicht auch als liberaler Mann
den Zweifel kaum unterdrücken können, ob man nicht schon mit Gewährung
des allgemeinen Stimmrechts ein Fehler begangen habe? Und wie würde der
Reichstag erst aussehen, wenn daneben noch Diäten gewährt und damit noch
ein weiterer Anreiz in die Wahlagitation hineingeworfen wäre?

Die ganze Gesetzgebung aus der Zeit des Norddeutschen Bundes und der
ersten Periode des deutschen Reiches atmet einen durchaus liberalen Geist. Eine
große Menge der Forderungen des liberalen Programms ist durch dieselbe
erfüllt worden. Bei einzelnen Dingen hat freilich der Reichskanzler beharrlichen
Widerstand geleistet. Wird man ihn deshalb tadeln wollen? Kann man z. B.
behaupten, es sei ein Fehler gewesen, daß der liberalen Forderung: Abschaffung
der Todesstrafe, nicht nachgegeben worden sei? Wir möchten fast glauben,
daß manche Liberale selbst im Laufe der Zeit an diesem Axiom zweifelhaft ge¬
worden seien.

Im allgemeinen kann man unbedenklich sagen, daß die Gesetzgebung jener
Periode sich bewährt hat. Gleichwohl hat mau in einzelnen Punkten, wo man
mit dem Liberalismus zu weit gegangen war, bereits korrigiren müssen. Aber
auch in solchen Dingen, die wir als bewährt betrachten und nicht wieder auf¬
geben möchten, hat es sich vielfach gezeigt, daß die Sache doch ihre zwei Seiten
hat, und daß den gewonnenen Vorteilen anch manche Nachteile gegenüberstehen,
welche die Vorteile nicht als reinen Gewinn erscheinen lassen. Auch diese Er¬
kenntnis ist geeignet gewesen, darüber zu belehren, daß der Liberalismus doch
nicht das alleinseligmachende Prinzip ist. Sie hat namentlich die Folge ge¬
habt, daß heute der Liberalismus in der großen Masse unsers Volkes bei weitem
nicht mehr die unbedingte Anerkennung findet, deren er sich noch vor einem
Vierteljahrhundert erfreute. Dem liberalen Prinzip entsprach es z. B., daß in
dem Strafgesetzbuch, um die Möglichkeit milderer Bestrafungen herbeizuführen,


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[0259] Liberal und konservativ. Freiheit mit der Sicherheit und Wohlfahrt des Staates verträglich sei, lassen sich verschiedne Ansichten hegen, und es haben sich auch öfters Meinungsver¬ schiedenheiten darüber ergeben. Aber wer kann sich rühmen, daß ihm eine po¬ litische Rechenkunst zu Gebote stehe, welche diese Frage unbedingt beherrsche? Am allerwenigsten läßt sie sich beherrschen mit abstrakten Prinzipien. Und in der Befreiung von einer solchen Prinzipicnherrschast liegt zum erheblichen Teile die Größe der Staatskunst unsers deutschen Staatsmannes. Schon bei der ersten Berufung des norddeutschen Reichstages wurde alle Welt überrascht durch Gewährung des allgemeinen Stimmrechts mit geheimer Abstimmung — einer der weitestgehenden Wünsche des Liberalismus. Dem „libe¬ ralen" Ansprüche auf Gewährung von Diäten für die Neichstagsnütglicder trat dagegen bis auf den heutigen Tag der Reichskanzler entschieden entgegen. Eine Reihe von Jahren hindurch hat der nach diesem Wahlsystem berufene Reichstag unbestreitbar eine würdige Vertretung des deutschen Volkes dargestellt. Wer aber den heutigen Reichstag betrachtet, wird vielleicht auch als liberaler Mann den Zweifel kaum unterdrücken können, ob man nicht schon mit Gewährung des allgemeinen Stimmrechts ein Fehler begangen habe? Und wie würde der Reichstag erst aussehen, wenn daneben noch Diäten gewährt und damit noch ein weiterer Anreiz in die Wahlagitation hineingeworfen wäre? Die ganze Gesetzgebung aus der Zeit des Norddeutschen Bundes und der ersten Periode des deutschen Reiches atmet einen durchaus liberalen Geist. Eine große Menge der Forderungen des liberalen Programms ist durch dieselbe erfüllt worden. Bei einzelnen Dingen hat freilich der Reichskanzler beharrlichen Widerstand geleistet. Wird man ihn deshalb tadeln wollen? Kann man z. B. behaupten, es sei ein Fehler gewesen, daß der liberalen Forderung: Abschaffung der Todesstrafe, nicht nachgegeben worden sei? Wir möchten fast glauben, daß manche Liberale selbst im Laufe der Zeit an diesem Axiom zweifelhaft ge¬ worden seien. Im allgemeinen kann man unbedenklich sagen, daß die Gesetzgebung jener Periode sich bewährt hat. Gleichwohl hat mau in einzelnen Punkten, wo man mit dem Liberalismus zu weit gegangen war, bereits korrigiren müssen. Aber auch in solchen Dingen, die wir als bewährt betrachten und nicht wieder auf¬ geben möchten, hat es sich vielfach gezeigt, daß die Sache doch ihre zwei Seiten hat, und daß den gewonnenen Vorteilen anch manche Nachteile gegenüberstehen, welche die Vorteile nicht als reinen Gewinn erscheinen lassen. Auch diese Er¬ kenntnis ist geeignet gewesen, darüber zu belehren, daß der Liberalismus doch nicht das alleinseligmachende Prinzip ist. Sie hat namentlich die Folge ge¬ habt, daß heute der Liberalismus in der großen Masse unsers Volkes bei weitem nicht mehr die unbedingte Anerkennung findet, deren er sich noch vor einem Vierteljahrhundert erfreute. Dem liberalen Prinzip entsprach es z. B., daß in dem Strafgesetzbuch, um die Möglichkeit milderer Bestrafungen herbeizuführen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/259>, abgerufen am 27.09.2024.