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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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Liberal und konservativ.

einer Mittelpartei sollten die Nationallibemlcn umso weniger ablehnen, als man
ihnen in der That zurufen kann: In Iioo 8iMo viueos.

Wir möchten an diese Vorgänge eine allgemeine Betrachtung knüpfen,
deren Thema wir mit den Worten bezeichnen: Der Gegensatz von liberal und
konservativ hat in den heutigen Verhältnissen seine entscheidende Bedeutung ver¬
loren. Die Ansichten über die Berechtigung beider Richtungen haben sich der¬
gestalt geklärt, daß kein Verständiger die eine oder die andre zur ausschließlichen
Geltung wird bringen wollen.

Es hat allerdings in diesem Jahrhundert eine Reihe von Jahren gegeben,
in welchen die deutschen Regierungen cngherzigerweisc mir darauf bedacht
waren, in ihrer Hand die Negierungsrechte zu häufen und jede freiheitliche
Regung des Volkslebens zu unterdrücken. Während dieser Perioden konnten
sich viele, indem sie gegen diese vorherrschende Richtung ankämpften, mit be¬
rechtigtem Stolze "Liberale" nennen. Dieser Liberalismus wurde auch damals
von der großen Masse des Volkes getragen. Natürlich stellte derselbe den be¬
stehenden Zuständen gegenüber mehr oder minder bestimmte Anforderungen, und
so entstand eine Art liberalen Programms, welches das Glaubensbekenntnis
aller Durchschnitts-Liberalen bildete.

Der letzte große Kampf, der vom Standpunkte dieses -- man darf sagen
einseitigen Liberalismus geführt wurde, war der preußische Verfassungs¬
konflikt. Ihm lag der Glaube zu Grunde, daß die Regierung bei ihren Anfor¬
derungen nichts andres bezwecke, als die Erweiterung ihrer Machtmittel dem
eignen Volke gegenüber. Daß sie hochpolitische Ziele im Auge habe, welche
einen wesentlichen Teil des liberalen Programms selbst erfüllen sollten, konnte
man sich nicht denken. So ging denn der Liberalismus gleichsam mit ge¬
schlossenen Augen in diesen Kampf hinein.

Die Schlacht von Königgrätz wurde geschlagen. In dem Jndemnitäts-
gesctze sammelte die Regierung feurige Kohlen auf das Haupt des Liberalismus.
Schon nach dem Ausgange dieses Kampfes mußte sich jeder unbefangen Denkende
mindestens im Stillen sagen, daß der Liberalismus doch nicht der Güter höchstes
im Staatsleben sei.

In dem konftituirendcn Reichstage that Graf Vismcirck eine Äußerung,
die im allgemeinen zu wenig Beachtung gefunden hat. Er sagte in
seiner Antwort auf eine Rede des Abgeordneten Laster am 27. März 1L67:
"Ich teile die Überzeugung des Herrn Vorredners, daß den höchsten Grad von
Freiheit des Volkes, des Individuums, der mit der Sicherheit und gemeinsamen
Wohlfahrt des Staates verträglich ist, jederzeit zu erstreben die Pflicht jeder
ehrlichen Negierung ist." Damit war jene alte Regierungspolitik aufgegeben.
Jene Äußerung war im Prinzip das vollständige Programm des Liberalismus.
Und niemand wird behaupten können, daß der Reichskanzler dieses Programm
nicht treulich erfüllt habe. Freilich über die Frage, was an individueller


Liberal und konservativ.

einer Mittelpartei sollten die Nationallibemlcn umso weniger ablehnen, als man
ihnen in der That zurufen kann: In Iioo 8iMo viueos.

Wir möchten an diese Vorgänge eine allgemeine Betrachtung knüpfen,
deren Thema wir mit den Worten bezeichnen: Der Gegensatz von liberal und
konservativ hat in den heutigen Verhältnissen seine entscheidende Bedeutung ver¬
loren. Die Ansichten über die Berechtigung beider Richtungen haben sich der¬
gestalt geklärt, daß kein Verständiger die eine oder die andre zur ausschließlichen
Geltung wird bringen wollen.

Es hat allerdings in diesem Jahrhundert eine Reihe von Jahren gegeben,
in welchen die deutschen Regierungen cngherzigerweisc mir darauf bedacht
waren, in ihrer Hand die Negierungsrechte zu häufen und jede freiheitliche
Regung des Volkslebens zu unterdrücken. Während dieser Perioden konnten
sich viele, indem sie gegen diese vorherrschende Richtung ankämpften, mit be¬
rechtigtem Stolze „Liberale" nennen. Dieser Liberalismus wurde auch damals
von der großen Masse des Volkes getragen. Natürlich stellte derselbe den be¬
stehenden Zuständen gegenüber mehr oder minder bestimmte Anforderungen, und
so entstand eine Art liberalen Programms, welches das Glaubensbekenntnis
aller Durchschnitts-Liberalen bildete.

Der letzte große Kampf, der vom Standpunkte dieses — man darf sagen
einseitigen Liberalismus geführt wurde, war der preußische Verfassungs¬
konflikt. Ihm lag der Glaube zu Grunde, daß die Regierung bei ihren Anfor¬
derungen nichts andres bezwecke, als die Erweiterung ihrer Machtmittel dem
eignen Volke gegenüber. Daß sie hochpolitische Ziele im Auge habe, welche
einen wesentlichen Teil des liberalen Programms selbst erfüllen sollten, konnte
man sich nicht denken. So ging denn der Liberalismus gleichsam mit ge¬
schlossenen Augen in diesen Kampf hinein.

Die Schlacht von Königgrätz wurde geschlagen. In dem Jndemnitäts-
gesctze sammelte die Regierung feurige Kohlen auf das Haupt des Liberalismus.
Schon nach dem Ausgange dieses Kampfes mußte sich jeder unbefangen Denkende
mindestens im Stillen sagen, daß der Liberalismus doch nicht der Güter höchstes
im Staatsleben sei.

In dem konftituirendcn Reichstage that Graf Vismcirck eine Äußerung,
die im allgemeinen zu wenig Beachtung gefunden hat. Er sagte in
seiner Antwort auf eine Rede des Abgeordneten Laster am 27. März 1L67:
„Ich teile die Überzeugung des Herrn Vorredners, daß den höchsten Grad von
Freiheit des Volkes, des Individuums, der mit der Sicherheit und gemeinsamen
Wohlfahrt des Staates verträglich ist, jederzeit zu erstreben die Pflicht jeder
ehrlichen Negierung ist." Damit war jene alte Regierungspolitik aufgegeben.
Jene Äußerung war im Prinzip das vollständige Programm des Liberalismus.
Und niemand wird behaupten können, daß der Reichskanzler dieses Programm
nicht treulich erfüllt habe. Freilich über die Frage, was an individueller


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[0258] Liberal und konservativ. einer Mittelpartei sollten die Nationallibemlcn umso weniger ablehnen, als man ihnen in der That zurufen kann: In Iioo 8iMo viueos. Wir möchten an diese Vorgänge eine allgemeine Betrachtung knüpfen, deren Thema wir mit den Worten bezeichnen: Der Gegensatz von liberal und konservativ hat in den heutigen Verhältnissen seine entscheidende Bedeutung ver¬ loren. Die Ansichten über die Berechtigung beider Richtungen haben sich der¬ gestalt geklärt, daß kein Verständiger die eine oder die andre zur ausschließlichen Geltung wird bringen wollen. Es hat allerdings in diesem Jahrhundert eine Reihe von Jahren gegeben, in welchen die deutschen Regierungen cngherzigerweisc mir darauf bedacht waren, in ihrer Hand die Negierungsrechte zu häufen und jede freiheitliche Regung des Volkslebens zu unterdrücken. Während dieser Perioden konnten sich viele, indem sie gegen diese vorherrschende Richtung ankämpften, mit be¬ rechtigtem Stolze „Liberale" nennen. Dieser Liberalismus wurde auch damals von der großen Masse des Volkes getragen. Natürlich stellte derselbe den be¬ stehenden Zuständen gegenüber mehr oder minder bestimmte Anforderungen, und so entstand eine Art liberalen Programms, welches das Glaubensbekenntnis aller Durchschnitts-Liberalen bildete. Der letzte große Kampf, der vom Standpunkte dieses — man darf sagen einseitigen Liberalismus geführt wurde, war der preußische Verfassungs¬ konflikt. Ihm lag der Glaube zu Grunde, daß die Regierung bei ihren Anfor¬ derungen nichts andres bezwecke, als die Erweiterung ihrer Machtmittel dem eignen Volke gegenüber. Daß sie hochpolitische Ziele im Auge habe, welche einen wesentlichen Teil des liberalen Programms selbst erfüllen sollten, konnte man sich nicht denken. So ging denn der Liberalismus gleichsam mit ge¬ schlossenen Augen in diesen Kampf hinein. Die Schlacht von Königgrätz wurde geschlagen. In dem Jndemnitäts- gesctze sammelte die Regierung feurige Kohlen auf das Haupt des Liberalismus. Schon nach dem Ausgange dieses Kampfes mußte sich jeder unbefangen Denkende mindestens im Stillen sagen, daß der Liberalismus doch nicht der Güter höchstes im Staatsleben sei. In dem konftituirendcn Reichstage that Graf Vismcirck eine Äußerung, die im allgemeinen zu wenig Beachtung gefunden hat. Er sagte in seiner Antwort auf eine Rede des Abgeordneten Laster am 27. März 1L67: „Ich teile die Überzeugung des Herrn Vorredners, daß den höchsten Grad von Freiheit des Volkes, des Individuums, der mit der Sicherheit und gemeinsamen Wohlfahrt des Staates verträglich ist, jederzeit zu erstreben die Pflicht jeder ehrlichen Negierung ist." Damit war jene alte Regierungspolitik aufgegeben. Jene Äußerung war im Prinzip das vollständige Programm des Liberalismus. Und niemand wird behaupten können, daß der Reichskanzler dieses Programm nicht treulich erfüllt habe. Freilich über die Frage, was an individueller

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/258>, abgerufen am 15.01.2025.