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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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Die Ziele der Reform des höhern Schulwesens.

mäßigen Behandlung, der überwiegenden Majorität der Schüler noch immer
mehr behagt, als der mathematisch-naturwissenschaftliche. Denn aus Kindern
werden Leute, und das Bestehen des Gymnasiums rechtfertigt vorläufig noch
jene Behauptung. Auch gelangt man wohl später zu der Erwägung, daß in
der Tretmühle der Gewohnheit die geplanten modernen Schulfächer dieselbe
dürftige Behandlung erfahren würden wie die alten, und daß sie nicht die
innewohnende Kraft und den unzerstörbaren Reiz haben wie jene. Die Ge¬
schichte der Realschule, die auch bezeichnenderweise ursprünglich ein Kompromiß
war und das Schicksal aller Kompromisse teilt, beweist das deutlich.

Die Reformen des Gymnasiums können, so weit sie notwendig sind -- und
welche menschliche Einrichtung erheischt sie nicht? --, wie alle Reformen,
die nicht verhängnisvoll werden sollen, nur aus ihm selbst heraus bewirkt werden.
Und sie siud da, wie der von seinen Gegnern als "unglückselig" verschrieene
Lehrplan von 1882 beweist. Sie werden naturgemäß auch hierbei nicht stehen
bleiben, sondern hoffentlich redlich fortschreiten mit der pädagogischen Erkennt¬
nis der Zeit und den veränderten Verhältnissen der Gesellschaft. Es ist leicht
möglich, daß sie sehr bald mit der großen Umgestaltung abgeschlossen haben
werden, deren deutliche Spuren sich bereits ankündigen: mit der Zweiteilung
unsers Gymnasiums in eine mehr dem praktischen Charakter der Volks- und
Bürgerschule entsprechende untere und eine der höhern Bildung ausschließlich
gewidmete obere Hälfte. Beide würden dennoch zusammengehalten werden durch
den Rahmen der den höhern Ständen gemeinsamen Einheitsschule und würden
sich in Organisation und Methode zusammenschließen. Diese Umgestaltung würde
nur den veränderten Umständen entsprechen, unter denen das Gymnasium heute
erscheint, der Teilnahme breiterer Bcvölkerungsschichten an der höher" Bildung,
der praktischen Bedeutung des Gymnasiums für nichtakademische Reifezeugnisse,
der größern Zahl der Gymnasien, welche sie fast mit Stadtschulen identisch ge¬
macht und teilweise zur Vertretung der Bürgerschulen gezwungen hat. Es be¬
deutet keine geringe Ehre für das Gymnasium, daß all diese Neuerungen sich
auf dasselbe konzentrirt haben, an ihm sich haben vollziehen können. Der Grund
scheint kein äußerlicher und zufälliger. Er liegt gerade in dem scheinbar unprak¬
tischen, aber hoch humanen Endziel des Gymnasiums, dem vornehmen, durch keine
materiellen Rücksichten beirrten Berufe, Menschen zu bilden. Nicht als Vorbereitung
zur Universität in der handgreiflichen Bedeutung ist das Gymnasium aufzufassen,
und man fühlt das wohl. Es will nicht Präpariren auf irgend etwas, was
dort gelehrt wird, sondern es will bilden, damit gelernt werden kann. Nicht
das Gymnasium zielt auf die Universität hin, sondern die Universität, d. h. die
Lchrstätte der höhern menschlichen Berufe, setzt das Gymnasium voraus. Giebt
das Gymnasium diese Stellung auf, so versetzt es sich selbst den Todesstoß,
denn dann ließen sich für jedes einzelne Fach Anstalten denken, die Besseres
leisten, als es in diesem Sinne zu leisten je imstande sein würde. Wird sie ihm


Die Ziele der Reform des höhern Schulwesens.

mäßigen Behandlung, der überwiegenden Majorität der Schüler noch immer
mehr behagt, als der mathematisch-naturwissenschaftliche. Denn aus Kindern
werden Leute, und das Bestehen des Gymnasiums rechtfertigt vorläufig noch
jene Behauptung. Auch gelangt man wohl später zu der Erwägung, daß in
der Tretmühle der Gewohnheit die geplanten modernen Schulfächer dieselbe
dürftige Behandlung erfahren würden wie die alten, und daß sie nicht die
innewohnende Kraft und den unzerstörbaren Reiz haben wie jene. Die Ge¬
schichte der Realschule, die auch bezeichnenderweise ursprünglich ein Kompromiß
war und das Schicksal aller Kompromisse teilt, beweist das deutlich.

Die Reformen des Gymnasiums können, so weit sie notwendig sind — und
welche menschliche Einrichtung erheischt sie nicht? —, wie alle Reformen,
die nicht verhängnisvoll werden sollen, nur aus ihm selbst heraus bewirkt werden.
Und sie siud da, wie der von seinen Gegnern als „unglückselig" verschrieene
Lehrplan von 1882 beweist. Sie werden naturgemäß auch hierbei nicht stehen
bleiben, sondern hoffentlich redlich fortschreiten mit der pädagogischen Erkennt¬
nis der Zeit und den veränderten Verhältnissen der Gesellschaft. Es ist leicht
möglich, daß sie sehr bald mit der großen Umgestaltung abgeschlossen haben
werden, deren deutliche Spuren sich bereits ankündigen: mit der Zweiteilung
unsers Gymnasiums in eine mehr dem praktischen Charakter der Volks- und
Bürgerschule entsprechende untere und eine der höhern Bildung ausschließlich
gewidmete obere Hälfte. Beide würden dennoch zusammengehalten werden durch
den Rahmen der den höhern Ständen gemeinsamen Einheitsschule und würden
sich in Organisation und Methode zusammenschließen. Diese Umgestaltung würde
nur den veränderten Umständen entsprechen, unter denen das Gymnasium heute
erscheint, der Teilnahme breiterer Bcvölkerungsschichten an der höher» Bildung,
der praktischen Bedeutung des Gymnasiums für nichtakademische Reifezeugnisse,
der größern Zahl der Gymnasien, welche sie fast mit Stadtschulen identisch ge¬
macht und teilweise zur Vertretung der Bürgerschulen gezwungen hat. Es be¬
deutet keine geringe Ehre für das Gymnasium, daß all diese Neuerungen sich
auf dasselbe konzentrirt haben, an ihm sich haben vollziehen können. Der Grund
scheint kein äußerlicher und zufälliger. Er liegt gerade in dem scheinbar unprak¬
tischen, aber hoch humanen Endziel des Gymnasiums, dem vornehmen, durch keine
materiellen Rücksichten beirrten Berufe, Menschen zu bilden. Nicht als Vorbereitung
zur Universität in der handgreiflichen Bedeutung ist das Gymnasium aufzufassen,
und man fühlt das wohl. Es will nicht Präpariren auf irgend etwas, was
dort gelehrt wird, sondern es will bilden, damit gelernt werden kann. Nicht
das Gymnasium zielt auf die Universität hin, sondern die Universität, d. h. die
Lchrstätte der höhern menschlichen Berufe, setzt das Gymnasium voraus. Giebt
das Gymnasium diese Stellung auf, so versetzt es sich selbst den Todesstoß,
denn dann ließen sich für jedes einzelne Fach Anstalten denken, die Besseres
leisten, als es in diesem Sinne zu leisten je imstande sein würde. Wird sie ihm


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[0226] Die Ziele der Reform des höhern Schulwesens. mäßigen Behandlung, der überwiegenden Majorität der Schüler noch immer mehr behagt, als der mathematisch-naturwissenschaftliche. Denn aus Kindern werden Leute, und das Bestehen des Gymnasiums rechtfertigt vorläufig noch jene Behauptung. Auch gelangt man wohl später zu der Erwägung, daß in der Tretmühle der Gewohnheit die geplanten modernen Schulfächer dieselbe dürftige Behandlung erfahren würden wie die alten, und daß sie nicht die innewohnende Kraft und den unzerstörbaren Reiz haben wie jene. Die Ge¬ schichte der Realschule, die auch bezeichnenderweise ursprünglich ein Kompromiß war und das Schicksal aller Kompromisse teilt, beweist das deutlich. Die Reformen des Gymnasiums können, so weit sie notwendig sind — und welche menschliche Einrichtung erheischt sie nicht? —, wie alle Reformen, die nicht verhängnisvoll werden sollen, nur aus ihm selbst heraus bewirkt werden. Und sie siud da, wie der von seinen Gegnern als „unglückselig" verschrieene Lehrplan von 1882 beweist. Sie werden naturgemäß auch hierbei nicht stehen bleiben, sondern hoffentlich redlich fortschreiten mit der pädagogischen Erkennt¬ nis der Zeit und den veränderten Verhältnissen der Gesellschaft. Es ist leicht möglich, daß sie sehr bald mit der großen Umgestaltung abgeschlossen haben werden, deren deutliche Spuren sich bereits ankündigen: mit der Zweiteilung unsers Gymnasiums in eine mehr dem praktischen Charakter der Volks- und Bürgerschule entsprechende untere und eine der höhern Bildung ausschließlich gewidmete obere Hälfte. Beide würden dennoch zusammengehalten werden durch den Rahmen der den höhern Ständen gemeinsamen Einheitsschule und würden sich in Organisation und Methode zusammenschließen. Diese Umgestaltung würde nur den veränderten Umständen entsprechen, unter denen das Gymnasium heute erscheint, der Teilnahme breiterer Bcvölkerungsschichten an der höher» Bildung, der praktischen Bedeutung des Gymnasiums für nichtakademische Reifezeugnisse, der größern Zahl der Gymnasien, welche sie fast mit Stadtschulen identisch ge¬ macht und teilweise zur Vertretung der Bürgerschulen gezwungen hat. Es be¬ deutet keine geringe Ehre für das Gymnasium, daß all diese Neuerungen sich auf dasselbe konzentrirt haben, an ihm sich haben vollziehen können. Der Grund scheint kein äußerlicher und zufälliger. Er liegt gerade in dem scheinbar unprak¬ tischen, aber hoch humanen Endziel des Gymnasiums, dem vornehmen, durch keine materiellen Rücksichten beirrten Berufe, Menschen zu bilden. Nicht als Vorbereitung zur Universität in der handgreiflichen Bedeutung ist das Gymnasium aufzufassen, und man fühlt das wohl. Es will nicht Präpariren auf irgend etwas, was dort gelehrt wird, sondern es will bilden, damit gelernt werden kann. Nicht das Gymnasium zielt auf die Universität hin, sondern die Universität, d. h. die Lchrstätte der höhern menschlichen Berufe, setzt das Gymnasium voraus. Giebt das Gymnasium diese Stellung auf, so versetzt es sich selbst den Todesstoß, denn dann ließen sich für jedes einzelne Fach Anstalten denken, die Besseres leisten, als es in diesem Sinne zu leisten je imstande sein würde. Wird sie ihm

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/226>, abgerufen am 27.09.2024.