Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Ziele der Reform des höhorn Schulwesens.

unsre jungen Mädchen, bei denen sie aus nicht näher zu erörternden Gründen
die Stelle der alten Sprachen vertreten müssen. Lehrt diese die Schule französisch
und englisch sprechen? Wir müßten mit fertigen Französinnen und Engländerinnen
umgeben sein, wenn die durchschnittlich zwölf Stunden Französisch und Englisch
in der Woche solche Resultate zu Wege brächte". Nein, wo die Fertigkeit sich
vorfindet, da wird sie nicht der Schule verdankt, sondern besondern Um¬
ständen, der größern Fähigkeit, fleißiger Lektüre, Konversation und schriftlicher
Übung, am besten dem Aufenthalt in dem betreffenden Lande. Und das findet
man selbstverständlich, aber dem Gymnasium macht man den Platten Vorwurf,
daß es mit seinem vielen Latein und seinem Griechisch gar keine Griechen und
sehr schwache Lateiner erziehe.

Der Sprachunterricht der Schule darf, wie jeder ihrer Lehrgegenstände,
nicht unter dem Gesichtspunkte eines äußern Zweckes, sondern muß nach innern
Gründen beurteilt werden. Das scheint auch selbstverständlich, und trotzdem
muß man es wie eine neue Wahrheit verkünden, wenn man sieht, wie Männer,
die ihre philosophische Schulung zuerst vor diesem Irrtum bewahren sollte,
ihn mit der größten Unbefangenheit kvdifiziren. Nicht um Sprachen zu sprechen,
nicht um Geschichte zu wissen, nicht um die Natur zu erforschen, treibe" wir
auf der Schule Sprachen, Geschichte und Naturkunde, sondern aus dem bloßen
Grunde, daß es Sprachen giebt, daß Geschichte war, daß Natur erforscht werden
kann. Die höhere Schule ist einfach eine Menschhcitspflicht. Daher ist es uns
ganz gleichgültig, ob dieser oder jener die Sprachen spricht, deren Gesetze, Eigen¬
tümlichkeit und Schönheit ihm die Schule erklärt hat, ob er die Jahreszahlen
der Thatsachen noch weiß, deren Bedeutsamkeit für die Geschichte sie ihn: eröffnet
hat, ob er später die Natur erforscht, deren Unermeßlichkeit ebenso wie die der
andern geistigen Gebiete ihm die Schule nur andeuten konnte. Kann sich hierin
jemals etwas ändern? Wollen wir zurückkehren zum mittelalterlichen Noviziat,
zur Lehrzeit, zur Berussübuug von früher Jugend an, weil der "Kampf ums
Dasein" heute stärkere Ansprüche stellt als jemals? Das, was die Schule
hierfür mitgeben kann, ist sicherlich sehr gering, desto wichtiger muß aber gerade
jetzt die allgemein menschliche Ausrüstung sein, welche sie dem Schüler angiebt.
Er bedars ihrer mehr als je, und immer geringer wird die Möglichkeit, sie sich
außerhalb der Schule anzueignen.

Als solche aber fassen wir nicht kleinliche, äußerliche Mittelchen auf, die
ihm vielleicht einmal im Leben Vorteil gewähren können, encyklvpüdistischen
Hausrat der jeweiligen geistigen Zeitströmung, sondern aus inneren Prinzipien
hergeleitete, bewährte Formen. Diese Formen werden nie verrosten, so lange
jede Zeit sie mit neuem Lebensinhalt füllt. Sie sind zu charakterisiren mit
der Definition Schillers von der ästhetischen (bei Herder "humanen") Erziehung:
Heranbildung des sinnlichen Menschen zum Denken durch ein lebendiges, mensch¬
liches Material. "Nichts ist dem Menschen so interessant als der Mensch,"


Die Ziele der Reform des höhorn Schulwesens.

unsre jungen Mädchen, bei denen sie aus nicht näher zu erörternden Gründen
die Stelle der alten Sprachen vertreten müssen. Lehrt diese die Schule französisch
und englisch sprechen? Wir müßten mit fertigen Französinnen und Engländerinnen
umgeben sein, wenn die durchschnittlich zwölf Stunden Französisch und Englisch
in der Woche solche Resultate zu Wege brächte». Nein, wo die Fertigkeit sich
vorfindet, da wird sie nicht der Schule verdankt, sondern besondern Um¬
ständen, der größern Fähigkeit, fleißiger Lektüre, Konversation und schriftlicher
Übung, am besten dem Aufenthalt in dem betreffenden Lande. Und das findet
man selbstverständlich, aber dem Gymnasium macht man den Platten Vorwurf,
daß es mit seinem vielen Latein und seinem Griechisch gar keine Griechen und
sehr schwache Lateiner erziehe.

Der Sprachunterricht der Schule darf, wie jeder ihrer Lehrgegenstände,
nicht unter dem Gesichtspunkte eines äußern Zweckes, sondern muß nach innern
Gründen beurteilt werden. Das scheint auch selbstverständlich, und trotzdem
muß man es wie eine neue Wahrheit verkünden, wenn man sieht, wie Männer,
die ihre philosophische Schulung zuerst vor diesem Irrtum bewahren sollte,
ihn mit der größten Unbefangenheit kvdifiziren. Nicht um Sprachen zu sprechen,
nicht um Geschichte zu wissen, nicht um die Natur zu erforschen, treibe» wir
auf der Schule Sprachen, Geschichte und Naturkunde, sondern aus dem bloßen
Grunde, daß es Sprachen giebt, daß Geschichte war, daß Natur erforscht werden
kann. Die höhere Schule ist einfach eine Menschhcitspflicht. Daher ist es uns
ganz gleichgültig, ob dieser oder jener die Sprachen spricht, deren Gesetze, Eigen¬
tümlichkeit und Schönheit ihm die Schule erklärt hat, ob er die Jahreszahlen
der Thatsachen noch weiß, deren Bedeutsamkeit für die Geschichte sie ihn: eröffnet
hat, ob er später die Natur erforscht, deren Unermeßlichkeit ebenso wie die der
andern geistigen Gebiete ihm die Schule nur andeuten konnte. Kann sich hierin
jemals etwas ändern? Wollen wir zurückkehren zum mittelalterlichen Noviziat,
zur Lehrzeit, zur Berussübuug von früher Jugend an, weil der „Kampf ums
Dasein" heute stärkere Ansprüche stellt als jemals? Das, was die Schule
hierfür mitgeben kann, ist sicherlich sehr gering, desto wichtiger muß aber gerade
jetzt die allgemein menschliche Ausrüstung sein, welche sie dem Schüler angiebt.
Er bedars ihrer mehr als je, und immer geringer wird die Möglichkeit, sie sich
außerhalb der Schule anzueignen.

Als solche aber fassen wir nicht kleinliche, äußerliche Mittelchen auf, die
ihm vielleicht einmal im Leben Vorteil gewähren können, encyklvpüdistischen
Hausrat der jeweiligen geistigen Zeitströmung, sondern aus inneren Prinzipien
hergeleitete, bewährte Formen. Diese Formen werden nie verrosten, so lange
jede Zeit sie mit neuem Lebensinhalt füllt. Sie sind zu charakterisiren mit
der Definition Schillers von der ästhetischen (bei Herder „humanen") Erziehung:
Heranbildung des sinnlichen Menschen zum Denken durch ein lebendiges, mensch¬
liches Material. „Nichts ist dem Menschen so interessant als der Mensch,"


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0224" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/199578"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Ziele der Reform des höhorn Schulwesens.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_861" prev="#ID_860"> unsre jungen Mädchen, bei denen sie aus nicht näher zu erörternden Gründen<lb/>
die Stelle der alten Sprachen vertreten müssen. Lehrt diese die Schule französisch<lb/>
und englisch sprechen? Wir müßten mit fertigen Französinnen und Engländerinnen<lb/>
umgeben sein, wenn die durchschnittlich zwölf Stunden Französisch und Englisch<lb/>
in der Woche solche Resultate zu Wege brächte». Nein, wo die Fertigkeit sich<lb/>
vorfindet, da wird sie nicht der Schule verdankt, sondern besondern Um¬<lb/>
ständen, der größern Fähigkeit, fleißiger Lektüre, Konversation und schriftlicher<lb/>
Übung, am besten dem Aufenthalt in dem betreffenden Lande. Und das findet<lb/>
man selbstverständlich, aber dem Gymnasium macht man den Platten Vorwurf,<lb/>
daß es mit seinem vielen Latein und seinem Griechisch gar keine Griechen und<lb/>
sehr schwache Lateiner erziehe.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_862"> Der Sprachunterricht der Schule darf, wie jeder ihrer Lehrgegenstände,<lb/>
nicht unter dem Gesichtspunkte eines äußern Zweckes, sondern muß nach innern<lb/>
Gründen beurteilt werden. Das scheint auch selbstverständlich, und trotzdem<lb/>
muß man es wie eine neue Wahrheit verkünden, wenn man sieht, wie Männer,<lb/>
die ihre philosophische Schulung zuerst vor diesem Irrtum bewahren sollte,<lb/>
ihn mit der größten Unbefangenheit kvdifiziren. Nicht um Sprachen zu sprechen,<lb/>
nicht um Geschichte zu wissen, nicht um die Natur zu erforschen, treibe» wir<lb/>
auf der Schule Sprachen, Geschichte und Naturkunde, sondern aus dem bloßen<lb/>
Grunde, daß es Sprachen giebt, daß Geschichte war, daß Natur erforscht werden<lb/>
kann. Die höhere Schule ist einfach eine Menschhcitspflicht. Daher ist es uns<lb/>
ganz gleichgültig, ob dieser oder jener die Sprachen spricht, deren Gesetze, Eigen¬<lb/>
tümlichkeit und Schönheit ihm die Schule erklärt hat, ob er die Jahreszahlen<lb/>
der Thatsachen noch weiß, deren Bedeutsamkeit für die Geschichte sie ihn: eröffnet<lb/>
hat, ob er später die Natur erforscht, deren Unermeßlichkeit ebenso wie die der<lb/>
andern geistigen Gebiete ihm die Schule nur andeuten konnte. Kann sich hierin<lb/>
jemals etwas ändern? Wollen wir zurückkehren zum mittelalterlichen Noviziat,<lb/>
zur Lehrzeit, zur Berussübuug von früher Jugend an, weil der &#x201E;Kampf ums<lb/>
Dasein" heute stärkere Ansprüche stellt als jemals? Das, was die Schule<lb/>
hierfür mitgeben kann, ist sicherlich sehr gering, desto wichtiger muß aber gerade<lb/>
jetzt die allgemein menschliche Ausrüstung sein, welche sie dem Schüler angiebt.<lb/>
Er bedars ihrer mehr als je, und immer geringer wird die Möglichkeit, sie sich<lb/>
außerhalb der Schule anzueignen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_863" next="#ID_864"> Als solche aber fassen wir nicht kleinliche, äußerliche Mittelchen auf, die<lb/>
ihm vielleicht einmal im Leben Vorteil gewähren können, encyklvpüdistischen<lb/>
Hausrat der jeweiligen geistigen Zeitströmung, sondern aus inneren Prinzipien<lb/>
hergeleitete, bewährte Formen. Diese Formen werden nie verrosten, so lange<lb/>
jede Zeit sie mit neuem Lebensinhalt füllt. Sie sind zu charakterisiren mit<lb/>
der Definition Schillers von der ästhetischen (bei Herder &#x201E;humanen") Erziehung:<lb/>
Heranbildung des sinnlichen Menschen zum Denken durch ein lebendiges, mensch¬<lb/>
liches Material.  &#x201E;Nichts ist dem Menschen so interessant als der Mensch,"</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0224] Die Ziele der Reform des höhorn Schulwesens. unsre jungen Mädchen, bei denen sie aus nicht näher zu erörternden Gründen die Stelle der alten Sprachen vertreten müssen. Lehrt diese die Schule französisch und englisch sprechen? Wir müßten mit fertigen Französinnen und Engländerinnen umgeben sein, wenn die durchschnittlich zwölf Stunden Französisch und Englisch in der Woche solche Resultate zu Wege brächte». Nein, wo die Fertigkeit sich vorfindet, da wird sie nicht der Schule verdankt, sondern besondern Um¬ ständen, der größern Fähigkeit, fleißiger Lektüre, Konversation und schriftlicher Übung, am besten dem Aufenthalt in dem betreffenden Lande. Und das findet man selbstverständlich, aber dem Gymnasium macht man den Platten Vorwurf, daß es mit seinem vielen Latein und seinem Griechisch gar keine Griechen und sehr schwache Lateiner erziehe. Der Sprachunterricht der Schule darf, wie jeder ihrer Lehrgegenstände, nicht unter dem Gesichtspunkte eines äußern Zweckes, sondern muß nach innern Gründen beurteilt werden. Das scheint auch selbstverständlich, und trotzdem muß man es wie eine neue Wahrheit verkünden, wenn man sieht, wie Männer, die ihre philosophische Schulung zuerst vor diesem Irrtum bewahren sollte, ihn mit der größten Unbefangenheit kvdifiziren. Nicht um Sprachen zu sprechen, nicht um Geschichte zu wissen, nicht um die Natur zu erforschen, treibe» wir auf der Schule Sprachen, Geschichte und Naturkunde, sondern aus dem bloßen Grunde, daß es Sprachen giebt, daß Geschichte war, daß Natur erforscht werden kann. Die höhere Schule ist einfach eine Menschhcitspflicht. Daher ist es uns ganz gleichgültig, ob dieser oder jener die Sprachen spricht, deren Gesetze, Eigen¬ tümlichkeit und Schönheit ihm die Schule erklärt hat, ob er die Jahreszahlen der Thatsachen noch weiß, deren Bedeutsamkeit für die Geschichte sie ihn: eröffnet hat, ob er später die Natur erforscht, deren Unermeßlichkeit ebenso wie die der andern geistigen Gebiete ihm die Schule nur andeuten konnte. Kann sich hierin jemals etwas ändern? Wollen wir zurückkehren zum mittelalterlichen Noviziat, zur Lehrzeit, zur Berussübuug von früher Jugend an, weil der „Kampf ums Dasein" heute stärkere Ansprüche stellt als jemals? Das, was die Schule hierfür mitgeben kann, ist sicherlich sehr gering, desto wichtiger muß aber gerade jetzt die allgemein menschliche Ausrüstung sein, welche sie dem Schüler angiebt. Er bedars ihrer mehr als je, und immer geringer wird die Möglichkeit, sie sich außerhalb der Schule anzueignen. Als solche aber fassen wir nicht kleinliche, äußerliche Mittelchen auf, die ihm vielleicht einmal im Leben Vorteil gewähren können, encyklvpüdistischen Hausrat der jeweiligen geistigen Zeitströmung, sondern aus inneren Prinzipien hergeleitete, bewährte Formen. Diese Formen werden nie verrosten, so lange jede Zeit sie mit neuem Lebensinhalt füllt. Sie sind zu charakterisiren mit der Definition Schillers von der ästhetischen (bei Herder „humanen") Erziehung: Heranbildung des sinnlichen Menschen zum Denken durch ein lebendiges, mensch¬ liches Material. „Nichts ist dem Menschen so interessant als der Mensch,"

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/224
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/224>, abgerufen am 27.09.2024.