Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
volkswirtschaftliche Betrachtungen eines Taler.

nicht jene Sätze sind unrichtig, sondern unsre wirtschaftlichen Verhältnisse be¬
finden sich in Bahnen, aus welchen ein Ausweg geschaffen werden muß und ge¬
schaffen werden wird.

Es ist schmerzlich für jeden Menschenfreund, täglich sehen und hören zu
müssen, welche ungesunden Mittel empfohlen und angewandt werden, um die
wirtschaftliche Not, die zweifellos besteht, zu verringern. Leistungsfähige in¬
dustrielle Werke beschränken ihren Betrieb oder stellen ihn ein, die Handarbeiter
vereinigen sich zu dem Zwecke, ihre Gcsamtlcistuugsfähigkeit zu verringern, indem
sie die Akkordarbeit abschaffen und die tägliche Arbeitszeit einschränken auch
auf die Gefahr hin, daß dadurch dem Einzelnen große Verluste erwachsen; ja
wir haben scheu müssen, wie in Belgien die Arbeiter die Stätten und die Werke
ihrer Thätigkeit vernichtet haben, in der Hoffnung, daß ihnen hierdurch eine
Verbesserung ihrer Lage erwachsen würde.

Überproduktion! Das ist der Weheruf, welcher von allen Seiten erschallt,
welcher den Schlüssel für das Verständnis unsrer Not geben soll. Es giebt
kein härteres Urteil über unsre volkswirtschaftlichen Zustände, als diesen sich
immer wiederholenden Ruf. Wir produziren jetzt allerdings in einer Fülle und
Güte, von welcher man sich vor dreißig Jahren nichts hat träumen lassen, aber
daß wir bereits genug oder gar zu viel produziren sollte" für die berechtigten
Bedürfnisse der Menschen, wird niemand zugeben, der sich etwas mit der Not
der Menschen beschäftigt.

Das Volk hat zwar den Willen, die Kraft, die Ausdauer, den thatsächlichen
Erfolg, die Güter, deren es zum Leben, zur Erhaltung der eignen Gesundheit
und Schaffenskraft bedarf, in früher ungeahnter Fülle hervorzubringen, aber
es fehlt die wirtschaftliche Fähigkeit, diese Güter denen zufließen zu lassen, welche
ihrer aufs dringendste bedürfen und durch ihren Fleiß, ihre Mitwirkung an dem
Gemeinwohl die Berechtigung haben, dieselben zu erlangen.

Ich kenne viele Handwerker, ordentliche, fleißige, geschickte Leute, welche
kaum einen größern Lebensgenuß kennen, als zu arbeiten, die Geschicklichkeit,
die Kenntnisse, welche sie in ihrem Fache besitzen, anzuwenden, sich und ihrer
Familie die Lebensstellung zu verbessern; aber in ihrem Fache herrscht Über¬
produktion. Es giebt zu viel Tischler, Glaser, Schlosser, Klempner, Schuster;
der Kampf ums Dasein treibt jeden, seine Preise bis an die äußerste Grenze
hinunterzudrücken, aber selbst wenn der Handwerker oft nur das Brot für seine
Familie verdienen will, die Leute wollen seine Arbeiten nicht, die Überproduktivu
ist gar zu groß. Der Schlosser hat eine für einen so geschickten Meister gar
ärmlich eingerichtete Wohnung, die wenigen Schränke und Tische, welche er sich
zur Hochzeit schon alt gekauft hat, sind inzwischen noch älter und sehr wacklig
geworden. Wie gerne möchten er und seine Frau ein paar neue Stücke in ihre
Wirtschaft kaufen, es soll ja solche Überproduktion in der Tischlerei herrschen!
Ja, in der Schlosserei muß sie wohl noch größer sein, denn der Meister kann


Grenzboten IV. 1836. 24
volkswirtschaftliche Betrachtungen eines Taler.

nicht jene Sätze sind unrichtig, sondern unsre wirtschaftlichen Verhältnisse be¬
finden sich in Bahnen, aus welchen ein Ausweg geschaffen werden muß und ge¬
schaffen werden wird.

Es ist schmerzlich für jeden Menschenfreund, täglich sehen und hören zu
müssen, welche ungesunden Mittel empfohlen und angewandt werden, um die
wirtschaftliche Not, die zweifellos besteht, zu verringern. Leistungsfähige in¬
dustrielle Werke beschränken ihren Betrieb oder stellen ihn ein, die Handarbeiter
vereinigen sich zu dem Zwecke, ihre Gcsamtlcistuugsfähigkeit zu verringern, indem
sie die Akkordarbeit abschaffen und die tägliche Arbeitszeit einschränken auch
auf die Gefahr hin, daß dadurch dem Einzelnen große Verluste erwachsen; ja
wir haben scheu müssen, wie in Belgien die Arbeiter die Stätten und die Werke
ihrer Thätigkeit vernichtet haben, in der Hoffnung, daß ihnen hierdurch eine
Verbesserung ihrer Lage erwachsen würde.

Überproduktion! Das ist der Weheruf, welcher von allen Seiten erschallt,
welcher den Schlüssel für das Verständnis unsrer Not geben soll. Es giebt
kein härteres Urteil über unsre volkswirtschaftlichen Zustände, als diesen sich
immer wiederholenden Ruf. Wir produziren jetzt allerdings in einer Fülle und
Güte, von welcher man sich vor dreißig Jahren nichts hat träumen lassen, aber
daß wir bereits genug oder gar zu viel produziren sollte» für die berechtigten
Bedürfnisse der Menschen, wird niemand zugeben, der sich etwas mit der Not
der Menschen beschäftigt.

Das Volk hat zwar den Willen, die Kraft, die Ausdauer, den thatsächlichen
Erfolg, die Güter, deren es zum Leben, zur Erhaltung der eignen Gesundheit
und Schaffenskraft bedarf, in früher ungeahnter Fülle hervorzubringen, aber
es fehlt die wirtschaftliche Fähigkeit, diese Güter denen zufließen zu lassen, welche
ihrer aufs dringendste bedürfen und durch ihren Fleiß, ihre Mitwirkung an dem
Gemeinwohl die Berechtigung haben, dieselben zu erlangen.

Ich kenne viele Handwerker, ordentliche, fleißige, geschickte Leute, welche
kaum einen größern Lebensgenuß kennen, als zu arbeiten, die Geschicklichkeit,
die Kenntnisse, welche sie in ihrem Fache besitzen, anzuwenden, sich und ihrer
Familie die Lebensstellung zu verbessern; aber in ihrem Fache herrscht Über¬
produktion. Es giebt zu viel Tischler, Glaser, Schlosser, Klempner, Schuster;
der Kampf ums Dasein treibt jeden, seine Preise bis an die äußerste Grenze
hinunterzudrücken, aber selbst wenn der Handwerker oft nur das Brot für seine
Familie verdienen will, die Leute wollen seine Arbeiten nicht, die Überproduktivu
ist gar zu groß. Der Schlosser hat eine für einen so geschickten Meister gar
ärmlich eingerichtete Wohnung, die wenigen Schränke und Tische, welche er sich
zur Hochzeit schon alt gekauft hat, sind inzwischen noch älter und sehr wacklig
geworden. Wie gerne möchten er und seine Frau ein paar neue Stücke in ihre
Wirtschaft kaufen, es soll ja solche Überproduktion in der Tischlerei herrschen!
Ja, in der Schlosserei muß sie wohl noch größer sein, denn der Meister kann


Grenzboten IV. 1836. 24
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0193" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/199547"/>
          <fw type="header" place="top"> volkswirtschaftliche Betrachtungen eines Taler.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_664" prev="#ID_663"> nicht jene Sätze sind unrichtig, sondern unsre wirtschaftlichen Verhältnisse be¬<lb/>
finden sich in Bahnen, aus welchen ein Ausweg geschaffen werden muß und ge¬<lb/>
schaffen werden wird.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_665"> Es ist schmerzlich für jeden Menschenfreund, täglich sehen und hören zu<lb/>
müssen, welche ungesunden Mittel empfohlen und angewandt werden, um die<lb/>
wirtschaftliche Not, die zweifellos besteht, zu verringern. Leistungsfähige in¬<lb/>
dustrielle Werke beschränken ihren Betrieb oder stellen ihn ein, die Handarbeiter<lb/>
vereinigen sich zu dem Zwecke, ihre Gcsamtlcistuugsfähigkeit zu verringern, indem<lb/>
sie die Akkordarbeit abschaffen und die tägliche Arbeitszeit einschränken auch<lb/>
auf die Gefahr hin, daß dadurch dem Einzelnen große Verluste erwachsen; ja<lb/>
wir haben scheu müssen, wie in Belgien die Arbeiter die Stätten und die Werke<lb/>
ihrer Thätigkeit vernichtet haben, in der Hoffnung, daß ihnen hierdurch eine<lb/>
Verbesserung ihrer Lage erwachsen würde.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_666"> Überproduktion! Das ist der Weheruf, welcher von allen Seiten erschallt,<lb/>
welcher den Schlüssel für das Verständnis unsrer Not geben soll. Es giebt<lb/>
kein härteres Urteil über unsre volkswirtschaftlichen Zustände, als diesen sich<lb/>
immer wiederholenden Ruf. Wir produziren jetzt allerdings in einer Fülle und<lb/>
Güte, von welcher man sich vor dreißig Jahren nichts hat träumen lassen, aber<lb/>
daß wir bereits genug oder gar zu viel produziren sollte» für die berechtigten<lb/>
Bedürfnisse der Menschen, wird niemand zugeben, der sich etwas mit der Not<lb/>
der Menschen beschäftigt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_667"> Das Volk hat zwar den Willen, die Kraft, die Ausdauer, den thatsächlichen<lb/>
Erfolg, die Güter, deren es zum Leben, zur Erhaltung der eignen Gesundheit<lb/>
und Schaffenskraft bedarf, in früher ungeahnter Fülle hervorzubringen, aber<lb/>
es fehlt die wirtschaftliche Fähigkeit, diese Güter denen zufließen zu lassen, welche<lb/>
ihrer aufs dringendste bedürfen und durch ihren Fleiß, ihre Mitwirkung an dem<lb/>
Gemeinwohl die Berechtigung haben, dieselben zu erlangen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_668" next="#ID_669"> Ich kenne viele Handwerker, ordentliche, fleißige, geschickte Leute, welche<lb/>
kaum einen größern Lebensgenuß kennen, als zu arbeiten, die Geschicklichkeit,<lb/>
die Kenntnisse, welche sie in ihrem Fache besitzen, anzuwenden, sich und ihrer<lb/>
Familie die Lebensstellung zu verbessern; aber in ihrem Fache herrscht Über¬<lb/>
produktion. Es giebt zu viel Tischler, Glaser, Schlosser, Klempner, Schuster;<lb/>
der Kampf ums Dasein treibt jeden, seine Preise bis an die äußerste Grenze<lb/>
hinunterzudrücken, aber selbst wenn der Handwerker oft nur das Brot für seine<lb/>
Familie verdienen will, die Leute wollen seine Arbeiten nicht, die Überproduktivu<lb/>
ist gar zu groß. Der Schlosser hat eine für einen so geschickten Meister gar<lb/>
ärmlich eingerichtete Wohnung, die wenigen Schränke und Tische, welche er sich<lb/>
zur Hochzeit schon alt gekauft hat, sind inzwischen noch älter und sehr wacklig<lb/>
geworden. Wie gerne möchten er und seine Frau ein paar neue Stücke in ihre<lb/>
Wirtschaft kaufen, es soll ja solche Überproduktion in der Tischlerei herrschen!<lb/>
Ja, in der Schlosserei muß sie wohl noch größer sein, denn der Meister kann</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten IV. 1836. 24</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0193] volkswirtschaftliche Betrachtungen eines Taler. nicht jene Sätze sind unrichtig, sondern unsre wirtschaftlichen Verhältnisse be¬ finden sich in Bahnen, aus welchen ein Ausweg geschaffen werden muß und ge¬ schaffen werden wird. Es ist schmerzlich für jeden Menschenfreund, täglich sehen und hören zu müssen, welche ungesunden Mittel empfohlen und angewandt werden, um die wirtschaftliche Not, die zweifellos besteht, zu verringern. Leistungsfähige in¬ dustrielle Werke beschränken ihren Betrieb oder stellen ihn ein, die Handarbeiter vereinigen sich zu dem Zwecke, ihre Gcsamtlcistuugsfähigkeit zu verringern, indem sie die Akkordarbeit abschaffen und die tägliche Arbeitszeit einschränken auch auf die Gefahr hin, daß dadurch dem Einzelnen große Verluste erwachsen; ja wir haben scheu müssen, wie in Belgien die Arbeiter die Stätten und die Werke ihrer Thätigkeit vernichtet haben, in der Hoffnung, daß ihnen hierdurch eine Verbesserung ihrer Lage erwachsen würde. Überproduktion! Das ist der Weheruf, welcher von allen Seiten erschallt, welcher den Schlüssel für das Verständnis unsrer Not geben soll. Es giebt kein härteres Urteil über unsre volkswirtschaftlichen Zustände, als diesen sich immer wiederholenden Ruf. Wir produziren jetzt allerdings in einer Fülle und Güte, von welcher man sich vor dreißig Jahren nichts hat träumen lassen, aber daß wir bereits genug oder gar zu viel produziren sollte» für die berechtigten Bedürfnisse der Menschen, wird niemand zugeben, der sich etwas mit der Not der Menschen beschäftigt. Das Volk hat zwar den Willen, die Kraft, die Ausdauer, den thatsächlichen Erfolg, die Güter, deren es zum Leben, zur Erhaltung der eignen Gesundheit und Schaffenskraft bedarf, in früher ungeahnter Fülle hervorzubringen, aber es fehlt die wirtschaftliche Fähigkeit, diese Güter denen zufließen zu lassen, welche ihrer aufs dringendste bedürfen und durch ihren Fleiß, ihre Mitwirkung an dem Gemeinwohl die Berechtigung haben, dieselben zu erlangen. Ich kenne viele Handwerker, ordentliche, fleißige, geschickte Leute, welche kaum einen größern Lebensgenuß kennen, als zu arbeiten, die Geschicklichkeit, die Kenntnisse, welche sie in ihrem Fache besitzen, anzuwenden, sich und ihrer Familie die Lebensstellung zu verbessern; aber in ihrem Fache herrscht Über¬ produktion. Es giebt zu viel Tischler, Glaser, Schlosser, Klempner, Schuster; der Kampf ums Dasein treibt jeden, seine Preise bis an die äußerste Grenze hinunterzudrücken, aber selbst wenn der Handwerker oft nur das Brot für seine Familie verdienen will, die Leute wollen seine Arbeiten nicht, die Überproduktivu ist gar zu groß. Der Schlosser hat eine für einen so geschickten Meister gar ärmlich eingerichtete Wohnung, die wenigen Schränke und Tische, welche er sich zur Hochzeit schon alt gekauft hat, sind inzwischen noch älter und sehr wacklig geworden. Wie gerne möchten er und seine Frau ein paar neue Stücke in ihre Wirtschaft kaufen, es soll ja solche Überproduktion in der Tischlerei herrschen! Ja, in der Schlosserei muß sie wohl noch größer sein, denn der Meister kann Grenzboten IV. 1836. 24

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/193
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/193>, abgerufen am 20.10.2024.