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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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Glymxia und der olympische Zeustempol.

fühlte und dieses Gefühl in dem Heiligtum des "gesamt"-hellenischen Zeus zum
lebendigen Ausdruck kam, Hütte je ein Künstler seiue Entwürfe einer Arbeiter¬
schaft preisgegeben, die sie, weil sie aus den verschiedensten, aus brauchbaren
und unbrauchbaren Elementen zusammengewürfelt war, verunstalten und an
seinen Namen den Vorwurf stümperhafter Arbeit sür Jahrhunderte knüpfen
konnte? Es ließe sich dies nur erklären, wenn beide Meister über oder kurz
nach der Anfertigung der Entwürfe gestorben wären oder wenn sie die Über¬
zeugung gehabt Hütten, daß ihre Skizzen oder Modelle, sowohl in formaler
als in stilistischer Hinsicht, genau ihren Absichten entsprechend ausgeführt werden
würden. Der Stil ist aber der Ausfluß der Individualität und wird in der
bewußten Nachahmung zur Manier, und eine vollendete Formgebung ist Sache
einer strengen, schulmäßigen Bildung. Wer mochte sie bei jedem Einzelnen einer
großen Arbeiterschaft voraussetzen wollen?

Einen andern Weg, den olympischen Skulpturen ihre kunstgeschichtliche
Stellung anzuweisen und der Überlieferung des Pausanias zu ihrem Rechte zu
verhelfen, schlug Heinrich Vrnnn ein in mehreren geistvoll geschriebenen Aufsätzen
in deu Berichten der königlich baierischen Akademie der Wissenschaften (187K,
1877, 1878). Indem er die Metopen, von denen, wie erwähnt, schon durch die
französische Expedition einiges bekannt geworden war, in den Bereich der Unter¬
suchung zog, kam er auf Grund einer eingehenden stilistischen Analyse zu dem
Ergebnis, daß in gewissen Metopen "die strenge, schulmäßige Durchbildung, wie
wir sie als das Grundwesen peloponnesischer Kunst zu erkennen haben, hier
durchaus fehlt. Ebenso fehlt aber auch jenes feinere Empfinden des attischen
Geistes, das in den Formen zu Feinheit und Anmut, auf dem geistigen Gebiete
zu idealer Auffassung führte. Wir haben es hier mit einer dritten, spezifisch
verschiednen Kunstrichtung zu thun, der ihr Verdienst keineswegs abgesprochen
werden soll." Als Heimat dieser eigenartigen Kunstrichtung sah er Nord¬
griechenland, Thrakien und die an der Küste liegenden Inseln an, und als ihre
Eigentümlichkeit, für deren Feststellung sich ihm weitere Belege aus Skulpturen,
die in Nordgriechcnland gefunden wordeu waren, ergaben, erklärte er den de¬
korativen Charakter architektonischer Skulpturen und einer malerischen Auffassung
der Formen, die sich den strengen Forderungen plastischer Durcharbeitung unter¬
zuordnen sucht. Zur Bestätigung seiner Annahme, daß die Metopen von
Olympia, wenn nicht Werke von der Hand des Päonios, doch unter seinem
unmittelbaren Einfluß entstanden seien und den Geist jener uordgriechischen
Kunstübung atmeten, diente Brunn die äußere Thatsache, daß Päonios, wie
Pausanias erwähnt und die Inschrift seiner Nikestatne bestätigt, aus Meute,
einer Stadt in der thrakischen Chersounes, stammte, von wo er die dort heimische
Kunstweise in die Peloponnes verpflanzte. Und der Charakter der "nord¬
griechischen Plastik" schien sich ihm auch in der überwiegend malerischen Auf¬
fassung der Nikestatue selbst auszusprechen, deren Grundmotiv Päonios seiner


Glymxia und der olympische Zeustempol.

fühlte und dieses Gefühl in dem Heiligtum des „gesamt"-hellenischen Zeus zum
lebendigen Ausdruck kam, Hütte je ein Künstler seiue Entwürfe einer Arbeiter¬
schaft preisgegeben, die sie, weil sie aus den verschiedensten, aus brauchbaren
und unbrauchbaren Elementen zusammengewürfelt war, verunstalten und an
seinen Namen den Vorwurf stümperhafter Arbeit sür Jahrhunderte knüpfen
konnte? Es ließe sich dies nur erklären, wenn beide Meister über oder kurz
nach der Anfertigung der Entwürfe gestorben wären oder wenn sie die Über¬
zeugung gehabt Hütten, daß ihre Skizzen oder Modelle, sowohl in formaler
als in stilistischer Hinsicht, genau ihren Absichten entsprechend ausgeführt werden
würden. Der Stil ist aber der Ausfluß der Individualität und wird in der
bewußten Nachahmung zur Manier, und eine vollendete Formgebung ist Sache
einer strengen, schulmäßigen Bildung. Wer mochte sie bei jedem Einzelnen einer
großen Arbeiterschaft voraussetzen wollen?

Einen andern Weg, den olympischen Skulpturen ihre kunstgeschichtliche
Stellung anzuweisen und der Überlieferung des Pausanias zu ihrem Rechte zu
verhelfen, schlug Heinrich Vrnnn ein in mehreren geistvoll geschriebenen Aufsätzen
in deu Berichten der königlich baierischen Akademie der Wissenschaften (187K,
1877, 1878). Indem er die Metopen, von denen, wie erwähnt, schon durch die
französische Expedition einiges bekannt geworden war, in den Bereich der Unter¬
suchung zog, kam er auf Grund einer eingehenden stilistischen Analyse zu dem
Ergebnis, daß in gewissen Metopen „die strenge, schulmäßige Durchbildung, wie
wir sie als das Grundwesen peloponnesischer Kunst zu erkennen haben, hier
durchaus fehlt. Ebenso fehlt aber auch jenes feinere Empfinden des attischen
Geistes, das in den Formen zu Feinheit und Anmut, auf dem geistigen Gebiete
zu idealer Auffassung führte. Wir haben es hier mit einer dritten, spezifisch
verschiednen Kunstrichtung zu thun, der ihr Verdienst keineswegs abgesprochen
werden soll." Als Heimat dieser eigenartigen Kunstrichtung sah er Nord¬
griechenland, Thrakien und die an der Küste liegenden Inseln an, und als ihre
Eigentümlichkeit, für deren Feststellung sich ihm weitere Belege aus Skulpturen,
die in Nordgriechcnland gefunden wordeu waren, ergaben, erklärte er den de¬
korativen Charakter architektonischer Skulpturen und einer malerischen Auffassung
der Formen, die sich den strengen Forderungen plastischer Durcharbeitung unter¬
zuordnen sucht. Zur Bestätigung seiner Annahme, daß die Metopen von
Olympia, wenn nicht Werke von der Hand des Päonios, doch unter seinem
unmittelbaren Einfluß entstanden seien und den Geist jener uordgriechischen
Kunstübung atmeten, diente Brunn die äußere Thatsache, daß Päonios, wie
Pausanias erwähnt und die Inschrift seiner Nikestatne bestätigt, aus Meute,
einer Stadt in der thrakischen Chersounes, stammte, von wo er die dort heimische
Kunstweise in die Peloponnes verpflanzte. Und der Charakter der „nord¬
griechischen Plastik" schien sich ihm auch in der überwiegend malerischen Auf¬
fassung der Nikestatue selbst auszusprechen, deren Grundmotiv Päonios seiner


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[0191] Glymxia und der olympische Zeustempol. fühlte und dieses Gefühl in dem Heiligtum des „gesamt"-hellenischen Zeus zum lebendigen Ausdruck kam, Hütte je ein Künstler seiue Entwürfe einer Arbeiter¬ schaft preisgegeben, die sie, weil sie aus den verschiedensten, aus brauchbaren und unbrauchbaren Elementen zusammengewürfelt war, verunstalten und an seinen Namen den Vorwurf stümperhafter Arbeit sür Jahrhunderte knüpfen konnte? Es ließe sich dies nur erklären, wenn beide Meister über oder kurz nach der Anfertigung der Entwürfe gestorben wären oder wenn sie die Über¬ zeugung gehabt Hütten, daß ihre Skizzen oder Modelle, sowohl in formaler als in stilistischer Hinsicht, genau ihren Absichten entsprechend ausgeführt werden würden. Der Stil ist aber der Ausfluß der Individualität und wird in der bewußten Nachahmung zur Manier, und eine vollendete Formgebung ist Sache einer strengen, schulmäßigen Bildung. Wer mochte sie bei jedem Einzelnen einer großen Arbeiterschaft voraussetzen wollen? Einen andern Weg, den olympischen Skulpturen ihre kunstgeschichtliche Stellung anzuweisen und der Überlieferung des Pausanias zu ihrem Rechte zu verhelfen, schlug Heinrich Vrnnn ein in mehreren geistvoll geschriebenen Aufsätzen in deu Berichten der königlich baierischen Akademie der Wissenschaften (187K, 1877, 1878). Indem er die Metopen, von denen, wie erwähnt, schon durch die französische Expedition einiges bekannt geworden war, in den Bereich der Unter¬ suchung zog, kam er auf Grund einer eingehenden stilistischen Analyse zu dem Ergebnis, daß in gewissen Metopen „die strenge, schulmäßige Durchbildung, wie wir sie als das Grundwesen peloponnesischer Kunst zu erkennen haben, hier durchaus fehlt. Ebenso fehlt aber auch jenes feinere Empfinden des attischen Geistes, das in den Formen zu Feinheit und Anmut, auf dem geistigen Gebiete zu idealer Auffassung führte. Wir haben es hier mit einer dritten, spezifisch verschiednen Kunstrichtung zu thun, der ihr Verdienst keineswegs abgesprochen werden soll." Als Heimat dieser eigenartigen Kunstrichtung sah er Nord¬ griechenland, Thrakien und die an der Küste liegenden Inseln an, und als ihre Eigentümlichkeit, für deren Feststellung sich ihm weitere Belege aus Skulpturen, die in Nordgriechcnland gefunden wordeu waren, ergaben, erklärte er den de¬ korativen Charakter architektonischer Skulpturen und einer malerischen Auffassung der Formen, die sich den strengen Forderungen plastischer Durcharbeitung unter¬ zuordnen sucht. Zur Bestätigung seiner Annahme, daß die Metopen von Olympia, wenn nicht Werke von der Hand des Päonios, doch unter seinem unmittelbaren Einfluß entstanden seien und den Geist jener uordgriechischen Kunstübung atmeten, diente Brunn die äußere Thatsache, daß Päonios, wie Pausanias erwähnt und die Inschrift seiner Nikestatne bestätigt, aus Meute, einer Stadt in der thrakischen Chersounes, stammte, von wo er die dort heimische Kunstweise in die Peloponnes verpflanzte. Und der Charakter der „nord¬ griechischen Plastik" schien sich ihm auch in der überwiegend malerischen Auf¬ fassung der Nikestatue selbst auszusprechen, deren Grundmotiv Päonios seiner

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/191>, abgerufen am 20.10.2024.