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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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Die Briefe Turgenjews.

Glauben für irgend eine niedere Art Religion, für etwas Geringeres halten,
und ich thäte es auch. Da bist du aber vollständig im Irrtum. Denn nach
meiner Ansicht sind das nur zwei Arten ein- und derselben Formation, und wenn
wir die Bulgaren befreie", so dürfen wir uns nicht von dem Gedanken leiten
lassen, daß diese Christen und die Türken Muhamedaner sind, sondern wir
müssen nur das im Auge behalten, daß die Bulgaren von den Türken geplündert
und hingeschlachtet werden." Im 195. Briefe heißt es: "Den Aufsatz von Aksa-
kow über Th. I. Tjuttschew habe ich gelesen; er ist sehr hübsch, besonders
der erste Teil. Mit seinen Anschauungen über die Rettung Europas, welche
W^si von der Einführung unsers orthodoxen Glaubens abhängt, kann ich mich
nicht befreunden, finde dieselben sogar etwas sonderbar. Übrigens, was passirt
nicht alles!"

Wiederholt hat man Turgenjew den Vorwurf gemacht, er sei ein Deutschen¬
feind gewesen. Das ist entschieden eine Verleumdung. In der Vorrede zu der bei
Behre in Mietau erschienenen deutscheu Übersetzung seiner auserwählten Werke
erzählt er selbst, daß er "Deutschland wie sein zweites Vaterland liebe und
verehre." Man lese ferner seine Briefe aus dem Jahre 1870, wo er mehrere
Mouate in Baden-Baden verlebte. "Über die ganze Abscheulichkeit des Krieges
-- schreibt er --, will ich mich uicht auslassen -- er war unvermeidlich, und die
Deutschen fühlten es. Eine patriotische Begeisterung bemächtigte sich ihrer wie
im Jahre 1813, aber es stehen ihnen schwere Zeiten bevor." Weiter: "Die
Preußen, welche ich am 15. Juli in Berlin sah, zweifelten keinen Augenblick
an ihrem Siege, aber ich schrieb dies ihrem Patriotismus zu. Es zeigt sich,
daß sie wußte", was sie sagten." Im folgenden Briefe bemerkt er: "Wir leben
in einer bedeutungsvollen Zeit; vor unsern Augen geht die leitende Rolle in
der Geschichte von einem Stamme, dem lateinischen, zu einem andern, dem ger¬
manischen, über. Der Fall des garstigen Kaisertums Napoleons verschaffte mir
große Freude; nach so langer Erwartung empfand ich eine moralische Befrie¬
digung." Turgenjew war ein Russe durch und durch, ein Russe in jedem
Blutstropfen, und nur auf Grund seines starken Heimatgefühles schwang er
sich zu der Höhe empor, welche er in der Literatur der Gegenwart einnimmt;
allein vollständig frei vou niederem Fanatismus und durchdrungen von der
humanen Bildung seiner Zeit, gab er jedem Volke die ihm gebührende Ehre.
Seine Vaterlandsliebe, so rein und so glühend wie sie auch war, hatte sich ge¬
wissermaßen mit einer kosmopolitischen Weltanschauung umkränzt, die man, so
sonderbar das auch klingen mag, nirgends besser erlernt als in Se. Petersburg.

Bemerkenswert sind noch die fünf Aphorismen, welche er am Ende seines
Lebens seinem Freunde Polonski empfiehlt: 1. "Es geschieht nie etwas Uner¬
wartetes; denn sogar die Dummen haben ihre Logik." 2. "Ahnungen gehen nie
in Erfüllung." 3. "Die Nachrichten, welche als vollständig wahr mitgeteilt
werden, sind immer falsch." 4. "Man soll über die Vergangenheit nachdenken,


Die Briefe Turgenjews.

Glauben für irgend eine niedere Art Religion, für etwas Geringeres halten,
und ich thäte es auch. Da bist du aber vollständig im Irrtum. Denn nach
meiner Ansicht sind das nur zwei Arten ein- und derselben Formation, und wenn
wir die Bulgaren befreie», so dürfen wir uns nicht von dem Gedanken leiten
lassen, daß diese Christen und die Türken Muhamedaner sind, sondern wir
müssen nur das im Auge behalten, daß die Bulgaren von den Türken geplündert
und hingeschlachtet werden." Im 195. Briefe heißt es: „Den Aufsatz von Aksa-
kow über Th. I. Tjuttschew habe ich gelesen; er ist sehr hübsch, besonders
der erste Teil. Mit seinen Anschauungen über die Rettung Europas, welche
W^si von der Einführung unsers orthodoxen Glaubens abhängt, kann ich mich
nicht befreunden, finde dieselben sogar etwas sonderbar. Übrigens, was passirt
nicht alles!"

Wiederholt hat man Turgenjew den Vorwurf gemacht, er sei ein Deutschen¬
feind gewesen. Das ist entschieden eine Verleumdung. In der Vorrede zu der bei
Behre in Mietau erschienenen deutscheu Übersetzung seiner auserwählten Werke
erzählt er selbst, daß er „Deutschland wie sein zweites Vaterland liebe und
verehre." Man lese ferner seine Briefe aus dem Jahre 1870, wo er mehrere
Mouate in Baden-Baden verlebte. „Über die ganze Abscheulichkeit des Krieges
— schreibt er —, will ich mich uicht auslassen — er war unvermeidlich, und die
Deutschen fühlten es. Eine patriotische Begeisterung bemächtigte sich ihrer wie
im Jahre 1813, aber es stehen ihnen schwere Zeiten bevor." Weiter: „Die
Preußen, welche ich am 15. Juli in Berlin sah, zweifelten keinen Augenblick
an ihrem Siege, aber ich schrieb dies ihrem Patriotismus zu. Es zeigt sich,
daß sie wußte», was sie sagten." Im folgenden Briefe bemerkt er: „Wir leben
in einer bedeutungsvollen Zeit; vor unsern Augen geht die leitende Rolle in
der Geschichte von einem Stamme, dem lateinischen, zu einem andern, dem ger¬
manischen, über. Der Fall des garstigen Kaisertums Napoleons verschaffte mir
große Freude; nach so langer Erwartung empfand ich eine moralische Befrie¬
digung." Turgenjew war ein Russe durch und durch, ein Russe in jedem
Blutstropfen, und nur auf Grund seines starken Heimatgefühles schwang er
sich zu der Höhe empor, welche er in der Literatur der Gegenwart einnimmt;
allein vollständig frei vou niederem Fanatismus und durchdrungen von der
humanen Bildung seiner Zeit, gab er jedem Volke die ihm gebührende Ehre.
Seine Vaterlandsliebe, so rein und so glühend wie sie auch war, hatte sich ge¬
wissermaßen mit einer kosmopolitischen Weltanschauung umkränzt, die man, so
sonderbar das auch klingen mag, nirgends besser erlernt als in Se. Petersburg.

Bemerkenswert sind noch die fünf Aphorismen, welche er am Ende seines
Lebens seinem Freunde Polonski empfiehlt: 1. „Es geschieht nie etwas Uner¬
wartetes; denn sogar die Dummen haben ihre Logik." 2. „Ahnungen gehen nie
in Erfüllung." 3. „Die Nachrichten, welche als vollständig wahr mitgeteilt
werden, sind immer falsch." 4. „Man soll über die Vergangenheit nachdenken,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/180>, abgerufen am 27.09.2024.