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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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Tand und Leute in Bulgarien.

daß Kanitz es für unerlaubt hielt, in einem solchen Nachtherberge zu nehmen;
doch darf man sich nach Versicherung dieses Reisenden dabei nichts Arges denken.

Im allgemeinen ist der bulgarische Landmann Eigentümer des Bodens,
den er bebaut, und des Hauses, in welchem er wohnt. Doch findet sich in
manchen Gegenden, besonders in Ostrumelien, auch ein Pachtsystem, nach welchem
der Reiche dem unbemittelten Bauer Saatkorn, bisweilen Ochsen oder Büffel
für den Pflug und den Erntewagen, manchmal selbst diese und andre Geräte
liefert und dafür von dem Pächter einen Zins erhält, der zwischen vierzig und
sechzig Prozent des Reinertrages schwankt. In andern Strichen des Landes,
vorzüglich im westlichen Bulgarien, besteht, beiläufig wie in Serbien, eine dem
Mir der Russen entsprechende Einrichtung, nach welcher der gesamte Grund
und Boden des Dorfes der Gemeinde gehört und die Familienhüupter ihn nach
Verlauf einer Reihe von Jahren immer von neuem durch Verloosung unter sich
verteilen, wobei nur die männlichen Einwohner von einem bestimmten Alter
berücksichtigt werden.

Weder das Christentum noch der Islam hat unter den Bulgaren das Heiden¬
tum ausrotten können. Es hat sich nur teilweise verwandelt und dem Christen-
tume anbequemt und lebt neben demselben als Aberglaube fort, zum Teil in
ganz unverfälschten Resten des alten Vorstellungskreises. In vielen Volksliedern
dieser thrazischen Lande ist die Sonne als göttliches Wesen, als die eigentlich
die Welt regierende Persönlichkeit gedacht, die zwischen der Menschheit und dein
zwar allmächtigen, aber in Unthätigkeit verharrenden Gott Vater vermittelt.
Sie ist aber eine Gottheit, deren Leben im Jahre verläuft und wieder verläuft
und sich in ihren Manifestationen an die christlichen Feste anschließt. Weihnachten
(bulgarisch "Boschitsch," d. h. der kleine Gott) feiert nicht Gott als Sohn, sondern
die Sonne als gleichsam neugeboren, als noch unkrüftig, aber dennoch Segen
verheißend, Ostern ist ein Fest des Sieges der Sonne über den Drachen des
Winters. In den bulgarischen Liedern ist von einer Mutter der Souue, von
ihrer Schwester, dem Monde, von ihrer Gemahlin, dem Morgenstern, die Rede;
in andern erscheint der Sonnengott unheimlich und gefährlich, weil seine Liebe
zu irdischen Frauen diesen gewöhnlich verhängnisvoll wird. Im heiligen Elias
lebt der Gewittergott der alten Naturreligion fort. Wie alle Südslawen glauben
die Bulgaren an Samodiven und Samowilen, einsam in den Wäldern und an
Gewässern hausende halbgöttliche Wesen weiblichen Geschlechts, die gleich den
Nymphen der altgriechischen Welt dort Tänze aufführen und bisweilen zu Helden
in Beziehung treten, ja sich selbst mit ihnen vermählen, meist aber durch ihre
Berührung mit ihnen Unheil veranlassen. Neben ihnen giebt es Judas, eine
Art Nixen, von denen Miladinow sagt, die Juda, die auch Sela heiße, sei eine
Frau mit langen Haaren, welche an Flüssen und Seen Hause und die sich zu ihr
verirrenden Menschen mit dem Netze ihrer Locken fange, um sie im Wasser zu er¬
tränken. Ferner giebt es Naritschnitzen, Bestimmerinnen, deren drei sind, und


Tand und Leute in Bulgarien.

daß Kanitz es für unerlaubt hielt, in einem solchen Nachtherberge zu nehmen;
doch darf man sich nach Versicherung dieses Reisenden dabei nichts Arges denken.

Im allgemeinen ist der bulgarische Landmann Eigentümer des Bodens,
den er bebaut, und des Hauses, in welchem er wohnt. Doch findet sich in
manchen Gegenden, besonders in Ostrumelien, auch ein Pachtsystem, nach welchem
der Reiche dem unbemittelten Bauer Saatkorn, bisweilen Ochsen oder Büffel
für den Pflug und den Erntewagen, manchmal selbst diese und andre Geräte
liefert und dafür von dem Pächter einen Zins erhält, der zwischen vierzig und
sechzig Prozent des Reinertrages schwankt. In andern Strichen des Landes,
vorzüglich im westlichen Bulgarien, besteht, beiläufig wie in Serbien, eine dem
Mir der Russen entsprechende Einrichtung, nach welcher der gesamte Grund
und Boden des Dorfes der Gemeinde gehört und die Familienhüupter ihn nach
Verlauf einer Reihe von Jahren immer von neuem durch Verloosung unter sich
verteilen, wobei nur die männlichen Einwohner von einem bestimmten Alter
berücksichtigt werden.

Weder das Christentum noch der Islam hat unter den Bulgaren das Heiden¬
tum ausrotten können. Es hat sich nur teilweise verwandelt und dem Christen-
tume anbequemt und lebt neben demselben als Aberglaube fort, zum Teil in
ganz unverfälschten Resten des alten Vorstellungskreises. In vielen Volksliedern
dieser thrazischen Lande ist die Sonne als göttliches Wesen, als die eigentlich
die Welt regierende Persönlichkeit gedacht, die zwischen der Menschheit und dein
zwar allmächtigen, aber in Unthätigkeit verharrenden Gott Vater vermittelt.
Sie ist aber eine Gottheit, deren Leben im Jahre verläuft und wieder verläuft
und sich in ihren Manifestationen an die christlichen Feste anschließt. Weihnachten
(bulgarisch „Boschitsch," d. h. der kleine Gott) feiert nicht Gott als Sohn, sondern
die Sonne als gleichsam neugeboren, als noch unkrüftig, aber dennoch Segen
verheißend, Ostern ist ein Fest des Sieges der Sonne über den Drachen des
Winters. In den bulgarischen Liedern ist von einer Mutter der Souue, von
ihrer Schwester, dem Monde, von ihrer Gemahlin, dem Morgenstern, die Rede;
in andern erscheint der Sonnengott unheimlich und gefährlich, weil seine Liebe
zu irdischen Frauen diesen gewöhnlich verhängnisvoll wird. Im heiligen Elias
lebt der Gewittergott der alten Naturreligion fort. Wie alle Südslawen glauben
die Bulgaren an Samodiven und Samowilen, einsam in den Wäldern und an
Gewässern hausende halbgöttliche Wesen weiblichen Geschlechts, die gleich den
Nymphen der altgriechischen Welt dort Tänze aufführen und bisweilen zu Helden
in Beziehung treten, ja sich selbst mit ihnen vermählen, meist aber durch ihre
Berührung mit ihnen Unheil veranlassen. Neben ihnen giebt es Judas, eine
Art Nixen, von denen Miladinow sagt, die Juda, die auch Sela heiße, sei eine
Frau mit langen Haaren, welche an Flüssen und Seen Hause und die sich zu ihr
verirrenden Menschen mit dem Netze ihrer Locken fange, um sie im Wasser zu er¬
tränken. Ferner giebt es Naritschnitzen, Bestimmerinnen, deren drei sind, und


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[0167] Tand und Leute in Bulgarien. daß Kanitz es für unerlaubt hielt, in einem solchen Nachtherberge zu nehmen; doch darf man sich nach Versicherung dieses Reisenden dabei nichts Arges denken. Im allgemeinen ist der bulgarische Landmann Eigentümer des Bodens, den er bebaut, und des Hauses, in welchem er wohnt. Doch findet sich in manchen Gegenden, besonders in Ostrumelien, auch ein Pachtsystem, nach welchem der Reiche dem unbemittelten Bauer Saatkorn, bisweilen Ochsen oder Büffel für den Pflug und den Erntewagen, manchmal selbst diese und andre Geräte liefert und dafür von dem Pächter einen Zins erhält, der zwischen vierzig und sechzig Prozent des Reinertrages schwankt. In andern Strichen des Landes, vorzüglich im westlichen Bulgarien, besteht, beiläufig wie in Serbien, eine dem Mir der Russen entsprechende Einrichtung, nach welcher der gesamte Grund und Boden des Dorfes der Gemeinde gehört und die Familienhüupter ihn nach Verlauf einer Reihe von Jahren immer von neuem durch Verloosung unter sich verteilen, wobei nur die männlichen Einwohner von einem bestimmten Alter berücksichtigt werden. Weder das Christentum noch der Islam hat unter den Bulgaren das Heiden¬ tum ausrotten können. Es hat sich nur teilweise verwandelt und dem Christen- tume anbequemt und lebt neben demselben als Aberglaube fort, zum Teil in ganz unverfälschten Resten des alten Vorstellungskreises. In vielen Volksliedern dieser thrazischen Lande ist die Sonne als göttliches Wesen, als die eigentlich die Welt regierende Persönlichkeit gedacht, die zwischen der Menschheit und dein zwar allmächtigen, aber in Unthätigkeit verharrenden Gott Vater vermittelt. Sie ist aber eine Gottheit, deren Leben im Jahre verläuft und wieder verläuft und sich in ihren Manifestationen an die christlichen Feste anschließt. Weihnachten (bulgarisch „Boschitsch," d. h. der kleine Gott) feiert nicht Gott als Sohn, sondern die Sonne als gleichsam neugeboren, als noch unkrüftig, aber dennoch Segen verheißend, Ostern ist ein Fest des Sieges der Sonne über den Drachen des Winters. In den bulgarischen Liedern ist von einer Mutter der Souue, von ihrer Schwester, dem Monde, von ihrer Gemahlin, dem Morgenstern, die Rede; in andern erscheint der Sonnengott unheimlich und gefährlich, weil seine Liebe zu irdischen Frauen diesen gewöhnlich verhängnisvoll wird. Im heiligen Elias lebt der Gewittergott der alten Naturreligion fort. Wie alle Südslawen glauben die Bulgaren an Samodiven und Samowilen, einsam in den Wäldern und an Gewässern hausende halbgöttliche Wesen weiblichen Geschlechts, die gleich den Nymphen der altgriechischen Welt dort Tänze aufführen und bisweilen zu Helden in Beziehung treten, ja sich selbst mit ihnen vermählen, meist aber durch ihre Berührung mit ihnen Unheil veranlassen. Neben ihnen giebt es Judas, eine Art Nixen, von denen Miladinow sagt, die Juda, die auch Sela heiße, sei eine Frau mit langen Haaren, welche an Flüssen und Seen Hause und die sich zu ihr verirrenden Menschen mit dem Netze ihrer Locken fange, um sie im Wasser zu er¬ tränken. Ferner giebt es Naritschnitzen, Bestimmerinnen, deren drei sind, und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/167>, abgerufen am 27.09.2024.