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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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Land und Teute in Bulgarien.

Pfarrkindern unverständlich sein.,. Seelsorge ist unbekannt, selbst von Predigt
nicht die Rede. Der bulgarische Priester ist ein bescheidner Mann. Vom Bauer
teilweise erhalten, sucht er sich ihm angenehm zu machen, nicht aber seinen
geistlichen Herrn zu spielen... Hat er doch den Bischof für seine Bestätigung
baar zu bezahlen, und muß er doch nunmehr die Spendung der gepachteten
Heiligtümer möglichst einträglich zu gestalten suchen, und welcher Bauer würde
sich von einem andern Bauer, der sich von ihm nu" durch die Weihen unterscheidet,
belehren, beherrschen und überhaupt in seine Angelegenheiten hineinreden lassen...
Es giebt mithin in Bulgarien weder eine Aristokratie, noch eine Priesterschaft,
die sich zu politischen Zwecken verwenden ließe, noch eine Klasse von Reichen
und Gebildeten, welche ans die Bauern einwirken konnte. Die einzige organisirte
Macht, welche der Regierung oder der gerade herrschenden Partei zu Gebote
steht, liegt im Militär und Beamtentum."

Sieht man von den größern Städten ab, so zeigt Bulgarien in Ernährung,
Gesittung und gesellschaftlicher Ordnung etwa die Zustände, die in Deutschland
vor tausend Jahren herrschte". Bildung und Kenntnis beschränken sich auf sehr
enge Kreise. Geistige Wildnis, in welcher grober Egoismus dem nächsten Be¬
dürfnis nachgeht, umdunkelt diese Stellen allenthalben. Die ungeheure Mehrzahl
des Volkes besteht aus kleinen Grundbesitzern, welche meist in kommunistisch ge¬
stalteten Familicnverbänden mit mehrere" Generationen uuter demselben Dache
beisammen Hausen, was beiläufig bei allen Südslaweu vorkommt. Gvptschewitsch
sah in einem Hause nicht weniger als sechs Generationen mit fünfunddreißig
Persvue" zusammengepfercht, wozu noch vier Schwiegermütter und Schwägerinnen
kamen. Die Familie setzte sich zusammen, wie folgt: der Urahn (Starjeschina)
und dessen Frau, beide angeblich über hundert, ein Sohn und eine Tochter der
beiden, siebzig bis achtzig, drei Enkel, fünfundvierzig bis sechzig, sieben Urenkel
und zwei Frmien derselben, zwischen zwanzig und vierzig, sechzehn Ururenkel
weiblichen und männlichen Geschlechts zwischen zwei und zwanzig Jahren alt,
von denen der eine seine Gattin und einen Sprößling von etwa elf Monaten
bei sich hatte. Diese großen Hausgenosseuschaften entstehen dadurch, daß die
heiratenden Söhne bei den Eltern bleiben und die verwitweten Töchter gewöhnlich
zu diesen zurückkehren. Wird das Hans schließlich zu eng, so baut sich der
zuletzt Heiratende neben dem Stammhause eine besondre Hütte. So entwickelt
sich allmählich ein Dorf, dessen Bewohner sämtlich nahe verwandt miteinander
sind und welches der Urahn mit unbeschränktem Ansehen regiert. Die Frauen
erfreuen sich einer bessern Stellung und Behandlung als in Serbien und gar
in Montenegro, wo sie nicht viel mehr als Sklavinnen der Männer sind. Sie
helfe" bei der Feldarbeit und weben , nähen und sticken die Kleidung für die
Familie, wobei sie oft viel Geschmack entwickeln. Man rühmt ihnen Sittsamkeit
und eheliche Treue nach. In den Nonnenklöstern herrscht große Ungebunden-
heit. Mit der Klausur wird es uicht streug genommen, und mau wunderte sich,


Land und Teute in Bulgarien.

Pfarrkindern unverständlich sein.,. Seelsorge ist unbekannt, selbst von Predigt
nicht die Rede. Der bulgarische Priester ist ein bescheidner Mann. Vom Bauer
teilweise erhalten, sucht er sich ihm angenehm zu machen, nicht aber seinen
geistlichen Herrn zu spielen... Hat er doch den Bischof für seine Bestätigung
baar zu bezahlen, und muß er doch nunmehr die Spendung der gepachteten
Heiligtümer möglichst einträglich zu gestalten suchen, und welcher Bauer würde
sich von einem andern Bauer, der sich von ihm nu« durch die Weihen unterscheidet,
belehren, beherrschen und überhaupt in seine Angelegenheiten hineinreden lassen...
Es giebt mithin in Bulgarien weder eine Aristokratie, noch eine Priesterschaft,
die sich zu politischen Zwecken verwenden ließe, noch eine Klasse von Reichen
und Gebildeten, welche ans die Bauern einwirken konnte. Die einzige organisirte
Macht, welche der Regierung oder der gerade herrschenden Partei zu Gebote
steht, liegt im Militär und Beamtentum."

Sieht man von den größern Städten ab, so zeigt Bulgarien in Ernährung,
Gesittung und gesellschaftlicher Ordnung etwa die Zustände, die in Deutschland
vor tausend Jahren herrschte». Bildung und Kenntnis beschränken sich auf sehr
enge Kreise. Geistige Wildnis, in welcher grober Egoismus dem nächsten Be¬
dürfnis nachgeht, umdunkelt diese Stellen allenthalben. Die ungeheure Mehrzahl
des Volkes besteht aus kleinen Grundbesitzern, welche meist in kommunistisch ge¬
stalteten Familicnverbänden mit mehrere» Generationen uuter demselben Dache
beisammen Hausen, was beiläufig bei allen Südslaweu vorkommt. Gvptschewitsch
sah in einem Hause nicht weniger als sechs Generationen mit fünfunddreißig
Persvue» zusammengepfercht, wozu noch vier Schwiegermütter und Schwägerinnen
kamen. Die Familie setzte sich zusammen, wie folgt: der Urahn (Starjeschina)
und dessen Frau, beide angeblich über hundert, ein Sohn und eine Tochter der
beiden, siebzig bis achtzig, drei Enkel, fünfundvierzig bis sechzig, sieben Urenkel
und zwei Frmien derselben, zwischen zwanzig und vierzig, sechzehn Ururenkel
weiblichen und männlichen Geschlechts zwischen zwei und zwanzig Jahren alt,
von denen der eine seine Gattin und einen Sprößling von etwa elf Monaten
bei sich hatte. Diese großen Hausgenosseuschaften entstehen dadurch, daß die
heiratenden Söhne bei den Eltern bleiben und die verwitweten Töchter gewöhnlich
zu diesen zurückkehren. Wird das Hans schließlich zu eng, so baut sich der
zuletzt Heiratende neben dem Stammhause eine besondre Hütte. So entwickelt
sich allmählich ein Dorf, dessen Bewohner sämtlich nahe verwandt miteinander
sind und welches der Urahn mit unbeschränktem Ansehen regiert. Die Frauen
erfreuen sich einer bessern Stellung und Behandlung als in Serbien und gar
in Montenegro, wo sie nicht viel mehr als Sklavinnen der Männer sind. Sie
helfe» bei der Feldarbeit und weben , nähen und sticken die Kleidung für die
Familie, wobei sie oft viel Geschmack entwickeln. Man rühmt ihnen Sittsamkeit
und eheliche Treue nach. In den Nonnenklöstern herrscht große Ungebunden-
heit. Mit der Klausur wird es uicht streug genommen, und mau wunderte sich,


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[0166] Land und Teute in Bulgarien. Pfarrkindern unverständlich sein.,. Seelsorge ist unbekannt, selbst von Predigt nicht die Rede. Der bulgarische Priester ist ein bescheidner Mann. Vom Bauer teilweise erhalten, sucht er sich ihm angenehm zu machen, nicht aber seinen geistlichen Herrn zu spielen... Hat er doch den Bischof für seine Bestätigung baar zu bezahlen, und muß er doch nunmehr die Spendung der gepachteten Heiligtümer möglichst einträglich zu gestalten suchen, und welcher Bauer würde sich von einem andern Bauer, der sich von ihm nu« durch die Weihen unterscheidet, belehren, beherrschen und überhaupt in seine Angelegenheiten hineinreden lassen... Es giebt mithin in Bulgarien weder eine Aristokratie, noch eine Priesterschaft, die sich zu politischen Zwecken verwenden ließe, noch eine Klasse von Reichen und Gebildeten, welche ans die Bauern einwirken konnte. Die einzige organisirte Macht, welche der Regierung oder der gerade herrschenden Partei zu Gebote steht, liegt im Militär und Beamtentum." Sieht man von den größern Städten ab, so zeigt Bulgarien in Ernährung, Gesittung und gesellschaftlicher Ordnung etwa die Zustände, die in Deutschland vor tausend Jahren herrschte». Bildung und Kenntnis beschränken sich auf sehr enge Kreise. Geistige Wildnis, in welcher grober Egoismus dem nächsten Be¬ dürfnis nachgeht, umdunkelt diese Stellen allenthalben. Die ungeheure Mehrzahl des Volkes besteht aus kleinen Grundbesitzern, welche meist in kommunistisch ge¬ stalteten Familicnverbänden mit mehrere» Generationen uuter demselben Dache beisammen Hausen, was beiläufig bei allen Südslaweu vorkommt. Gvptschewitsch sah in einem Hause nicht weniger als sechs Generationen mit fünfunddreißig Persvue» zusammengepfercht, wozu noch vier Schwiegermütter und Schwägerinnen kamen. Die Familie setzte sich zusammen, wie folgt: der Urahn (Starjeschina) und dessen Frau, beide angeblich über hundert, ein Sohn und eine Tochter der beiden, siebzig bis achtzig, drei Enkel, fünfundvierzig bis sechzig, sieben Urenkel und zwei Frmien derselben, zwischen zwanzig und vierzig, sechzehn Ururenkel weiblichen und männlichen Geschlechts zwischen zwei und zwanzig Jahren alt, von denen der eine seine Gattin und einen Sprößling von etwa elf Monaten bei sich hatte. Diese großen Hausgenosseuschaften entstehen dadurch, daß die heiratenden Söhne bei den Eltern bleiben und die verwitweten Töchter gewöhnlich zu diesen zurückkehren. Wird das Hans schließlich zu eng, so baut sich der zuletzt Heiratende neben dem Stammhause eine besondre Hütte. So entwickelt sich allmählich ein Dorf, dessen Bewohner sämtlich nahe verwandt miteinander sind und welches der Urahn mit unbeschränktem Ansehen regiert. Die Frauen erfreuen sich einer bessern Stellung und Behandlung als in Serbien und gar in Montenegro, wo sie nicht viel mehr als Sklavinnen der Männer sind. Sie helfe» bei der Feldarbeit und weben , nähen und sticken die Kleidung für die Familie, wobei sie oft viel Geschmack entwickeln. Man rühmt ihnen Sittsamkeit und eheliche Treue nach. In den Nonnenklöstern herrscht große Ungebunden- heit. Mit der Klausur wird es uicht streug genommen, und mau wunderte sich,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/166>, abgerufen am 20.10.2024.