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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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Land und Leute in Bulgarien.

allen Grund hatte, von der Nachsucht und dem Eigennutz der Bulgaren für ihr
Leben und Eigentum zu fürchten. Es gehört zu den Verdiensten des Fürsten
Alexander, daß er ihnen Sicherheit und gleiches Recht mit seinen übrigen Unter¬
thanen verschaffte. Über diese Massenflucht des muhamedanischen Elements be¬
sitzen wir von dem Konsul Sax interessante Berichte. Sie begann bereits vor
zehn Jahren und nahm rasch den Charakter einer förmlichen Völkerwanderung
an, die dem Lande allmählich fast eine Million Menschen entführte, welche nur
zum Teil durch Einwanderung uichtmuhamedauischer Slawen ausgeglichen
wurde. Die Bewegung nahm ihren Anfang mit dem Bnlgarenaufstande von
1876. Dann folgte bei Beginn des russisch-türkischen Krieges als zweiter Akt
der eilige Abzug der von der Pforte in Bulgarien angesiedelten Tscherkessen,
denen nach dem ersten Übergange des Generals Gurko über den Balkan viele
ihrer türkischen Glaubensgenossen nachzogen. Nach dem Falle Plewnas flohen
fast alle Muslime aus der Gegend von Sofia. Um Neujahr 1878 begann
hierauf die allgemeine, mit großen Menschenverlusten verbundene Flucht der
Türken und Tscherkessen ans dem ganzen nördlichen und mittleren Thrazien
nach Kleinasien und Syrien. Bei dein Rückmärsche der russischen Armee von
San Stefano nach Ostrumelien zogen an 60009 Bulgaren des türkischen
Grenzgebietes mit ihr, um sich in den von den Türken verlassenen Ortschaften an¬
zusiedeln. Es waren ihrer jedoch zu viele herbeigeströmt, sodaß nicht weniger als
42 000 die erwarteten Lündereien nicht bekommen konnten und infolge dessen
nach der Umgegend von Adrianopel zurückkehrten. Auch eine große Anzahl der
aus dem Lande geflohenen Türken versuchte um diese Zeit, ihren Grundbesitz
in Ostrumelien wieder einzunehmen, scheiterte aber damit an dem Widerstande
der neuen bulgarischen Herren desselben, und es kam, im Herbst 1879, zu argen
Gewaltthaten und blutiger Verfolgung der Muhcuncdcmer, die einen weitern
Abzug dieses Elements im Gefolge hatte. Die Flüchtlinge gingen teils nach
Konstantinopel, teils nach der zu Rumänien geschlagenen, wenig einladenden
Dobrutscha. Wie in dem Fürsteutume wurde ihren zurückgebliebenen Glaubens-
genossen auch in Ostrumelien von jetzt an von der Behörde Schutz vor weiterer
Beraubung und Mißhandlung zugesagt und in der Hauptsache auch verschafft.
Indes blieb ihre Lage immerhin so ungewiß und unbehaglich, daß ohne Zweifel
die meisten von ihnen schon ausgewandert sein würden, wenn sie ihre Güter
einigermaßen Hütten verkaufen können, und obwohl dies nicht der Fall war,
dauerte der Exodus der Türken ans beiden Hülsten Bulgariens doch bis jetzt
in großem Maßstabe fort. Aus den Gegenden südlich vom Balkan sind noch
im Jahre 1883 deren mindestens 50000 nach Kleinasien ausgewandert, und
es wird angenommen, daß gegenwärtig die muslimische Bevölkerung ganz Bul¬
gariens nicht viel mehr als eine halbe Million Seelen zählt.

Die Bulgaren werden jetzt den Südslawen zugerechnet, da ihre Sprache im
wesentlichen mit der serbischen übereinstimmt, die wiederum in der Hauptsache


Land und Leute in Bulgarien.

allen Grund hatte, von der Nachsucht und dem Eigennutz der Bulgaren für ihr
Leben und Eigentum zu fürchten. Es gehört zu den Verdiensten des Fürsten
Alexander, daß er ihnen Sicherheit und gleiches Recht mit seinen übrigen Unter¬
thanen verschaffte. Über diese Massenflucht des muhamedanischen Elements be¬
sitzen wir von dem Konsul Sax interessante Berichte. Sie begann bereits vor
zehn Jahren und nahm rasch den Charakter einer förmlichen Völkerwanderung
an, die dem Lande allmählich fast eine Million Menschen entführte, welche nur
zum Teil durch Einwanderung uichtmuhamedauischer Slawen ausgeglichen
wurde. Die Bewegung nahm ihren Anfang mit dem Bnlgarenaufstande von
1876. Dann folgte bei Beginn des russisch-türkischen Krieges als zweiter Akt
der eilige Abzug der von der Pforte in Bulgarien angesiedelten Tscherkessen,
denen nach dem ersten Übergange des Generals Gurko über den Balkan viele
ihrer türkischen Glaubensgenossen nachzogen. Nach dem Falle Plewnas flohen
fast alle Muslime aus der Gegend von Sofia. Um Neujahr 1878 begann
hierauf die allgemeine, mit großen Menschenverlusten verbundene Flucht der
Türken und Tscherkessen ans dem ganzen nördlichen und mittleren Thrazien
nach Kleinasien und Syrien. Bei dein Rückmärsche der russischen Armee von
San Stefano nach Ostrumelien zogen an 60009 Bulgaren des türkischen
Grenzgebietes mit ihr, um sich in den von den Türken verlassenen Ortschaften an¬
zusiedeln. Es waren ihrer jedoch zu viele herbeigeströmt, sodaß nicht weniger als
42 000 die erwarteten Lündereien nicht bekommen konnten und infolge dessen
nach der Umgegend von Adrianopel zurückkehrten. Auch eine große Anzahl der
aus dem Lande geflohenen Türken versuchte um diese Zeit, ihren Grundbesitz
in Ostrumelien wieder einzunehmen, scheiterte aber damit an dem Widerstande
der neuen bulgarischen Herren desselben, und es kam, im Herbst 1879, zu argen
Gewaltthaten und blutiger Verfolgung der Muhcuncdcmer, die einen weitern
Abzug dieses Elements im Gefolge hatte. Die Flüchtlinge gingen teils nach
Konstantinopel, teils nach der zu Rumänien geschlagenen, wenig einladenden
Dobrutscha. Wie in dem Fürsteutume wurde ihren zurückgebliebenen Glaubens-
genossen auch in Ostrumelien von jetzt an von der Behörde Schutz vor weiterer
Beraubung und Mißhandlung zugesagt und in der Hauptsache auch verschafft.
Indes blieb ihre Lage immerhin so ungewiß und unbehaglich, daß ohne Zweifel
die meisten von ihnen schon ausgewandert sein würden, wenn sie ihre Güter
einigermaßen Hütten verkaufen können, und obwohl dies nicht der Fall war,
dauerte der Exodus der Türken ans beiden Hülsten Bulgariens doch bis jetzt
in großem Maßstabe fort. Aus den Gegenden südlich vom Balkan sind noch
im Jahre 1883 deren mindestens 50000 nach Kleinasien ausgewandert, und
es wird angenommen, daß gegenwärtig die muslimische Bevölkerung ganz Bul¬
gariens nicht viel mehr als eine halbe Million Seelen zählt.

Die Bulgaren werden jetzt den Südslawen zugerechnet, da ihre Sprache im
wesentlichen mit der serbischen übereinstimmt, die wiederum in der Hauptsache


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[0163] Land und Leute in Bulgarien. allen Grund hatte, von der Nachsucht und dem Eigennutz der Bulgaren für ihr Leben und Eigentum zu fürchten. Es gehört zu den Verdiensten des Fürsten Alexander, daß er ihnen Sicherheit und gleiches Recht mit seinen übrigen Unter¬ thanen verschaffte. Über diese Massenflucht des muhamedanischen Elements be¬ sitzen wir von dem Konsul Sax interessante Berichte. Sie begann bereits vor zehn Jahren und nahm rasch den Charakter einer förmlichen Völkerwanderung an, die dem Lande allmählich fast eine Million Menschen entführte, welche nur zum Teil durch Einwanderung uichtmuhamedauischer Slawen ausgeglichen wurde. Die Bewegung nahm ihren Anfang mit dem Bnlgarenaufstande von 1876. Dann folgte bei Beginn des russisch-türkischen Krieges als zweiter Akt der eilige Abzug der von der Pforte in Bulgarien angesiedelten Tscherkessen, denen nach dem ersten Übergange des Generals Gurko über den Balkan viele ihrer türkischen Glaubensgenossen nachzogen. Nach dem Falle Plewnas flohen fast alle Muslime aus der Gegend von Sofia. Um Neujahr 1878 begann hierauf die allgemeine, mit großen Menschenverlusten verbundene Flucht der Türken und Tscherkessen ans dem ganzen nördlichen und mittleren Thrazien nach Kleinasien und Syrien. Bei dein Rückmärsche der russischen Armee von San Stefano nach Ostrumelien zogen an 60009 Bulgaren des türkischen Grenzgebietes mit ihr, um sich in den von den Türken verlassenen Ortschaften an¬ zusiedeln. Es waren ihrer jedoch zu viele herbeigeströmt, sodaß nicht weniger als 42 000 die erwarteten Lündereien nicht bekommen konnten und infolge dessen nach der Umgegend von Adrianopel zurückkehrten. Auch eine große Anzahl der aus dem Lande geflohenen Türken versuchte um diese Zeit, ihren Grundbesitz in Ostrumelien wieder einzunehmen, scheiterte aber damit an dem Widerstande der neuen bulgarischen Herren desselben, und es kam, im Herbst 1879, zu argen Gewaltthaten und blutiger Verfolgung der Muhcuncdcmer, die einen weitern Abzug dieses Elements im Gefolge hatte. Die Flüchtlinge gingen teils nach Konstantinopel, teils nach der zu Rumänien geschlagenen, wenig einladenden Dobrutscha. Wie in dem Fürsteutume wurde ihren zurückgebliebenen Glaubens- genossen auch in Ostrumelien von jetzt an von der Behörde Schutz vor weiterer Beraubung und Mißhandlung zugesagt und in der Hauptsache auch verschafft. Indes blieb ihre Lage immerhin so ungewiß und unbehaglich, daß ohne Zweifel die meisten von ihnen schon ausgewandert sein würden, wenn sie ihre Güter einigermaßen Hütten verkaufen können, und obwohl dies nicht der Fall war, dauerte der Exodus der Türken ans beiden Hülsten Bulgariens doch bis jetzt in großem Maßstabe fort. Aus den Gegenden südlich vom Balkan sind noch im Jahre 1883 deren mindestens 50000 nach Kleinasien ausgewandert, und es wird angenommen, daß gegenwärtig die muslimische Bevölkerung ganz Bul¬ gariens nicht viel mehr als eine halbe Million Seelen zählt. Die Bulgaren werden jetzt den Südslawen zugerechnet, da ihre Sprache im wesentlichen mit der serbischen übereinstimmt, die wiederum in der Hauptsache

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/163>, abgerufen am 27.09.2024.