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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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Zur Reform des juristischen Studiums.

dies schon deshalb nicht thun können, weil der Vortragende mit Rücksicht auf
die erwähnten Grenzen in der Regel nur die eigne Ansicht als richtig vor¬
trägt und die der andern kaum zu berühren vermag. Es verfehlt auch kein
Dozent, seinen Zuhörern ein oder mehrere Hand- und Lehrbücher für das Studium
zu empfehlen. Soll aber in den Kollegien nur die durch den mündlichen
Vortrag gegebene Anregung die Hauptsache sein, dann erscheint unter den ob¬
waltenden Verhältnissen die auf sie gewendete Zeit und Mühe vergeblich.
Einmal werden nur wenige Dozenten diesen Zweck erfüllen; bei der Berufung
zu einem akademischen Lehrstuhl kommt die Lehrfähigkeit heutzutage garnicht in
Betracht. Wir wollen von dein Koterie- und Protektionswesen, welches an
den Universitäten einen sehr großen Raum einnimmt, ganz absehen. Wer in
der juristischen Fakultät -- alle andern bleiben hier außer Betracht -- Professor
werden will, hat sich durch literarische Thätigkeit auszuzeichnen. Eine mehr oder
minder umfangreiche Abhandlung über einen nahe oder entfernt liegende"
Gegenstand, und in neuerer Zeit oft rein philologischer Natur, bildet die Legi¬
timation zum akademischen Lehrer. Da giebt es grundgelehrte Herren, welche
in der römischen Rechtsgeschichte zur Zeit des Servius Tullius so bewandert sind,
als wenn sie in dem Senat dieses Königs säßen, und welche nicht imstande
sind, durch ihren Vortrag den Zuhörer auch nur auf wenige Minuten zu fesseln.
Sie tragen stundenlang das alte Sakralrecht der Römer vor, ohne anch
nnr zu bedenken, daß der Anfänger für diese Finessen keine Teilnahme em¬
pfinden kann. Bald diktiren sie eintönig, sodaß das Kolleg in eine Schreib¬
übung ausartet, bald wechseln sie mit Vortrag und Diktat ab, sodaß das letztere
nur durch den erster" verständlich wird, es aber für die spätere Zeit nicht
mehr bleibt, wenn der Student darauf zurückgreifen will. Aber auch wenn der
Dozent es versteht, den Zuhörer für den Gegenstand zu erwärmen, so muß
derselbe, um ihn zu lernen, doch wieder auf das Lehrbuch zurückgreifen. Um
nun alle juristischen Disziplinen zu hören, bedarf es durchschnittlich für jedes
Semester fünf Stunden; wollte nnn der Student nach gehörter Vorlesung alle
die Materien auf einmal studiren, was er doch müßte, wenn ihm diese vorteil¬
haft sein soll, so müßte er mehr als dieselbe Zeit noch täglich auf das Studium
der Lehrbücher verwenden. Das heißt aber einem jungen Manne, der eben die
Schule verlassen hat und auch die Freiheit genießen will und soll, Ungebühr¬
liches zumuten. Gelangt der Student zu dieser Einsicht, und dies geschieht
in der Regel nach sehr kurzer Zeit, so bleibt er aus den Vorlesungen weg, sei
es um für sich, durch einen bewanderten Angehörigen gefördert, aus den Lehr¬
büchern sich das Wissenswerte anzueignen, sei es um sich in den letzten Semestern
einem Repetenten anzuvertrauen, welcher mit ihm die Sache bespricht, ihm die
Materie abfragt und ihn so zum Lernen und Verstehen der einzelnen Rechtssätze
anleitet. Das ist aber nur die Schilderung der Lichtseite, welche natürlich auch
ihren Schatten hat. Dieser besteht darin, daß der Student durch die Notlage


Zur Reform des juristischen Studiums.

dies schon deshalb nicht thun können, weil der Vortragende mit Rücksicht auf
die erwähnten Grenzen in der Regel nur die eigne Ansicht als richtig vor¬
trägt und die der andern kaum zu berühren vermag. Es verfehlt auch kein
Dozent, seinen Zuhörern ein oder mehrere Hand- und Lehrbücher für das Studium
zu empfehlen. Soll aber in den Kollegien nur die durch den mündlichen
Vortrag gegebene Anregung die Hauptsache sein, dann erscheint unter den ob¬
waltenden Verhältnissen die auf sie gewendete Zeit und Mühe vergeblich.
Einmal werden nur wenige Dozenten diesen Zweck erfüllen; bei der Berufung
zu einem akademischen Lehrstuhl kommt die Lehrfähigkeit heutzutage garnicht in
Betracht. Wir wollen von dein Koterie- und Protektionswesen, welches an
den Universitäten einen sehr großen Raum einnimmt, ganz absehen. Wer in
der juristischen Fakultät — alle andern bleiben hier außer Betracht — Professor
werden will, hat sich durch literarische Thätigkeit auszuzeichnen. Eine mehr oder
minder umfangreiche Abhandlung über einen nahe oder entfernt liegende»
Gegenstand, und in neuerer Zeit oft rein philologischer Natur, bildet die Legi¬
timation zum akademischen Lehrer. Da giebt es grundgelehrte Herren, welche
in der römischen Rechtsgeschichte zur Zeit des Servius Tullius so bewandert sind,
als wenn sie in dem Senat dieses Königs säßen, und welche nicht imstande
sind, durch ihren Vortrag den Zuhörer auch nur auf wenige Minuten zu fesseln.
Sie tragen stundenlang das alte Sakralrecht der Römer vor, ohne anch
nnr zu bedenken, daß der Anfänger für diese Finessen keine Teilnahme em¬
pfinden kann. Bald diktiren sie eintönig, sodaß das Kolleg in eine Schreib¬
übung ausartet, bald wechseln sie mit Vortrag und Diktat ab, sodaß das letztere
nur durch den erster» verständlich wird, es aber für die spätere Zeit nicht
mehr bleibt, wenn der Student darauf zurückgreifen will. Aber auch wenn der
Dozent es versteht, den Zuhörer für den Gegenstand zu erwärmen, so muß
derselbe, um ihn zu lernen, doch wieder auf das Lehrbuch zurückgreifen. Um
nun alle juristischen Disziplinen zu hören, bedarf es durchschnittlich für jedes
Semester fünf Stunden; wollte nnn der Student nach gehörter Vorlesung alle
die Materien auf einmal studiren, was er doch müßte, wenn ihm diese vorteil¬
haft sein soll, so müßte er mehr als dieselbe Zeit noch täglich auf das Studium
der Lehrbücher verwenden. Das heißt aber einem jungen Manne, der eben die
Schule verlassen hat und auch die Freiheit genießen will und soll, Ungebühr¬
liches zumuten. Gelangt der Student zu dieser Einsicht, und dies geschieht
in der Regel nach sehr kurzer Zeit, so bleibt er aus den Vorlesungen weg, sei
es um für sich, durch einen bewanderten Angehörigen gefördert, aus den Lehr¬
büchern sich das Wissenswerte anzueignen, sei es um sich in den letzten Semestern
einem Repetenten anzuvertrauen, welcher mit ihm die Sache bespricht, ihm die
Materie abfragt und ihn so zum Lernen und Verstehen der einzelnen Rechtssätze
anleitet. Das ist aber nur die Schilderung der Lichtseite, welche natürlich auch
ihren Schatten hat. Dieser besteht darin, daß der Student durch die Notlage


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[0156] Zur Reform des juristischen Studiums. dies schon deshalb nicht thun können, weil der Vortragende mit Rücksicht auf die erwähnten Grenzen in der Regel nur die eigne Ansicht als richtig vor¬ trägt und die der andern kaum zu berühren vermag. Es verfehlt auch kein Dozent, seinen Zuhörern ein oder mehrere Hand- und Lehrbücher für das Studium zu empfehlen. Soll aber in den Kollegien nur die durch den mündlichen Vortrag gegebene Anregung die Hauptsache sein, dann erscheint unter den ob¬ waltenden Verhältnissen die auf sie gewendete Zeit und Mühe vergeblich. Einmal werden nur wenige Dozenten diesen Zweck erfüllen; bei der Berufung zu einem akademischen Lehrstuhl kommt die Lehrfähigkeit heutzutage garnicht in Betracht. Wir wollen von dein Koterie- und Protektionswesen, welches an den Universitäten einen sehr großen Raum einnimmt, ganz absehen. Wer in der juristischen Fakultät — alle andern bleiben hier außer Betracht — Professor werden will, hat sich durch literarische Thätigkeit auszuzeichnen. Eine mehr oder minder umfangreiche Abhandlung über einen nahe oder entfernt liegende» Gegenstand, und in neuerer Zeit oft rein philologischer Natur, bildet die Legi¬ timation zum akademischen Lehrer. Da giebt es grundgelehrte Herren, welche in der römischen Rechtsgeschichte zur Zeit des Servius Tullius so bewandert sind, als wenn sie in dem Senat dieses Königs säßen, und welche nicht imstande sind, durch ihren Vortrag den Zuhörer auch nur auf wenige Minuten zu fesseln. Sie tragen stundenlang das alte Sakralrecht der Römer vor, ohne anch nnr zu bedenken, daß der Anfänger für diese Finessen keine Teilnahme em¬ pfinden kann. Bald diktiren sie eintönig, sodaß das Kolleg in eine Schreib¬ übung ausartet, bald wechseln sie mit Vortrag und Diktat ab, sodaß das letztere nur durch den erster» verständlich wird, es aber für die spätere Zeit nicht mehr bleibt, wenn der Student darauf zurückgreifen will. Aber auch wenn der Dozent es versteht, den Zuhörer für den Gegenstand zu erwärmen, so muß derselbe, um ihn zu lernen, doch wieder auf das Lehrbuch zurückgreifen. Um nun alle juristischen Disziplinen zu hören, bedarf es durchschnittlich für jedes Semester fünf Stunden; wollte nnn der Student nach gehörter Vorlesung alle die Materien auf einmal studiren, was er doch müßte, wenn ihm diese vorteil¬ haft sein soll, so müßte er mehr als dieselbe Zeit noch täglich auf das Studium der Lehrbücher verwenden. Das heißt aber einem jungen Manne, der eben die Schule verlassen hat und auch die Freiheit genießen will und soll, Ungebühr¬ liches zumuten. Gelangt der Student zu dieser Einsicht, und dies geschieht in der Regel nach sehr kurzer Zeit, so bleibt er aus den Vorlesungen weg, sei es um für sich, durch einen bewanderten Angehörigen gefördert, aus den Lehr¬ büchern sich das Wissenswerte anzueignen, sei es um sich in den letzten Semestern einem Repetenten anzuvertrauen, welcher mit ihm die Sache bespricht, ihm die Materie abfragt und ihn so zum Lernen und Verstehen der einzelnen Rechtssätze anleitet. Das ist aber nur die Schilderung der Lichtseite, welche natürlich auch ihren Schatten hat. Dieser besteht darin, daß der Student durch die Notlage

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/156>, abgerufen am 27.09.2024.