Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Theater der Reichshauptstadt.

Tageskost für das Volk eignete. Es glückte nicht recht, und er ging physisch
daran zu Grunde. Herr Direktor Ernst war erfolgreicher mit seinem Gemengsel
von <üg,to ellg.utg.ut und Rührstück, von Operette und Moralpredigt, das er
sich für jedes Halbjahr in einer Stückfabrik, deren Namen man nächstens wohl
garnicht mehr auf den Zetteln finden wird, nach gleichem Rezept zusammen¬
stellen läßt. Das humoristisch-satirische Zeit- und Gesellschaftskouplet ver¬
schwindet immer mehr und macht der Blüte des (Alp <zIig.Qtg.ut, dem Stimmungs-
nnd Charakterkouplet, Platz, das seine Wirkungen ans mimische Metamorphosen
der Vortragenden gründet und seine Hauptwürze freilich aus zweideutige" An¬
spielungen zieht. Daneben taucht, denselben Regionen entstiegen, das senti¬
mentale Lied auf mit musikalischen Schnörkeln mitleiderregender Natur. Letzteres
wird schou geraume Zeit durch eine als Schauspielerin ebenso unfähige, als
durch ihre plastische Erscheinung wirksame frühere Operettensängerin vertreten,
für ersteres ist neuerdings eine dafür sehr geeignete, nicht minder fesche Wienerin
gewonnen worden^; die übrigen Schauspieler, vom alten Stamme, erstarren in
sich selbst, sie werden zur eignen Larve. Da ist kein frischer Ansatz, kein Ton
neuen Lebens. Besonders unangenehm wirkt die hilflos unproduktive Art,
andre Bühnen übertrumpfen zu wollen, wie damals, als Link in der Walhalla-
Operette auf den grotesken Einfall kam, "eine Balleteuse zu machen," und das
Zentraltheater dem alsbald "zwei" Komiker als Balleteusen gegenüberstellte.
Direktor Ernst selbst kopirt Emil Thomas, aber er ist eine grundverschiedene
Natur und es kommt daher auch etwas ganz andres, nicht immer sehr an¬
sprechendes heraus. Es erscheint nach alledem ganz natürlich, daß Thomas,
an dessen Wiege die echte Muse der alten Königsstadt mit ihrem ganzen Ge¬
folge von Genien des Weißbiers gestanden hat, endlich auf den Gedanken
kommen mußte, statt sich bald hier bald dort in fremden Verhältnissen
herumzudrücken, ein Unternehmen so recht nach seinem Sinne dem geschilderten
entgegenzusetzen. Der Erfolg war, obgleich er vor der Hand als Einziger
die ganze Misere, gegen die das heutige Theater zu kämpfen hat, decken mußte
(nämlich schlechte Schauspieler und schlechte Stücke), ein andauernder, ein Be¬
weis, daß es mit dem Bedürfnis des Volkes doch nicht so schlimm bestellt
sein kann. Er greift jetzt vorläufig zu alten bekannten "Zierden" des Possen¬
repertoires zurück, scheint aber auf die Produktion nicht verzichten zu wollen,
wie ein Schlußkouplet andeutet, in welchem er den Mißerfolg des ersten (aller¬
dings nach allen Berichten grausamen) Stückes mit der Versicherung entschuldigt,
daß "sein Dichter gern ans die Unsterblichkeit verzichte." Das glauben wir ihm
auch gern. Ein Possendichter, der auf die Unsterblichkeit losdichtet, ist eine
fürchterliche Vorstellung. Aber mitunter ist sie einem in den Schoß gefallen,
der auch nicht im Traume daran dachte.

Als ausschlaggebender Beleg für das Theaterbedürfnis des Volkes, das
selbst in der niedrigsten Form um eine Welt edler ist und selbst bei der rohesten


Die Theater der Reichshauptstadt.

Tageskost für das Volk eignete. Es glückte nicht recht, und er ging physisch
daran zu Grunde. Herr Direktor Ernst war erfolgreicher mit seinem Gemengsel
von <üg,to ellg.utg.ut und Rührstück, von Operette und Moralpredigt, das er
sich für jedes Halbjahr in einer Stückfabrik, deren Namen man nächstens wohl
garnicht mehr auf den Zetteln finden wird, nach gleichem Rezept zusammen¬
stellen läßt. Das humoristisch-satirische Zeit- und Gesellschaftskouplet ver¬
schwindet immer mehr und macht der Blüte des (Alp <zIig.Qtg.ut, dem Stimmungs-
nnd Charakterkouplet, Platz, das seine Wirkungen ans mimische Metamorphosen
der Vortragenden gründet und seine Hauptwürze freilich aus zweideutige» An¬
spielungen zieht. Daneben taucht, denselben Regionen entstiegen, das senti¬
mentale Lied auf mit musikalischen Schnörkeln mitleiderregender Natur. Letzteres
wird schou geraume Zeit durch eine als Schauspielerin ebenso unfähige, als
durch ihre plastische Erscheinung wirksame frühere Operettensängerin vertreten,
für ersteres ist neuerdings eine dafür sehr geeignete, nicht minder fesche Wienerin
gewonnen worden^; die übrigen Schauspieler, vom alten Stamme, erstarren in
sich selbst, sie werden zur eignen Larve. Da ist kein frischer Ansatz, kein Ton
neuen Lebens. Besonders unangenehm wirkt die hilflos unproduktive Art,
andre Bühnen übertrumpfen zu wollen, wie damals, als Link in der Walhalla-
Operette auf den grotesken Einfall kam, „eine Balleteuse zu machen," und das
Zentraltheater dem alsbald „zwei" Komiker als Balleteusen gegenüberstellte.
Direktor Ernst selbst kopirt Emil Thomas, aber er ist eine grundverschiedene
Natur und es kommt daher auch etwas ganz andres, nicht immer sehr an¬
sprechendes heraus. Es erscheint nach alledem ganz natürlich, daß Thomas,
an dessen Wiege die echte Muse der alten Königsstadt mit ihrem ganzen Ge¬
folge von Genien des Weißbiers gestanden hat, endlich auf den Gedanken
kommen mußte, statt sich bald hier bald dort in fremden Verhältnissen
herumzudrücken, ein Unternehmen so recht nach seinem Sinne dem geschilderten
entgegenzusetzen. Der Erfolg war, obgleich er vor der Hand als Einziger
die ganze Misere, gegen die das heutige Theater zu kämpfen hat, decken mußte
(nämlich schlechte Schauspieler und schlechte Stücke), ein andauernder, ein Be¬
weis, daß es mit dem Bedürfnis des Volkes doch nicht so schlimm bestellt
sein kann. Er greift jetzt vorläufig zu alten bekannten „Zierden" des Possen¬
repertoires zurück, scheint aber auf die Produktion nicht verzichten zu wollen,
wie ein Schlußkouplet andeutet, in welchem er den Mißerfolg des ersten (aller¬
dings nach allen Berichten grausamen) Stückes mit der Versicherung entschuldigt,
daß „sein Dichter gern ans die Unsterblichkeit verzichte." Das glauben wir ihm
auch gern. Ein Possendichter, der auf die Unsterblichkeit losdichtet, ist eine
fürchterliche Vorstellung. Aber mitunter ist sie einem in den Schoß gefallen,
der auch nicht im Traume daran dachte.

Als ausschlaggebender Beleg für das Theaterbedürfnis des Volkes, das
selbst in der niedrigsten Form um eine Welt edler ist und selbst bei der rohesten


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0144" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/199498"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Theater der Reichshauptstadt.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_477" prev="#ID_476"> Tageskost für das Volk eignete. Es glückte nicht recht, und er ging physisch<lb/>
daran zu Grunde. Herr Direktor Ernst war erfolgreicher mit seinem Gemengsel<lb/>
von &lt;üg,to ellg.utg.ut und Rührstück, von Operette und Moralpredigt, das er<lb/>
sich für jedes Halbjahr in einer Stückfabrik, deren Namen man nächstens wohl<lb/>
garnicht mehr auf den Zetteln finden wird, nach gleichem Rezept zusammen¬<lb/>
stellen läßt. Das humoristisch-satirische Zeit- und Gesellschaftskouplet ver¬<lb/>
schwindet immer mehr und macht der Blüte des (Alp &lt;zIig.Qtg.ut, dem Stimmungs-<lb/>
nnd Charakterkouplet, Platz, das seine Wirkungen ans mimische Metamorphosen<lb/>
der Vortragenden gründet und seine Hauptwürze freilich aus zweideutige» An¬<lb/>
spielungen zieht. Daneben taucht, denselben Regionen entstiegen, das senti¬<lb/>
mentale Lied auf mit musikalischen Schnörkeln mitleiderregender Natur. Letzteres<lb/>
wird schou geraume Zeit durch eine als Schauspielerin ebenso unfähige, als<lb/>
durch ihre plastische Erscheinung wirksame frühere Operettensängerin vertreten,<lb/>
für ersteres ist neuerdings eine dafür sehr geeignete, nicht minder fesche Wienerin<lb/>
gewonnen worden^; die übrigen Schauspieler, vom alten Stamme, erstarren in<lb/>
sich selbst, sie werden zur eignen Larve. Da ist kein frischer Ansatz, kein Ton<lb/>
neuen Lebens. Besonders unangenehm wirkt die hilflos unproduktive Art,<lb/>
andre Bühnen übertrumpfen zu wollen, wie damals, als Link in der Walhalla-<lb/>
Operette auf den grotesken Einfall kam, &#x201E;eine Balleteuse zu machen," und das<lb/>
Zentraltheater dem alsbald &#x201E;zwei" Komiker als Balleteusen gegenüberstellte.<lb/>
Direktor Ernst selbst kopirt Emil Thomas, aber er ist eine grundverschiedene<lb/>
Natur und es kommt daher auch etwas ganz andres, nicht immer sehr an¬<lb/>
sprechendes heraus. Es erscheint nach alledem ganz natürlich, daß Thomas,<lb/>
an dessen Wiege die echte Muse der alten Königsstadt mit ihrem ganzen Ge¬<lb/>
folge von Genien des Weißbiers gestanden hat, endlich auf den Gedanken<lb/>
kommen mußte, statt sich bald hier bald dort in fremden Verhältnissen<lb/>
herumzudrücken, ein Unternehmen so recht nach seinem Sinne dem geschilderten<lb/>
entgegenzusetzen. Der Erfolg war, obgleich er vor der Hand als Einziger<lb/>
die ganze Misere, gegen die das heutige Theater zu kämpfen hat, decken mußte<lb/>
(nämlich schlechte Schauspieler und schlechte Stücke), ein andauernder, ein Be¬<lb/>
weis, daß es mit dem Bedürfnis des Volkes doch nicht so schlimm bestellt<lb/>
sein kann. Er greift jetzt vorläufig zu alten bekannten &#x201E;Zierden" des Possen¬<lb/>
repertoires zurück, scheint aber auf die Produktion nicht verzichten zu wollen,<lb/>
wie ein Schlußkouplet andeutet, in welchem er den Mißerfolg des ersten (aller¬<lb/>
dings nach allen Berichten grausamen) Stückes mit der Versicherung entschuldigt,<lb/>
daß &#x201E;sein Dichter gern ans die Unsterblichkeit verzichte." Das glauben wir ihm<lb/>
auch gern. Ein Possendichter, der auf die Unsterblichkeit losdichtet, ist eine<lb/>
fürchterliche Vorstellung. Aber mitunter ist sie einem in den Schoß gefallen,<lb/>
der auch nicht im Traume daran dachte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_478" next="#ID_479"> Als ausschlaggebender Beleg für das Theaterbedürfnis des Volkes, das<lb/>
selbst in der niedrigsten Form um eine Welt edler ist und selbst bei der rohesten</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0144] Die Theater der Reichshauptstadt. Tageskost für das Volk eignete. Es glückte nicht recht, und er ging physisch daran zu Grunde. Herr Direktor Ernst war erfolgreicher mit seinem Gemengsel von <üg,to ellg.utg.ut und Rührstück, von Operette und Moralpredigt, das er sich für jedes Halbjahr in einer Stückfabrik, deren Namen man nächstens wohl garnicht mehr auf den Zetteln finden wird, nach gleichem Rezept zusammen¬ stellen läßt. Das humoristisch-satirische Zeit- und Gesellschaftskouplet ver¬ schwindet immer mehr und macht der Blüte des (Alp <zIig.Qtg.ut, dem Stimmungs- nnd Charakterkouplet, Platz, das seine Wirkungen ans mimische Metamorphosen der Vortragenden gründet und seine Hauptwürze freilich aus zweideutige» An¬ spielungen zieht. Daneben taucht, denselben Regionen entstiegen, das senti¬ mentale Lied auf mit musikalischen Schnörkeln mitleiderregender Natur. Letzteres wird schou geraume Zeit durch eine als Schauspielerin ebenso unfähige, als durch ihre plastische Erscheinung wirksame frühere Operettensängerin vertreten, für ersteres ist neuerdings eine dafür sehr geeignete, nicht minder fesche Wienerin gewonnen worden^; die übrigen Schauspieler, vom alten Stamme, erstarren in sich selbst, sie werden zur eignen Larve. Da ist kein frischer Ansatz, kein Ton neuen Lebens. Besonders unangenehm wirkt die hilflos unproduktive Art, andre Bühnen übertrumpfen zu wollen, wie damals, als Link in der Walhalla- Operette auf den grotesken Einfall kam, „eine Balleteuse zu machen," und das Zentraltheater dem alsbald „zwei" Komiker als Balleteusen gegenüberstellte. Direktor Ernst selbst kopirt Emil Thomas, aber er ist eine grundverschiedene Natur und es kommt daher auch etwas ganz andres, nicht immer sehr an¬ sprechendes heraus. Es erscheint nach alledem ganz natürlich, daß Thomas, an dessen Wiege die echte Muse der alten Königsstadt mit ihrem ganzen Ge¬ folge von Genien des Weißbiers gestanden hat, endlich auf den Gedanken kommen mußte, statt sich bald hier bald dort in fremden Verhältnissen herumzudrücken, ein Unternehmen so recht nach seinem Sinne dem geschilderten entgegenzusetzen. Der Erfolg war, obgleich er vor der Hand als Einziger die ganze Misere, gegen die das heutige Theater zu kämpfen hat, decken mußte (nämlich schlechte Schauspieler und schlechte Stücke), ein andauernder, ein Be¬ weis, daß es mit dem Bedürfnis des Volkes doch nicht so schlimm bestellt sein kann. Er greift jetzt vorläufig zu alten bekannten „Zierden" des Possen¬ repertoires zurück, scheint aber auf die Produktion nicht verzichten zu wollen, wie ein Schlußkouplet andeutet, in welchem er den Mißerfolg des ersten (aller¬ dings nach allen Berichten grausamen) Stückes mit der Versicherung entschuldigt, daß „sein Dichter gern ans die Unsterblichkeit verzichte." Das glauben wir ihm auch gern. Ein Possendichter, der auf die Unsterblichkeit losdichtet, ist eine fürchterliche Vorstellung. Aber mitunter ist sie einem in den Schoß gefallen, der auch nicht im Traume daran dachte. Als ausschlaggebender Beleg für das Theaterbedürfnis des Volkes, das selbst in der niedrigsten Form um eine Welt edler ist und selbst bei der rohesten

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/144
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/144>, abgerufen am 27.09.2024.