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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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Die Theater der Reichshauptstadt.

Aufgabe treu, es vermittelt die dramatische Tagesproduktion der Franzosen,
Schlechtes und Gutes durcheinander, und wenn es dazwischen einmal ein deutsches
Stück giebt, so zeigt es sich, wie rührend naiv, wie unendlich sicher vor dem
dramatischen Genie der Franzosen die liebe deutsche Eintagskomödie noch immer
ist. Man sieht, es hat nichts genützt, nichts geschadet. Diese holde Blüte der
deutschen Liebhabertheaterliebhaberei duftet noch immer unberührt weiter nach
Altbasenthee, nach belegten Butterbrötchen und ein klein, klein wenig nach
Moschus und Kampher, den verräterischen Anzeichen, daß die Damen ihre guten
Kleider anhaben, kurz -- denn wem sage ich das alles? -- nach all jenen alt¬
vertrauten Ingredienzien einer deutschen Familienprobe. Auch Paul Lindau
-- ich möchte durchaus in guter Meinung betonen, daß dieser Autor wesentlich
auf diesem Boden steht -- hat ihr weder mehr "Esprit" noch bessern Geschmack
und gefälligere Formen aufzunötigen vermocht. Das ist auch gar kein Unglück.
Diese philiströse Mittelmäßigfeit ist noch immer so gesund, noch immer so zu¬
kunftsfroh, daß wir sie um alles nicht eintauschen möchten für Chik und Ge¬
schick der blasirten französischen. Auf ihr läßt sich so viel aufbauen, und
-- Hand aufs Herz -- ist uns nicht aus ihr heraus schon so manche anmutige,
liebe Frucht erwachsen, die die Literaturgeschichte nicht verschmäht hat, in ihre
silbernen Schalen aufzunehmen? Bewahre sie unser Herrgott vor jenen Leuten,
die es den Franzosen abgucken, wie sie rciuspern, wie sie spucken, deren Scheine,
ich meine, deren Geist sich niemals im deutschen Theater weisen wird. In
keinem deutschen Theater, weder in dem des Herrn Emanuel Striche in Kyritz,
noch in Berlin in der Schnmannstraße, Es braucht kein neuer Lessing von,
Himmel herabzusteigen, um es ihnen klar zu machen, "daß die dramatischen
Dichter der Franzosen für ihre Nation gut wären, daß aber die deutsche Nation
andre Dichter brauche." Und wenn sie es Lessing nicht glauben, so glauben
sie es vielleicht einem Franzosen, der, zum Studium unsers höhern Unterrichts
von der Negierung auch nach Berlin gesandt, zur Vervollkommung seiner Konver¬
sation fleißig die Theater besuchte und am Schlüsse eiues ihrer "klassischen" Stücke
im "Deutschen Theater" die inhaltsschwere Kritik abgab: "Es ist wenigstens
Deutsch!"

Botho von Hülsen ist tot, und an seinem Grabe macheu viele Leute ur¬
plötzlich die Entdeckung, daß zu seinen vielen Verdiensten auch das gehöre, der
deutschen dramatischen Produktion wenigstens dem französischen Sittendrama
gegenüber ein Halt und eine Stütze gewesen zu sein. Ein schönes Verdienst,
ein großes Verdienst! wird der Eingeweihte sagen. Diese Blätter haben schon
vor längerer Zeit mit Nachdruck darauf hingewiesen, als es noch Mode war,
kritiklos über Hülsen zu lachen. Jetzt scheint das anders werden zu wollen.
Es ging überhaupt in diesem Falle wie beim Leichenbegängnis jenes berühmten
Satirikers, dessen Ausdehnung und Trauer eine alte Frau zu der Bemerkung ver¬
anlaßte: "Ich denke, es war ein böser Mensch, denn die Leute schalten viel auf


Die Theater der Reichshauptstadt.

Aufgabe treu, es vermittelt die dramatische Tagesproduktion der Franzosen,
Schlechtes und Gutes durcheinander, und wenn es dazwischen einmal ein deutsches
Stück giebt, so zeigt es sich, wie rührend naiv, wie unendlich sicher vor dem
dramatischen Genie der Franzosen die liebe deutsche Eintagskomödie noch immer
ist. Man sieht, es hat nichts genützt, nichts geschadet. Diese holde Blüte der
deutschen Liebhabertheaterliebhaberei duftet noch immer unberührt weiter nach
Altbasenthee, nach belegten Butterbrötchen und ein klein, klein wenig nach
Moschus und Kampher, den verräterischen Anzeichen, daß die Damen ihre guten
Kleider anhaben, kurz — denn wem sage ich das alles? — nach all jenen alt¬
vertrauten Ingredienzien einer deutschen Familienprobe. Auch Paul Lindau
— ich möchte durchaus in guter Meinung betonen, daß dieser Autor wesentlich
auf diesem Boden steht — hat ihr weder mehr „Esprit" noch bessern Geschmack
und gefälligere Formen aufzunötigen vermocht. Das ist auch gar kein Unglück.
Diese philiströse Mittelmäßigfeit ist noch immer so gesund, noch immer so zu¬
kunftsfroh, daß wir sie um alles nicht eintauschen möchten für Chik und Ge¬
schick der blasirten französischen. Auf ihr läßt sich so viel aufbauen, und
— Hand aufs Herz — ist uns nicht aus ihr heraus schon so manche anmutige,
liebe Frucht erwachsen, die die Literaturgeschichte nicht verschmäht hat, in ihre
silbernen Schalen aufzunehmen? Bewahre sie unser Herrgott vor jenen Leuten,
die es den Franzosen abgucken, wie sie rciuspern, wie sie spucken, deren Scheine,
ich meine, deren Geist sich niemals im deutschen Theater weisen wird. In
keinem deutschen Theater, weder in dem des Herrn Emanuel Striche in Kyritz,
noch in Berlin in der Schnmannstraße, Es braucht kein neuer Lessing von,
Himmel herabzusteigen, um es ihnen klar zu machen, „daß die dramatischen
Dichter der Franzosen für ihre Nation gut wären, daß aber die deutsche Nation
andre Dichter brauche." Und wenn sie es Lessing nicht glauben, so glauben
sie es vielleicht einem Franzosen, der, zum Studium unsers höhern Unterrichts
von der Negierung auch nach Berlin gesandt, zur Vervollkommung seiner Konver¬
sation fleißig die Theater besuchte und am Schlüsse eiues ihrer „klassischen" Stücke
im „Deutschen Theater" die inhaltsschwere Kritik abgab: „Es ist wenigstens
Deutsch!"

Botho von Hülsen ist tot, und an seinem Grabe macheu viele Leute ur¬
plötzlich die Entdeckung, daß zu seinen vielen Verdiensten auch das gehöre, der
deutschen dramatischen Produktion wenigstens dem französischen Sittendrama
gegenüber ein Halt und eine Stütze gewesen zu sein. Ein schönes Verdienst,
ein großes Verdienst! wird der Eingeweihte sagen. Diese Blätter haben schon
vor längerer Zeit mit Nachdruck darauf hingewiesen, als es noch Mode war,
kritiklos über Hülsen zu lachen. Jetzt scheint das anders werden zu wollen.
Es ging überhaupt in diesem Falle wie beim Leichenbegängnis jenes berühmten
Satirikers, dessen Ausdehnung und Trauer eine alte Frau zu der Bemerkung ver¬
anlaßte: „Ich denke, es war ein böser Mensch, denn die Leute schalten viel auf


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/141>, abgerufen am 27.09.2024.