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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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große Geld- und Seemacht ist, aber keine Armee hat, die bei kontinentalen
Kriegen im Ernste mitzählen würde. Das erstere ist das wichtigere. Hätte er
nicht von Anfang an gewußt, so hätten es ihm die letzten Jahre zeigen
müssen. Er unterstützte England auf dem Berliner Kongreß, wenn auch in
vermittelnder Weise, mit Berücksichtigung der berechtigten Ansprüche Rußlands,
immerhin aber so, daß dessen Absichten beschränkt wurden. Jene Unterstützung
erfolgte, weil die englische Politik damals in den Händen eines energischen
Staatsmannes lag, welcher genau wußte, was er wollte, und wie es zu erreichen
war. Es wurden Linien gezogen, welche die englischen Interessen am Balkan
berücksichtigten, ohne die russischen unbillig hintanzusetzen, und von welchen einige
noch existiren. Infolge des parlamentarischen Systems fiel Beaevnsficld, allgemeine
Wahlen entfernten ihn und mit ihm seine Politik im Orient vom Unter. Gladstone,
sein Nachfolger, that in diesen wie in andern Beziehungen ungefähr das Gegen¬
teil, teils aus Unklarheit und Ungeschick, teils auf Grund liberaler und theo¬
logischer Velleitäten. Er suchte sich Nußland zu nähern, er schwärmte für die
Freiheit der Balkanvölker. Als Lord Salisbury ins Amt kam, ereignete sich
die ostrumelische Revolution, und er fand es für gut, sie, die ein Bruch des
Berliner Friedens war, zu billigen und deren Urheber nach Möglichkeit gegen
Rußland zu unterstützen. Lord Nosebcrrh setzte diese Politik unter den Augen
Gladstones, der wieder an die Gewalt gelangt war, fort, und mit welchem Er¬
folge, wissen wir. Wie man auch über diesen Ausgang deuten möge, die That¬
sache liegt auf der Hand, daß die auswärtige Politik Englands von dem Belieben
der Parteien, von den wechselnden und nie vorher zu berechnenden Mehrheiten
der Wähler abhängt, die nur zum kleinsten Teile von ihr etwas verstehen, daß
man sich also niemals auf sie verlassen kann. Mit vollem Rechte darf der
deutsche Kanzler sagen: Ich kann immer mit ziemlicher Bestimmtheit Rußland
und Österreich in meine Berechnungen einstellen, weil ich weiß, was ihre aus¬
wärtige Politik ist und in der Zukunft -- ganz außerordentliche Fälle abge¬
rechnet, die sich menschlichem Ermessen entziehen -- sein wird. Mit England
ist mir dies nicht möglich, weil hier die Parteien regieren, die heute obenauf
und morgen unter sind. Wir wissen selbst jetzt nicht mit Sicherheit, ob nicht
irgendwelcher Gedanke, der nichts mit den wirklichen Interessen Englands zu
schaffen hat, die Mehrheit der Wähler für oder gegen die Politiker um sich ver¬
einigen wird, die mit uns zu gehen geneigt sind. Wenn die Staatsmänner
Großbritanniens von c überm Schlage wären, als sie jetzt sind, wenn das eng¬
lische Volk den Blick fest auf seine auswärtige" Interessen gerichtet hielte, wenn
es dabei einen streng nationalen Standpunkt einnähme, wenn Leute wie Glad¬
stone, der als Leiter der auswärtige" Politik halb demokratischer Schuelldcnkcr,
halb bornirter Missionär war, dort unmöglich wären, ließe sich ein Zusammen¬
gehen mit den Herren überm Kanal wenigstens überlegen.




große Geld- und Seemacht ist, aber keine Armee hat, die bei kontinentalen
Kriegen im Ernste mitzählen würde. Das erstere ist das wichtigere. Hätte er
nicht von Anfang an gewußt, so hätten es ihm die letzten Jahre zeigen
müssen. Er unterstützte England auf dem Berliner Kongreß, wenn auch in
vermittelnder Weise, mit Berücksichtigung der berechtigten Ansprüche Rußlands,
immerhin aber so, daß dessen Absichten beschränkt wurden. Jene Unterstützung
erfolgte, weil die englische Politik damals in den Händen eines energischen
Staatsmannes lag, welcher genau wußte, was er wollte, und wie es zu erreichen
war. Es wurden Linien gezogen, welche die englischen Interessen am Balkan
berücksichtigten, ohne die russischen unbillig hintanzusetzen, und von welchen einige
noch existiren. Infolge des parlamentarischen Systems fiel Beaevnsficld, allgemeine
Wahlen entfernten ihn und mit ihm seine Politik im Orient vom Unter. Gladstone,
sein Nachfolger, that in diesen wie in andern Beziehungen ungefähr das Gegen¬
teil, teils aus Unklarheit und Ungeschick, teils auf Grund liberaler und theo¬
logischer Velleitäten. Er suchte sich Nußland zu nähern, er schwärmte für die
Freiheit der Balkanvölker. Als Lord Salisbury ins Amt kam, ereignete sich
die ostrumelische Revolution, und er fand es für gut, sie, die ein Bruch des
Berliner Friedens war, zu billigen und deren Urheber nach Möglichkeit gegen
Rußland zu unterstützen. Lord Nosebcrrh setzte diese Politik unter den Augen
Gladstones, der wieder an die Gewalt gelangt war, fort, und mit welchem Er¬
folge, wissen wir. Wie man auch über diesen Ausgang deuten möge, die That¬
sache liegt auf der Hand, daß die auswärtige Politik Englands von dem Belieben
der Parteien, von den wechselnden und nie vorher zu berechnenden Mehrheiten
der Wähler abhängt, die nur zum kleinsten Teile von ihr etwas verstehen, daß
man sich also niemals auf sie verlassen kann. Mit vollem Rechte darf der
deutsche Kanzler sagen: Ich kann immer mit ziemlicher Bestimmtheit Rußland
und Österreich in meine Berechnungen einstellen, weil ich weiß, was ihre aus¬
wärtige Politik ist und in der Zukunft — ganz außerordentliche Fälle abge¬
rechnet, die sich menschlichem Ermessen entziehen — sein wird. Mit England
ist mir dies nicht möglich, weil hier die Parteien regieren, die heute obenauf
und morgen unter sind. Wir wissen selbst jetzt nicht mit Sicherheit, ob nicht
irgendwelcher Gedanke, der nichts mit den wirklichen Interessen Englands zu
schaffen hat, die Mehrheit der Wähler für oder gegen die Politiker um sich ver¬
einigen wird, die mit uns zu gehen geneigt sind. Wenn die Staatsmänner
Großbritanniens von c überm Schlage wären, als sie jetzt sind, wenn das eng¬
lische Volk den Blick fest auf seine auswärtige» Interessen gerichtet hielte, wenn
es dabei einen streng nationalen Standpunkt einnähme, wenn Leute wie Glad¬
stone, der als Leiter der auswärtige» Politik halb demokratischer Schuelldcnkcr,
halb bornirter Missionär war, dort unmöglich wären, ließe sich ein Zusammen¬
gehen mit den Herren überm Kanal wenigstens überlegen.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/14>, abgerufen am 20.10.2024.