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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal.

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Antike Märchen in deutschem Gewände.

kommen wir in Walhalla an, dem Aufenthalte der seligen, im Kampfe gefallenen
Krieger, dem in altindischer Mythologie ein Himmel der Helden entspricht.

Die ganze heidnische Mythologie ist wie ein zersprungener Edelstein. Denn
es kann garnicht zweifelhaft sein, daß die Vielheit des griechischen Olymps wie
des germanischen Asgard ursprünglich eine Einheit war. Die Eigenschaften des
einen Gottes wurden dann als getrennte Wesen gedacht, wobei insbesondre die
Trennung und Wiedervereinigung der einzelnen Stämme und ihrer Kulte mit¬
wirkten. So entstanden neue Götter, und jeder Gott wurde bald umgeben mit
einem reichen Kranze von Helden, auf die sein Abglanz strahlt, die seine Lieb¬
linge, seine Kinder heißen. Bruchstücke jenes zersprungenen Edelsteines, das
heißt Überreste alten mythischen Glaubens, finden wir in allen Märchen, an¬
tiken wie deutschen. Ein deutliches Beispiel von alledem, ein Beispiel auch von
dem allmählichen Verklingen der alten Mythe unter einem Schwall von ethischen
und historischen Tönen, ein Beispiel endlich von der wunderbaren Treue, mit
welcher die Phantasie der Völker süd- und nordeuropäischen Stammes den ge¬
meinsamen Urmythus hegte, bildet die Sage von dem Siege des Sonnen- und
Frühlingsgottes über die winterliche Finsternis, und von der Befreiung der
gefangenen oder schlummernden, thauspeudenden und erdbefruchtenden Mond-
göttin.

Der Sonnengott oder Sonnenheld, welcher in der Nibelungensage Siegfried
heißt, wächst auf bei einer Erdgottheit, dem klugen Zwergen Mimir, wie die
griechischen Sonnenhelden Herakles und Achilleus von erdgebornen Centauren
erzogen werden, und im deutschen Märchen der starke Hans als Knabe in einer
Höhle lebt. Der Frühlingsgott bekommt eben von der Mutter Erde seine
Kraft. Siegfried ist unverwundbar wie Achilleus und Meleager, anch Perseus
ist es, weil er unnahbar ist. Der letztere erhält zum Kampfe mit dem Drache"
den unsichtbar machenden Helm des Altes, welcher nichts andres bedeutet als
die Tarnkappe Siegfrieds und nichts andres als den unsichtbar machenden
Mantel in den beiden hierher gehörenden Märchen vom König vom goldnen
Berge und von dem goldnen Schlosse auf dem Glasberge. Auch die Flügel¬
schuhe des Perseus und das geflügelte Roß des Sonnenkämpfers Bellerophon
kehren in deutschen Sagen wieder; die ersteren entspreche" den Siebenmeilen-
stiefeln des Königs vom goldnen Berge, und das letztere ist das Roß Gram
des Sigurd in nordischer Sage und das Roß aus dem Märchen vom gläsernen
Berge, auf dem man überall hinreiten kann, auch auf deu gläsernen Berg. In
andern verwandten Sagen treten dafür Schiffe ein, und die Flügelschuhe wie
das Flügelroß sind in der That wohl nur Symbole für das Schiff; wie deun
auch das hölzerne Pferd, durch welches Troja erobert wurde, nur ein alter¬
tümlich bildlicher Ausdruck ist für die Schiffe, welche die Grieche" nach Troja
brachten. Daher fährt Jason, der Sonnenheros, auf seinem Wunderschiffe Argo
aus zu seiner Aufgabe, wie Herakles auf dem Becher des Sonnengottes durch


Antike Märchen in deutschem Gewände.

kommen wir in Walhalla an, dem Aufenthalte der seligen, im Kampfe gefallenen
Krieger, dem in altindischer Mythologie ein Himmel der Helden entspricht.

Die ganze heidnische Mythologie ist wie ein zersprungener Edelstein. Denn
es kann garnicht zweifelhaft sein, daß die Vielheit des griechischen Olymps wie
des germanischen Asgard ursprünglich eine Einheit war. Die Eigenschaften des
einen Gottes wurden dann als getrennte Wesen gedacht, wobei insbesondre die
Trennung und Wiedervereinigung der einzelnen Stämme und ihrer Kulte mit¬
wirkten. So entstanden neue Götter, und jeder Gott wurde bald umgeben mit
einem reichen Kranze von Helden, auf die sein Abglanz strahlt, die seine Lieb¬
linge, seine Kinder heißen. Bruchstücke jenes zersprungenen Edelsteines, das
heißt Überreste alten mythischen Glaubens, finden wir in allen Märchen, an¬
tiken wie deutschen. Ein deutliches Beispiel von alledem, ein Beispiel auch von
dem allmählichen Verklingen der alten Mythe unter einem Schwall von ethischen
und historischen Tönen, ein Beispiel endlich von der wunderbaren Treue, mit
welcher die Phantasie der Völker süd- und nordeuropäischen Stammes den ge¬
meinsamen Urmythus hegte, bildet die Sage von dem Siege des Sonnen- und
Frühlingsgottes über die winterliche Finsternis, und von der Befreiung der
gefangenen oder schlummernden, thauspeudenden und erdbefruchtenden Mond-
göttin.

Der Sonnengott oder Sonnenheld, welcher in der Nibelungensage Siegfried
heißt, wächst auf bei einer Erdgottheit, dem klugen Zwergen Mimir, wie die
griechischen Sonnenhelden Herakles und Achilleus von erdgebornen Centauren
erzogen werden, und im deutschen Märchen der starke Hans als Knabe in einer
Höhle lebt. Der Frühlingsgott bekommt eben von der Mutter Erde seine
Kraft. Siegfried ist unverwundbar wie Achilleus und Meleager, anch Perseus
ist es, weil er unnahbar ist. Der letztere erhält zum Kampfe mit dem Drache»
den unsichtbar machenden Helm des Altes, welcher nichts andres bedeutet als
die Tarnkappe Siegfrieds und nichts andres als den unsichtbar machenden
Mantel in den beiden hierher gehörenden Märchen vom König vom goldnen
Berge und von dem goldnen Schlosse auf dem Glasberge. Auch die Flügel¬
schuhe des Perseus und das geflügelte Roß des Sonnenkämpfers Bellerophon
kehren in deutschen Sagen wieder; die ersteren entspreche» den Siebenmeilen-
stiefeln des Königs vom goldnen Berge, und das letztere ist das Roß Gram
des Sigurd in nordischer Sage und das Roß aus dem Märchen vom gläsernen
Berge, auf dem man überall hinreiten kann, auch auf deu gläsernen Berg. In
andern verwandten Sagen treten dafür Schiffe ein, und die Flügelschuhe wie
das Flügelroß sind in der That wohl nur Symbole für das Schiff; wie deun
auch das hölzerne Pferd, durch welches Troja erobert wurde, nur ein alter¬
tümlich bildlicher Ausdruck ist für die Schiffe, welche die Grieche« nach Troja
brachten. Daher fährt Jason, der Sonnenheros, auf seinem Wunderschiffe Argo
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198719/93>, abgerufen am 22.07.2024.