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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal.

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Antike Märchen in deutschem Gewände.

nimmt.*) In Ägypten ging im Altertum die Sage: Als die schöne Rhodopis
einst im Bade weilte, schoß ein Adler herab, nahm einen ihrer Schuhe, flog
damit fort nach Memphis und ließ ihn dem König, der dort eben zu Gericht
saß, in den Schoß fallen. Die schöne Form des Schuhes entzückte den König,
und er gab Befehl, in ganz Ägypten nach der Eigentümerin des Schuhes zu
forschen. Sie fand sich, und er nahm sie zur Gemahlin.

Am meisten vielleicht überrascht es, wenigstens für den ersten Augenblick,
daß das Märchen von Amor und Psyche auch äußerlich ganz wie ein deutsches
Märchen anhebt: "Es waren einmal in einem Königreiche ein König und eine
Königin, die hatten drei schöne Töchter, aber die jüngste war die allerschönste
und so schön, daß niemand sie zu beschreiben vermag." Am Schluß des Märchens
wird dem Amor wie der Psyche selige Unsterblichkeit zu Teil. Die deutschen
Märchen haben eben denselben Gedanken, wohl durch den Einfluß des Christen¬
tums, dahin abgeschwächt, daß sie nur noch melden: "Und wenn sie noch nicht
gestorben sind, so leben sie heute noch!"

Ein besonders auffälliges Beispiel vou dem Wechsel des Tones in der¬
selben Erzählung ist die uralte Sage vom goldnen Zeitalter. Wie Götter,
lebten damals die Menschen in der ersten, der goldnen Zeit, ohne Sorgen,
Kummer und Mühe, in ewiger Jugend und Heiterkeit. Dabei lebten sie in
der Fülle aller guten Gaben, welche ihnen die Erde von selbst darbot. Es
herrschte immerwährender Frühling, und sanfte Westwinde kosten mit Blumen,
die ohne Samen entstanden waren. In Strömen floß damals die Milch, in
Strömen der Nektar, und gelber Honig träufelte von den grünen Eichen herab.
Dies goldne Geschlecht wurde nach dem Sturze der alten Götterfamilic des
Kronos von der Erde bedeckt; aber es gab doch noch einen Ort, wo ein gleich
schönes Leben geführt wurde, das waren die Inseln der Seligen, weit, weit
im Ozean, wohin nie eines Schiffers Ruder gekommen.

Freilich einen Odysseus trug sein Kiel anch dorthin, wo ragende Bäume
stehen, deren Frucht nie Mißwachs oder Maugel leidet, die auch nicht einmal,
sondern das ganze Jahr hindurch blühen und Früchte tragen zu gleicher Zeit.
Herrlich wie der Sonne oder des Mondes Glanz strahlt des Königs Palast,
mit schimmernden ehernen Wänden und goldnen Pforten versehen. Immer
erfreut sich das Volk am Schmaus, an der Lante, am oft wechselnden Schmuck
und Reihentanz. Aber hier hat sich schon die Sage wieder etwas umgestaltet:
jene seligen Jnselbewohner sind verwandelt in ein gutes, glückliches Volk, welches
die verirrten Seefahrer heimführt auf geisterhaft schnellen und wunderbar aus-



*) Ähnlich ist das französische Märchen vom gläsernen Pantoffel, dessen Name jedoch auf
einem Mißverständnis beruht. Der Titel desselben lautete ursprünglich: I,s sonlior <Is v-ur,
V-ur (lateinisch varius) bedeutet bunt und wird besonders von buntem Pelzwerk gebraucht.
Als das Märchen zuerst schriftlich fixirt wurde, trat an die Stelle des seltenen v-ur irrtüm¬
lich das gleichlautende, geläufige Wort^vorrs, GlnS.
Antike Märchen in deutschem Gewände.

nimmt.*) In Ägypten ging im Altertum die Sage: Als die schöne Rhodopis
einst im Bade weilte, schoß ein Adler herab, nahm einen ihrer Schuhe, flog
damit fort nach Memphis und ließ ihn dem König, der dort eben zu Gericht
saß, in den Schoß fallen. Die schöne Form des Schuhes entzückte den König,
und er gab Befehl, in ganz Ägypten nach der Eigentümerin des Schuhes zu
forschen. Sie fand sich, und er nahm sie zur Gemahlin.

Am meisten vielleicht überrascht es, wenigstens für den ersten Augenblick,
daß das Märchen von Amor und Psyche auch äußerlich ganz wie ein deutsches
Märchen anhebt: „Es waren einmal in einem Königreiche ein König und eine
Königin, die hatten drei schöne Töchter, aber die jüngste war die allerschönste
und so schön, daß niemand sie zu beschreiben vermag." Am Schluß des Märchens
wird dem Amor wie der Psyche selige Unsterblichkeit zu Teil. Die deutschen
Märchen haben eben denselben Gedanken, wohl durch den Einfluß des Christen¬
tums, dahin abgeschwächt, daß sie nur noch melden: „Und wenn sie noch nicht
gestorben sind, so leben sie heute noch!"

Ein besonders auffälliges Beispiel vou dem Wechsel des Tones in der¬
selben Erzählung ist die uralte Sage vom goldnen Zeitalter. Wie Götter,
lebten damals die Menschen in der ersten, der goldnen Zeit, ohne Sorgen,
Kummer und Mühe, in ewiger Jugend und Heiterkeit. Dabei lebten sie in
der Fülle aller guten Gaben, welche ihnen die Erde von selbst darbot. Es
herrschte immerwährender Frühling, und sanfte Westwinde kosten mit Blumen,
die ohne Samen entstanden waren. In Strömen floß damals die Milch, in
Strömen der Nektar, und gelber Honig träufelte von den grünen Eichen herab.
Dies goldne Geschlecht wurde nach dem Sturze der alten Götterfamilic des
Kronos von der Erde bedeckt; aber es gab doch noch einen Ort, wo ein gleich
schönes Leben geführt wurde, das waren die Inseln der Seligen, weit, weit
im Ozean, wohin nie eines Schiffers Ruder gekommen.

Freilich einen Odysseus trug sein Kiel anch dorthin, wo ragende Bäume
stehen, deren Frucht nie Mißwachs oder Maugel leidet, die auch nicht einmal,
sondern das ganze Jahr hindurch blühen und Früchte tragen zu gleicher Zeit.
Herrlich wie der Sonne oder des Mondes Glanz strahlt des Königs Palast,
mit schimmernden ehernen Wänden und goldnen Pforten versehen. Immer
erfreut sich das Volk am Schmaus, an der Lante, am oft wechselnden Schmuck
und Reihentanz. Aber hier hat sich schon die Sage wieder etwas umgestaltet:
jene seligen Jnselbewohner sind verwandelt in ein gutes, glückliches Volk, welches
die verirrten Seefahrer heimführt auf geisterhaft schnellen und wunderbar aus-



*) Ähnlich ist das französische Märchen vom gläsernen Pantoffel, dessen Name jedoch auf
einem Mißverständnis beruht. Der Titel desselben lautete ursprünglich: I,s sonlior <Is v-ur,
V-ur (lateinisch varius) bedeutet bunt und wird besonders von buntem Pelzwerk gebraucht.
Als das Märchen zuerst schriftlich fixirt wurde, trat an die Stelle des seltenen v-ur irrtüm¬
lich das gleichlautende, geläufige Wort^vorrs, GlnS.
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[0091] Antike Märchen in deutschem Gewände. nimmt.*) In Ägypten ging im Altertum die Sage: Als die schöne Rhodopis einst im Bade weilte, schoß ein Adler herab, nahm einen ihrer Schuhe, flog damit fort nach Memphis und ließ ihn dem König, der dort eben zu Gericht saß, in den Schoß fallen. Die schöne Form des Schuhes entzückte den König, und er gab Befehl, in ganz Ägypten nach der Eigentümerin des Schuhes zu forschen. Sie fand sich, und er nahm sie zur Gemahlin. Am meisten vielleicht überrascht es, wenigstens für den ersten Augenblick, daß das Märchen von Amor und Psyche auch äußerlich ganz wie ein deutsches Märchen anhebt: „Es waren einmal in einem Königreiche ein König und eine Königin, die hatten drei schöne Töchter, aber die jüngste war die allerschönste und so schön, daß niemand sie zu beschreiben vermag." Am Schluß des Märchens wird dem Amor wie der Psyche selige Unsterblichkeit zu Teil. Die deutschen Märchen haben eben denselben Gedanken, wohl durch den Einfluß des Christen¬ tums, dahin abgeschwächt, daß sie nur noch melden: „Und wenn sie noch nicht gestorben sind, so leben sie heute noch!" Ein besonders auffälliges Beispiel vou dem Wechsel des Tones in der¬ selben Erzählung ist die uralte Sage vom goldnen Zeitalter. Wie Götter, lebten damals die Menschen in der ersten, der goldnen Zeit, ohne Sorgen, Kummer und Mühe, in ewiger Jugend und Heiterkeit. Dabei lebten sie in der Fülle aller guten Gaben, welche ihnen die Erde von selbst darbot. Es herrschte immerwährender Frühling, und sanfte Westwinde kosten mit Blumen, die ohne Samen entstanden waren. In Strömen floß damals die Milch, in Strömen der Nektar, und gelber Honig träufelte von den grünen Eichen herab. Dies goldne Geschlecht wurde nach dem Sturze der alten Götterfamilic des Kronos von der Erde bedeckt; aber es gab doch noch einen Ort, wo ein gleich schönes Leben geführt wurde, das waren die Inseln der Seligen, weit, weit im Ozean, wohin nie eines Schiffers Ruder gekommen. Freilich einen Odysseus trug sein Kiel anch dorthin, wo ragende Bäume stehen, deren Frucht nie Mißwachs oder Maugel leidet, die auch nicht einmal, sondern das ganze Jahr hindurch blühen und Früchte tragen zu gleicher Zeit. Herrlich wie der Sonne oder des Mondes Glanz strahlt des Königs Palast, mit schimmernden ehernen Wänden und goldnen Pforten versehen. Immer erfreut sich das Volk am Schmaus, an der Lante, am oft wechselnden Schmuck und Reihentanz. Aber hier hat sich schon die Sage wieder etwas umgestaltet: jene seligen Jnselbewohner sind verwandelt in ein gutes, glückliches Volk, welches die verirrten Seefahrer heimführt auf geisterhaft schnellen und wunderbar aus- *) Ähnlich ist das französische Märchen vom gläsernen Pantoffel, dessen Name jedoch auf einem Mißverständnis beruht. Der Titel desselben lautete ursprünglich: I,s sonlior <Is v-ur, V-ur (lateinisch varius) bedeutet bunt und wird besonders von buntem Pelzwerk gebraucht. Als das Märchen zuerst schriftlich fixirt wurde, trat an die Stelle des seltenen v-ur irrtüm¬ lich das gleichlautende, geläufige Wort^vorrs, GlnS.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198719/91>, abgerufen am 22.07.2024.