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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal.

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Antike Märchen in deutschem Gewände.
von Adolf Thinae. (Schluß.)

el der Vergleichung aller dieser Sagen darf man eins nie aus
den Augen lassen: daß nämlich in der Volkspoesie ein steter
Wechsel des Tones, eine ewige Verschiebung des Inhaltes statt¬
findet. Die Erzählung verändert sich stetig nach der Eigenart
des Volkes, welches sie pflegt; einzelne Züge werden von dem
einen Ganzen abgestoßen und schließen sich an ein anderes an. Das liebliche
griechische Märchen von Amor und Psyche ließe sich in solche einzelne Züge
auflösen, die sich dann bei vielen Märchen verschiedner Volker, namentlich der
Deutschen, wiederfinden würden. Der Befehl Amors, daß Psyche nie nach seiner
Gestalt forschen solle, entspricht dem gleichen Befehle des Zeus an die Semele,
und klingt wie in manchen deutschen Sagen so auch in der Lohengrinsage aus
den Worten des Schwanenritters: "Nie sollst du mich befragen!" In dem ge¬
fangnen Amor erkennen wir den verwunschenen Prinzen, in der zornigen Frau
Venus die böse Stiefmutcr des deutschen Märchens. Diese Stiefmutter kommt
aber auch in andern griechischen Märchen vor. So treibt die böse Imo, die
Meerfrau, die Kiuder ihres Gemahls Athamas, Phrixos und Helle, zur Flucht,
eine Geschichte, welche wiederum den deutschen Märchen von Hansel und Gretel
und besonders vom Brüderchen und Schwesterchen ähnlich sieht. Das letztere
fängt an: "Brüderchen nahm sein Schwesterchen an der Hand und sprach: Seit
die Mutter tot ist, haben wir keine gute Stunde mehr, die Stiefmutter schlägt
uns alle Tage, und wenn wir zu ihr kommen, stößt sie uns mit den Füßen
fort. Komm, wir wollen mit einander in die weite Welt gehen."

Die zornige Frau Venus verlangt von Psyche nach manch andrer Not,
die sie ihr zufügt, uoch die Lösung einzelner schwieriger Aufgabe". Die erste
ist, sie soll einen großen Haufen vermischten Getreides auseinanderlcsen. Sie
ringt verzweifelnd die Hände. Da kommen zahllose Ameisen herbei und ver¬
richten die Arbeit, ganz wie in dem deutschen Märchen von der weißen Schlange,
und ähnlich wie dem Aschenbrödel ihre Tauben die Aufgabe lösen helfen. Der
zweite Teil des Märchens von Aschenbrödel entspricht einer andern antiken Sage.
Der Königssohn ist entzückt über den zurückgelassenen Schuh Aschenbrödels, und
sucht um in seinem ganzen Reiche die Besitzerin, welche er dann zur Gemahlin

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Antike Märchen in deutschem Gewände.
von Adolf Thinae. (Schluß.)

el der Vergleichung aller dieser Sagen darf man eins nie aus
den Augen lassen: daß nämlich in der Volkspoesie ein steter
Wechsel des Tones, eine ewige Verschiebung des Inhaltes statt¬
findet. Die Erzählung verändert sich stetig nach der Eigenart
des Volkes, welches sie pflegt; einzelne Züge werden von dem
einen Ganzen abgestoßen und schließen sich an ein anderes an. Das liebliche
griechische Märchen von Amor und Psyche ließe sich in solche einzelne Züge
auflösen, die sich dann bei vielen Märchen verschiedner Volker, namentlich der
Deutschen, wiederfinden würden. Der Befehl Amors, daß Psyche nie nach seiner
Gestalt forschen solle, entspricht dem gleichen Befehle des Zeus an die Semele,
und klingt wie in manchen deutschen Sagen so auch in der Lohengrinsage aus
den Worten des Schwanenritters: „Nie sollst du mich befragen!" In dem ge¬
fangnen Amor erkennen wir den verwunschenen Prinzen, in der zornigen Frau
Venus die böse Stiefmutcr des deutschen Märchens. Diese Stiefmutter kommt
aber auch in andern griechischen Märchen vor. So treibt die böse Imo, die
Meerfrau, die Kiuder ihres Gemahls Athamas, Phrixos und Helle, zur Flucht,
eine Geschichte, welche wiederum den deutschen Märchen von Hansel und Gretel
und besonders vom Brüderchen und Schwesterchen ähnlich sieht. Das letztere
fängt an: „Brüderchen nahm sein Schwesterchen an der Hand und sprach: Seit
die Mutter tot ist, haben wir keine gute Stunde mehr, die Stiefmutter schlägt
uns alle Tage, und wenn wir zu ihr kommen, stößt sie uns mit den Füßen
fort. Komm, wir wollen mit einander in die weite Welt gehen."

Die zornige Frau Venus verlangt von Psyche nach manch andrer Not,
die sie ihr zufügt, uoch die Lösung einzelner schwieriger Aufgabe». Die erste
ist, sie soll einen großen Haufen vermischten Getreides auseinanderlcsen. Sie
ringt verzweifelnd die Hände. Da kommen zahllose Ameisen herbei und ver¬
richten die Arbeit, ganz wie in dem deutschen Märchen von der weißen Schlange,
und ähnlich wie dem Aschenbrödel ihre Tauben die Aufgabe lösen helfen. Der
zweite Teil des Märchens von Aschenbrödel entspricht einer andern antiken Sage.
Der Königssohn ist entzückt über den zurückgelassenen Schuh Aschenbrödels, und
sucht um in seinem ganzen Reiche die Besitzerin, welche er dann zur Gemahlin

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[0090] Antike Märchen in deutschem Gewände. von Adolf Thinae. (Schluß.) el der Vergleichung aller dieser Sagen darf man eins nie aus den Augen lassen: daß nämlich in der Volkspoesie ein steter Wechsel des Tones, eine ewige Verschiebung des Inhaltes statt¬ findet. Die Erzählung verändert sich stetig nach der Eigenart des Volkes, welches sie pflegt; einzelne Züge werden von dem einen Ganzen abgestoßen und schließen sich an ein anderes an. Das liebliche griechische Märchen von Amor und Psyche ließe sich in solche einzelne Züge auflösen, die sich dann bei vielen Märchen verschiedner Volker, namentlich der Deutschen, wiederfinden würden. Der Befehl Amors, daß Psyche nie nach seiner Gestalt forschen solle, entspricht dem gleichen Befehle des Zeus an die Semele, und klingt wie in manchen deutschen Sagen so auch in der Lohengrinsage aus den Worten des Schwanenritters: „Nie sollst du mich befragen!" In dem ge¬ fangnen Amor erkennen wir den verwunschenen Prinzen, in der zornigen Frau Venus die böse Stiefmutcr des deutschen Märchens. Diese Stiefmutter kommt aber auch in andern griechischen Märchen vor. So treibt die böse Imo, die Meerfrau, die Kiuder ihres Gemahls Athamas, Phrixos und Helle, zur Flucht, eine Geschichte, welche wiederum den deutschen Märchen von Hansel und Gretel und besonders vom Brüderchen und Schwesterchen ähnlich sieht. Das letztere fängt an: „Brüderchen nahm sein Schwesterchen an der Hand und sprach: Seit die Mutter tot ist, haben wir keine gute Stunde mehr, die Stiefmutter schlägt uns alle Tage, und wenn wir zu ihr kommen, stößt sie uns mit den Füßen fort. Komm, wir wollen mit einander in die weite Welt gehen." Die zornige Frau Venus verlangt von Psyche nach manch andrer Not, die sie ihr zufügt, uoch die Lösung einzelner schwieriger Aufgabe». Die erste ist, sie soll einen großen Haufen vermischten Getreides auseinanderlcsen. Sie ringt verzweifelnd die Hände. Da kommen zahllose Ameisen herbei und ver¬ richten die Arbeit, ganz wie in dem deutschen Märchen von der weißen Schlange, und ähnlich wie dem Aschenbrödel ihre Tauben die Aufgabe lösen helfen. Der zweite Teil des Märchens von Aschenbrödel entspricht einer andern antiken Sage. Der Königssohn ist entzückt über den zurückgelassenen Schuh Aschenbrödels, und sucht um in seinem ganzen Reiche die Besitzerin, welche er dann zur Gemahlin »

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198719/90>, abgerufen am 22.07.2024.