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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal.

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Marie von Ebner-Lschenbach.

Von selbst. Mit besonderm Geschick lveiß die Dichterin aus dem Ton bestimmter
Charaktere zu sprechen, wie im "Guten Mond," in "Komtesse Paula" und in den:
virtuosesten Stücke, in "Komtesse Muschi," deren Briefe ganz im Tone der
Wiener Sportswelt gehalten sind und uicht genug bewundert werden können.
Nimmt man dagegen den Begriff der dichterischen Form in einem tiefern Sinne
nach feiten der Komposition z, B,, so wird man an der Kunst der Ebner-Eschen-
bach manche Schwäche entdecken, und das hängt mit ihrer ganzen künstlerischen
Individualität zusammen. Auch in dieser Dichterin ist die Bildung bedeutender
als die ursprüngliche poetische Natur, Sie ist sehr glücklich in der Beobachtung,
aber nicht reich in der Erfindung; darum sind ihre Handlungen, ihre Fabeln
nicht immer im vollen Gleichgewicht mit ihren Charakteren; sie ersinnt wohl
erst zu diesen Gebilden jene Vorgänge nachträglich hinzu, was zuweilen fühlbar
wird. Ihr künstlerisches Interesse ist ganz ans die saubere Zeichnung der Cha¬
raktere konzentrirt. Da geschieht es, daß sie entweder für ein kleines interessantes
Motiv eine zu breite Form wählt, wie im "Kleinen Roman"; oder daß sie die
Einheit des Motivs fallen läßt, wie in "Lotti der Uhrmacherin," oder daß sie
die Motive häuft und dadurch die Klarheit der Novelle schädigt, wie in der
Erzählung "Nach dem Tode"; oder daß sie, in voller künstlerischer Freude an
ihren Figuren, das rechte proportionale Maß innerhalb des Nahmens der Ge¬
schichte außer Acht läßt, sodaß das Interesse für eine Nebenfigur das für den
Mittelpunkt der Handlung beeinträchtigt, wie in der sonst so bedeutenden No¬
velle "Der Kreisphysikus," in der die Gestalt des Dembinski mit seinem ganzen,
als Episode gemeinten Anhang viel zu weit in die Höhe wächst, als daß er nicht
der künstlerischen Grundidee des Ganzen schaden sollte. In den kleinern Er¬
zählungen gelingt es der Dichterin vollkommen, die Gesetze der poetischen Per¬
spektive zu beobachte". Sie hat sogar eine ganz eigne Kunst, Nebenfiguren
interessant und klar und doch wieder mit sparsamen Mitteln zu skizziren, wie
in den "Zwei Komtessen." Überhaupt ist das kleinere Genre des Sittenbildes
das eigentliche Gebiet unsrer geistreichen Dichterin; in dem Humor, der einen weh¬
mütigen Hintergrund hat, ist sie Meisterin. Die große Leidenschaft und Energie
zum Tragischen fehlt ihr, wie auch das eigentlich lyrische Element der Stimmung
ihr fern liegt.

Und damit wären wir wieder dort angelangt, von wo wir ausgegangen
sind, nämlich von der Beobachtung, daß die Literatur der Gegenwaat einen
Reichtum von Talenten hat, die alle in den Grenzen ihrer Eigenart gewürdigt
sein wollen. Frau von Ebner-Eschenbach ist jedenfalls eine der vornehmsten
und anziehendsten Individualitäten, welche die Gegenwart aufweist, und der
Erfolg ihrer Schriften kann nur dazu beitrage", den Geschmack zu veredeln und
wahre Herzensbildung zu verbreiten.


Moritz Necker.


Grmzboton III. 1886.> >
Marie von Ebner-Lschenbach.

Von selbst. Mit besonderm Geschick lveiß die Dichterin aus dem Ton bestimmter
Charaktere zu sprechen, wie im „Guten Mond," in „Komtesse Paula" und in den:
virtuosesten Stücke, in „Komtesse Muschi," deren Briefe ganz im Tone der
Wiener Sportswelt gehalten sind und uicht genug bewundert werden können.
Nimmt man dagegen den Begriff der dichterischen Form in einem tiefern Sinne
nach feiten der Komposition z, B,, so wird man an der Kunst der Ebner-Eschen-
bach manche Schwäche entdecken, und das hängt mit ihrer ganzen künstlerischen
Individualität zusammen. Auch in dieser Dichterin ist die Bildung bedeutender
als die ursprüngliche poetische Natur, Sie ist sehr glücklich in der Beobachtung,
aber nicht reich in der Erfindung; darum sind ihre Handlungen, ihre Fabeln
nicht immer im vollen Gleichgewicht mit ihren Charakteren; sie ersinnt wohl
erst zu diesen Gebilden jene Vorgänge nachträglich hinzu, was zuweilen fühlbar
wird. Ihr künstlerisches Interesse ist ganz ans die saubere Zeichnung der Cha¬
raktere konzentrirt. Da geschieht es, daß sie entweder für ein kleines interessantes
Motiv eine zu breite Form wählt, wie im „Kleinen Roman"; oder daß sie die
Einheit des Motivs fallen läßt, wie in „Lotti der Uhrmacherin," oder daß sie
die Motive häuft und dadurch die Klarheit der Novelle schädigt, wie in der
Erzählung „Nach dem Tode"; oder daß sie, in voller künstlerischer Freude an
ihren Figuren, das rechte proportionale Maß innerhalb des Nahmens der Ge¬
schichte außer Acht läßt, sodaß das Interesse für eine Nebenfigur das für den
Mittelpunkt der Handlung beeinträchtigt, wie in der sonst so bedeutenden No¬
velle „Der Kreisphysikus," in der die Gestalt des Dembinski mit seinem ganzen,
als Episode gemeinten Anhang viel zu weit in die Höhe wächst, als daß er nicht
der künstlerischen Grundidee des Ganzen schaden sollte. In den kleinern Er¬
zählungen gelingt es der Dichterin vollkommen, die Gesetze der poetischen Per¬
spektive zu beobachte». Sie hat sogar eine ganz eigne Kunst, Nebenfiguren
interessant und klar und doch wieder mit sparsamen Mitteln zu skizziren, wie
in den „Zwei Komtessen." Überhaupt ist das kleinere Genre des Sittenbildes
das eigentliche Gebiet unsrer geistreichen Dichterin; in dem Humor, der einen weh¬
mütigen Hintergrund hat, ist sie Meisterin. Die große Leidenschaft und Energie
zum Tragischen fehlt ihr, wie auch das eigentlich lyrische Element der Stimmung
ihr fern liegt.

Und damit wären wir wieder dort angelangt, von wo wir ausgegangen
sind, nämlich von der Beobachtung, daß die Literatur der Gegenwaat einen
Reichtum von Talenten hat, die alle in den Grenzen ihrer Eigenart gewürdigt
sein wollen. Frau von Ebner-Eschenbach ist jedenfalls eine der vornehmsten
und anziehendsten Individualitäten, welche die Gegenwart aufweist, und der
Erfolg ihrer Schriften kann nur dazu beitrage», den Geschmack zu veredeln und
wahre Herzensbildung zu verbreiten.


Moritz Necker.


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[0089] Marie von Ebner-Lschenbach. Von selbst. Mit besonderm Geschick lveiß die Dichterin aus dem Ton bestimmter Charaktere zu sprechen, wie im „Guten Mond," in „Komtesse Paula" und in den: virtuosesten Stücke, in „Komtesse Muschi," deren Briefe ganz im Tone der Wiener Sportswelt gehalten sind und uicht genug bewundert werden können. Nimmt man dagegen den Begriff der dichterischen Form in einem tiefern Sinne nach feiten der Komposition z, B,, so wird man an der Kunst der Ebner-Eschen- bach manche Schwäche entdecken, und das hängt mit ihrer ganzen künstlerischen Individualität zusammen. Auch in dieser Dichterin ist die Bildung bedeutender als die ursprüngliche poetische Natur, Sie ist sehr glücklich in der Beobachtung, aber nicht reich in der Erfindung; darum sind ihre Handlungen, ihre Fabeln nicht immer im vollen Gleichgewicht mit ihren Charakteren; sie ersinnt wohl erst zu diesen Gebilden jene Vorgänge nachträglich hinzu, was zuweilen fühlbar wird. Ihr künstlerisches Interesse ist ganz ans die saubere Zeichnung der Cha¬ raktere konzentrirt. Da geschieht es, daß sie entweder für ein kleines interessantes Motiv eine zu breite Form wählt, wie im „Kleinen Roman"; oder daß sie die Einheit des Motivs fallen läßt, wie in „Lotti der Uhrmacherin," oder daß sie die Motive häuft und dadurch die Klarheit der Novelle schädigt, wie in der Erzählung „Nach dem Tode"; oder daß sie, in voller künstlerischer Freude an ihren Figuren, das rechte proportionale Maß innerhalb des Nahmens der Ge¬ schichte außer Acht läßt, sodaß das Interesse für eine Nebenfigur das für den Mittelpunkt der Handlung beeinträchtigt, wie in der sonst so bedeutenden No¬ velle „Der Kreisphysikus," in der die Gestalt des Dembinski mit seinem ganzen, als Episode gemeinten Anhang viel zu weit in die Höhe wächst, als daß er nicht der künstlerischen Grundidee des Ganzen schaden sollte. In den kleinern Er¬ zählungen gelingt es der Dichterin vollkommen, die Gesetze der poetischen Per¬ spektive zu beobachte». Sie hat sogar eine ganz eigne Kunst, Nebenfiguren interessant und klar und doch wieder mit sparsamen Mitteln zu skizziren, wie in den „Zwei Komtessen." Überhaupt ist das kleinere Genre des Sittenbildes das eigentliche Gebiet unsrer geistreichen Dichterin; in dem Humor, der einen weh¬ mütigen Hintergrund hat, ist sie Meisterin. Die große Leidenschaft und Energie zum Tragischen fehlt ihr, wie auch das eigentlich lyrische Element der Stimmung ihr fern liegt. Und damit wären wir wieder dort angelangt, von wo wir ausgegangen sind, nämlich von der Beobachtung, daß die Literatur der Gegenwaat einen Reichtum von Talenten hat, die alle in den Grenzen ihrer Eigenart gewürdigt sein wollen. Frau von Ebner-Eschenbach ist jedenfalls eine der vornehmsten und anziehendsten Individualitäten, welche die Gegenwart aufweist, und der Erfolg ihrer Schriften kann nur dazu beitrage», den Geschmack zu veredeln und wahre Herzensbildung zu verbreiten. Moritz Necker. Grmzboton III. 1886.> >

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198719/89>, abgerufen am 22.07.2024.