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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal.

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Zur Charakteristik Turgenjews.

wenn es ihn groß und glücklich macht. Wie Fels und Berg manchmal Gestalt
zu gewinnen scheinen, als wären sie von Menschenhand behauen, so nimmt auch
das Schicksal zuweilen eine scheinbar gewollte und absichtliche Gestalt an; aber
bald darauf geht es wieder -- ohne die geringste Rücksicht auf den Menschen --
seine regellosen Wege. Eine schwermütig mutlose Resignation gegenüber der
Willkür des Geschehens spricht aus Turgenjews Dichtung allüberall; immer
und immer wieder tritt in ihr ein seltsamer Fatalismus hervor, der im Kern
so ganz und gar nicht mystisch ist und sich doch gar oft in mystisch klingende
Töne übersetzt. Immer und immer wieder kommt Turgenjew darauf zurück,
daß der Mensch sich sein Glück nicht selber schmiedet, daß sein Schicksal bestimmt
wird von blinden, sinnlosen Gewalten." "Immer und immer wieder ist in
Turgenjews Gestaltung des Schicksals die Gestaltung des Zufalls, des Wider-
strebens gegen Willen und Trieb des Menschen zu erkennen. Kraftvoll selbst¬
bewußtem Streben wird unversehens ein plötzliches Ziel gesetzt, Größe und Hoheit
des Empfindens stößt sich lächerlich und traurig genug an der Niedrigkeit, an
der Verlegenheit der kleinlichsten Verhältnisse, und die Ernte dessen, der Böses
gesäet hat, ist -- Ruhe, Behaglichkeit und jenes gute Gewissen, das die stete
Begleiterscheinung des Erfolges ist. Aus alledem spricht die moderne Erkenntnis,
daß sich um den Menschen niemand kümmert als der Mensch. Nur daß diese
Erkenntnis bei dem einen die Quelle eines Skeptizismus ist, der am Siege
des Ideals, des Neinmenschlichen verzweifelt, weil er es von außen her durch
nichts unterstützt, weil er es in der Welt nur stets im Nachteile sieht -- daß
sie in dem andern das Gefühl des Libertin erzeugt, das übermütige Bewußtsein,
niemand über sich zu haben -- in einer Dichternatur wie in der Tnrgenjcws
jedoch einen verstärkten, sehnsüchtigen und fast krankhaften Idealismus, gewisser¬
maßen ein verstärktes mcuschheitliches Korpsbcwußtsein gegenüber dem gleichgiltig
fremden Schicksale erweckt. Scheu und verschüchtert zieht sich hier das Empfinden,
von der Wirklichkeit stets mir verletzt und abgestoßen, ins Innerste zurück." I"
Konsequenz dieser Sätze hebt Thvrsch in seinen weiteren Ausführungen hervor,
daß die Charakterschilderung bei Turgenjew jede andre poetische Intention weit
überragt, daß der Kern seiner Menschen- und Lebensdarstellnng ein tragischer
^t, "herausgenommen aus der Schale großer und erhabener Äußerlichkeiten,
^ ganz in schlichten, wahren Formen als allgemeines Menschenschicksal," daß die
Subjektivität, die Empfindung bei Turgenjew etwas rast- und ruheloses hat,
daß der letzte und bleibendste Eindruck seiner Schöpfungen der einer tiefen,
weltmüden Resignation ist. "Man hat das Gefühl, als wäre alle Herrlichkeit
der Welt vor einem zusammengesunken, als hätte all das, was sich groß und
glänzend dünkt auf dieser Welt, kläglich bestanden vor dem Blick durchdringender
Wahrhaftigkeit, der aus dem Auge des Dichters getroffen, Ehrlichkeit und
Wahrheit fordernd. Turgenjew ist Pessimist, aber dennoch ist sein Pessimismus
dnrch zwei Dinge gemildert: einen leisen Zweifel und ein festes Vertrauen --


Zur Charakteristik Turgenjews.

wenn es ihn groß und glücklich macht. Wie Fels und Berg manchmal Gestalt
zu gewinnen scheinen, als wären sie von Menschenhand behauen, so nimmt auch
das Schicksal zuweilen eine scheinbar gewollte und absichtliche Gestalt an; aber
bald darauf geht es wieder — ohne die geringste Rücksicht auf den Menschen —
seine regellosen Wege. Eine schwermütig mutlose Resignation gegenüber der
Willkür des Geschehens spricht aus Turgenjews Dichtung allüberall; immer
und immer wieder tritt in ihr ein seltsamer Fatalismus hervor, der im Kern
so ganz und gar nicht mystisch ist und sich doch gar oft in mystisch klingende
Töne übersetzt. Immer und immer wieder kommt Turgenjew darauf zurück,
daß der Mensch sich sein Glück nicht selber schmiedet, daß sein Schicksal bestimmt
wird von blinden, sinnlosen Gewalten." „Immer und immer wieder ist in
Turgenjews Gestaltung des Schicksals die Gestaltung des Zufalls, des Wider-
strebens gegen Willen und Trieb des Menschen zu erkennen. Kraftvoll selbst¬
bewußtem Streben wird unversehens ein plötzliches Ziel gesetzt, Größe und Hoheit
des Empfindens stößt sich lächerlich und traurig genug an der Niedrigkeit, an
der Verlegenheit der kleinlichsten Verhältnisse, und die Ernte dessen, der Böses
gesäet hat, ist — Ruhe, Behaglichkeit und jenes gute Gewissen, das die stete
Begleiterscheinung des Erfolges ist. Aus alledem spricht die moderne Erkenntnis,
daß sich um den Menschen niemand kümmert als der Mensch. Nur daß diese
Erkenntnis bei dem einen die Quelle eines Skeptizismus ist, der am Siege
des Ideals, des Neinmenschlichen verzweifelt, weil er es von außen her durch
nichts unterstützt, weil er es in der Welt nur stets im Nachteile sieht — daß
sie in dem andern das Gefühl des Libertin erzeugt, das übermütige Bewußtsein,
niemand über sich zu haben — in einer Dichternatur wie in der Tnrgenjcws
jedoch einen verstärkten, sehnsüchtigen und fast krankhaften Idealismus, gewisser¬
maßen ein verstärktes mcuschheitliches Korpsbcwußtsein gegenüber dem gleichgiltig
fremden Schicksale erweckt. Scheu und verschüchtert zieht sich hier das Empfinden,
von der Wirklichkeit stets mir verletzt und abgestoßen, ins Innerste zurück." I»
Konsequenz dieser Sätze hebt Thvrsch in seinen weiteren Ausführungen hervor,
daß die Charakterschilderung bei Turgenjew jede andre poetische Intention weit
überragt, daß der Kern seiner Menschen- und Lebensdarstellnng ein tragischer
^t, „herausgenommen aus der Schale großer und erhabener Äußerlichkeiten,
^ ganz in schlichten, wahren Formen als allgemeines Menschenschicksal," daß die
Subjektivität, die Empfindung bei Turgenjew etwas rast- und ruheloses hat,
daß der letzte und bleibendste Eindruck seiner Schöpfungen der einer tiefen,
weltmüden Resignation ist. „Man hat das Gefühl, als wäre alle Herrlichkeit
der Welt vor einem zusammengesunken, als hätte all das, was sich groß und
glänzend dünkt auf dieser Welt, kläglich bestanden vor dem Blick durchdringender
Wahrhaftigkeit, der aus dem Auge des Dichters getroffen, Ehrlichkeit und
Wahrheit fordernd. Turgenjew ist Pessimist, aber dennoch ist sein Pessimismus
dnrch zwei Dinge gemildert: einen leisen Zweifel und ein festes Vertrauen —


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[0563] Zur Charakteristik Turgenjews. wenn es ihn groß und glücklich macht. Wie Fels und Berg manchmal Gestalt zu gewinnen scheinen, als wären sie von Menschenhand behauen, so nimmt auch das Schicksal zuweilen eine scheinbar gewollte und absichtliche Gestalt an; aber bald darauf geht es wieder — ohne die geringste Rücksicht auf den Menschen — seine regellosen Wege. Eine schwermütig mutlose Resignation gegenüber der Willkür des Geschehens spricht aus Turgenjews Dichtung allüberall; immer und immer wieder tritt in ihr ein seltsamer Fatalismus hervor, der im Kern so ganz und gar nicht mystisch ist und sich doch gar oft in mystisch klingende Töne übersetzt. Immer und immer wieder kommt Turgenjew darauf zurück, daß der Mensch sich sein Glück nicht selber schmiedet, daß sein Schicksal bestimmt wird von blinden, sinnlosen Gewalten." „Immer und immer wieder ist in Turgenjews Gestaltung des Schicksals die Gestaltung des Zufalls, des Wider- strebens gegen Willen und Trieb des Menschen zu erkennen. Kraftvoll selbst¬ bewußtem Streben wird unversehens ein plötzliches Ziel gesetzt, Größe und Hoheit des Empfindens stößt sich lächerlich und traurig genug an der Niedrigkeit, an der Verlegenheit der kleinlichsten Verhältnisse, und die Ernte dessen, der Böses gesäet hat, ist — Ruhe, Behaglichkeit und jenes gute Gewissen, das die stete Begleiterscheinung des Erfolges ist. Aus alledem spricht die moderne Erkenntnis, daß sich um den Menschen niemand kümmert als der Mensch. Nur daß diese Erkenntnis bei dem einen die Quelle eines Skeptizismus ist, der am Siege des Ideals, des Neinmenschlichen verzweifelt, weil er es von außen her durch nichts unterstützt, weil er es in der Welt nur stets im Nachteile sieht — daß sie in dem andern das Gefühl des Libertin erzeugt, das übermütige Bewußtsein, niemand über sich zu haben — in einer Dichternatur wie in der Tnrgenjcws jedoch einen verstärkten, sehnsüchtigen und fast krankhaften Idealismus, gewisser¬ maßen ein verstärktes mcuschheitliches Korpsbcwußtsein gegenüber dem gleichgiltig fremden Schicksale erweckt. Scheu und verschüchtert zieht sich hier das Empfinden, von der Wirklichkeit stets mir verletzt und abgestoßen, ins Innerste zurück." I» Konsequenz dieser Sätze hebt Thvrsch in seinen weiteren Ausführungen hervor, daß die Charakterschilderung bei Turgenjew jede andre poetische Intention weit überragt, daß der Kern seiner Menschen- und Lebensdarstellnng ein tragischer ^t, „herausgenommen aus der Schale großer und erhabener Äußerlichkeiten, ^ ganz in schlichten, wahren Formen als allgemeines Menschenschicksal," daß die Subjektivität, die Empfindung bei Turgenjew etwas rast- und ruheloses hat, daß der letzte und bleibendste Eindruck seiner Schöpfungen der einer tiefen, weltmüden Resignation ist. „Man hat das Gefühl, als wäre alle Herrlichkeit der Welt vor einem zusammengesunken, als hätte all das, was sich groß und glänzend dünkt auf dieser Welt, kläglich bestanden vor dem Blick durchdringender Wahrhaftigkeit, der aus dem Auge des Dichters getroffen, Ehrlichkeit und Wahrheit fordernd. Turgenjew ist Pessimist, aber dennoch ist sein Pessimismus dnrch zwei Dinge gemildert: einen leisen Zweifel und ein festes Vertrauen —

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198719/563>, abgerufen am 22.07.2024.