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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal.

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Die Poetik der Renaissance.

Jahrhundert lang anhaften sollte. Jedoch ist die Schuld daran weder Opitz
als Poeten noch seinen theoretischen Bestrebungen beizumessen. Gelehrt in dem
obigen Sinne, d. h. durch das Studium der antiken Literatur belehrt und in
ihrer Nachahmung befangen, ward seit der Renaissance die nationale Dichtung
aller Länder, nud sie ist es geblieben. Volksdichtung in der Weise des Mittel¬
alters und teilweise der Übergangszeit (unter welcher der Verfasser hier wohl
das Nefvrmationsjahrhnndert versteht) konnte sie nicht bleiben, sobald sie das
Publikum des Mittelalters nicht mehr vor sich hatte. Daß sie bei der not¬
wendigen Wandlung nichts verloren hat, ist jedem, der nicht eigensinnig an der
äußerlichen Verehrung rein nationaler Stoffe und Formen festhält, ohne weiteres
klar, wenn er sich nur den gewaltigen Fortschritt des dichterischen Bewußtseins
vergegenwärtigt, den die Klarheit der Antike zugleich mit ihren neuen An¬
schauungen und Gestaltungen im moderne" Geiste hervorbrachte. Es kam eben
sehr auf das Interesse an, mit dem die einzelnen Völker sich der neuen Dichtung
zuwandten, auf die Kraft der Talente, die sie ausüben und fortbilden sollten.
Daß das eine sowohl als die andern bei uns so lange ausblieben, hat unsrer
Literatur fast anderthalb Jahrhunderte die bekannte, nicht näher zu bezeichnende
Physiognomie aufgedrückt."

Mit diesem Satze, den er dem dritten Abschnitte seiner geistvollen Unter¬
suchung und Darstellung vorausschickt, wird der Verfasser meinen, sich gegen
jedes Mißverständnis verwahrt zu haben, daß er zu den modernen Apologeten
der allerdings widerwärtigen Poesie des siebzehnten Jahrhunderts gehöre. Es
ist eben eine nicht gering anzuschlagende Schwierigkeit, zu gleicher Zeit die
geringfügigen, aber doch vorhandenen Fortschritte der Knnstausfassnng und
Kunstübung in den vergessenen Poetikern und Poeten des siebzehnten Jahr¬
hunderts nachzuweisen, das Verhältnis der theoretischen Schriften Opitzeus,
Büchners, Schvttels, Harsdörffers zu ihren ausländischen Mustern und zu ein¬
ander nachzuweisen und doch keine" Augenblick zu vergessen, in wie unlöslichem
Zusammenhange alle diese Erscheinungen mit der außer" und innern Barbarei
ihrer Zeit gestanden haben. Der Verfasser ist Meister in der Kunst, zu gleicher
Zeit die Bedeutung einer Leistung im Zusammenhange mit der Bildung ihrer
Periode zu würdigen und doch die schärfste Kritik auszuüben; in gewissen Ka¬
piteln geschieht dies selbst mit humoristischem Behagen. Ma" lese z. V. seine
Charakteristik der erlauchten und wohlcdelu Herren von der fruchtbringenden
Gesellschaft, der "spielenden" Pegnitzschäfer (in, Kapitel "Nürnberger Spielkuust"),
die köstliche Gegenüberstellung des hochwürdigen Johann Rist und des land¬
fahrenden Pvetikers Philipp von Zehen, dem seine literarischen Gegner Galgen
und Rad prophezeien, lediglich weil er ohne Amt ist, der Opernpocten, ihrer
Theorien und Fehden. Boriuski zeigt ferner ein seltenes Talent in der Dar¬
stellung widerstreitender und wirr durcheinander wogender A"Seba"ruge" -- man
vergleiche hierfür in seinen letzten Kapiteln den Kampf zwischen den ältern


Die Poetik der Renaissance.

Jahrhundert lang anhaften sollte. Jedoch ist die Schuld daran weder Opitz
als Poeten noch seinen theoretischen Bestrebungen beizumessen. Gelehrt in dem
obigen Sinne, d. h. durch das Studium der antiken Literatur belehrt und in
ihrer Nachahmung befangen, ward seit der Renaissance die nationale Dichtung
aller Länder, nud sie ist es geblieben. Volksdichtung in der Weise des Mittel¬
alters und teilweise der Übergangszeit (unter welcher der Verfasser hier wohl
das Nefvrmationsjahrhnndert versteht) konnte sie nicht bleiben, sobald sie das
Publikum des Mittelalters nicht mehr vor sich hatte. Daß sie bei der not¬
wendigen Wandlung nichts verloren hat, ist jedem, der nicht eigensinnig an der
äußerlichen Verehrung rein nationaler Stoffe und Formen festhält, ohne weiteres
klar, wenn er sich nur den gewaltigen Fortschritt des dichterischen Bewußtseins
vergegenwärtigt, den die Klarheit der Antike zugleich mit ihren neuen An¬
schauungen und Gestaltungen im moderne» Geiste hervorbrachte. Es kam eben
sehr auf das Interesse an, mit dem die einzelnen Völker sich der neuen Dichtung
zuwandten, auf die Kraft der Talente, die sie ausüben und fortbilden sollten.
Daß das eine sowohl als die andern bei uns so lange ausblieben, hat unsrer
Literatur fast anderthalb Jahrhunderte die bekannte, nicht näher zu bezeichnende
Physiognomie aufgedrückt."

Mit diesem Satze, den er dem dritten Abschnitte seiner geistvollen Unter¬
suchung und Darstellung vorausschickt, wird der Verfasser meinen, sich gegen
jedes Mißverständnis verwahrt zu haben, daß er zu den modernen Apologeten
der allerdings widerwärtigen Poesie des siebzehnten Jahrhunderts gehöre. Es
ist eben eine nicht gering anzuschlagende Schwierigkeit, zu gleicher Zeit die
geringfügigen, aber doch vorhandenen Fortschritte der Knnstausfassnng und
Kunstübung in den vergessenen Poetikern und Poeten des siebzehnten Jahr¬
hunderts nachzuweisen, das Verhältnis der theoretischen Schriften Opitzeus,
Büchners, Schvttels, Harsdörffers zu ihren ausländischen Mustern und zu ein¬
ander nachzuweisen und doch keine» Augenblick zu vergessen, in wie unlöslichem
Zusammenhange alle diese Erscheinungen mit der außer» und innern Barbarei
ihrer Zeit gestanden haben. Der Verfasser ist Meister in der Kunst, zu gleicher
Zeit die Bedeutung einer Leistung im Zusammenhange mit der Bildung ihrer
Periode zu würdigen und doch die schärfste Kritik auszuüben; in gewissen Ka¬
piteln geschieht dies selbst mit humoristischem Behagen. Ma» lese z. V. seine
Charakteristik der erlauchten und wohlcdelu Herren von der fruchtbringenden
Gesellschaft, der „spielenden" Pegnitzschäfer (in, Kapitel „Nürnberger Spielkuust"),
die köstliche Gegenüberstellung des hochwürdigen Johann Rist und des land¬
fahrenden Pvetikers Philipp von Zehen, dem seine literarischen Gegner Galgen
und Rad prophezeien, lediglich weil er ohne Amt ist, der Opernpocten, ihrer
Theorien und Fehden. Boriuski zeigt ferner ein seltenes Talent in der Dar¬
stellung widerstreitender und wirr durcheinander wogender A»Seba»ruge» — man
vergleiche hierfür in seinen letzten Kapiteln den Kampf zwischen den ältern


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[0559] Die Poetik der Renaissance. Jahrhundert lang anhaften sollte. Jedoch ist die Schuld daran weder Opitz als Poeten noch seinen theoretischen Bestrebungen beizumessen. Gelehrt in dem obigen Sinne, d. h. durch das Studium der antiken Literatur belehrt und in ihrer Nachahmung befangen, ward seit der Renaissance die nationale Dichtung aller Länder, nud sie ist es geblieben. Volksdichtung in der Weise des Mittel¬ alters und teilweise der Übergangszeit (unter welcher der Verfasser hier wohl das Nefvrmationsjahrhnndert versteht) konnte sie nicht bleiben, sobald sie das Publikum des Mittelalters nicht mehr vor sich hatte. Daß sie bei der not¬ wendigen Wandlung nichts verloren hat, ist jedem, der nicht eigensinnig an der äußerlichen Verehrung rein nationaler Stoffe und Formen festhält, ohne weiteres klar, wenn er sich nur den gewaltigen Fortschritt des dichterischen Bewußtseins vergegenwärtigt, den die Klarheit der Antike zugleich mit ihren neuen An¬ schauungen und Gestaltungen im moderne» Geiste hervorbrachte. Es kam eben sehr auf das Interesse an, mit dem die einzelnen Völker sich der neuen Dichtung zuwandten, auf die Kraft der Talente, die sie ausüben und fortbilden sollten. Daß das eine sowohl als die andern bei uns so lange ausblieben, hat unsrer Literatur fast anderthalb Jahrhunderte die bekannte, nicht näher zu bezeichnende Physiognomie aufgedrückt." Mit diesem Satze, den er dem dritten Abschnitte seiner geistvollen Unter¬ suchung und Darstellung vorausschickt, wird der Verfasser meinen, sich gegen jedes Mißverständnis verwahrt zu haben, daß er zu den modernen Apologeten der allerdings widerwärtigen Poesie des siebzehnten Jahrhunderts gehöre. Es ist eben eine nicht gering anzuschlagende Schwierigkeit, zu gleicher Zeit die geringfügigen, aber doch vorhandenen Fortschritte der Knnstausfassnng und Kunstübung in den vergessenen Poetikern und Poeten des siebzehnten Jahr¬ hunderts nachzuweisen, das Verhältnis der theoretischen Schriften Opitzeus, Büchners, Schvttels, Harsdörffers zu ihren ausländischen Mustern und zu ein¬ ander nachzuweisen und doch keine» Augenblick zu vergessen, in wie unlöslichem Zusammenhange alle diese Erscheinungen mit der außer» und innern Barbarei ihrer Zeit gestanden haben. Der Verfasser ist Meister in der Kunst, zu gleicher Zeit die Bedeutung einer Leistung im Zusammenhange mit der Bildung ihrer Periode zu würdigen und doch die schärfste Kritik auszuüben; in gewissen Ka¬ piteln geschieht dies selbst mit humoristischem Behagen. Ma» lese z. V. seine Charakteristik der erlauchten und wohlcdelu Herren von der fruchtbringenden Gesellschaft, der „spielenden" Pegnitzschäfer (in, Kapitel „Nürnberger Spielkuust"), die köstliche Gegenüberstellung des hochwürdigen Johann Rist und des land¬ fahrenden Pvetikers Philipp von Zehen, dem seine literarischen Gegner Galgen und Rad prophezeien, lediglich weil er ohne Amt ist, der Opernpocten, ihrer Theorien und Fehden. Boriuski zeigt ferner ein seltenes Talent in der Dar¬ stellung widerstreitender und wirr durcheinander wogender A»Seba»ruge» — man vergleiche hierfür in seinen letzten Kapiteln den Kampf zwischen den ältern

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198719/559>, abgerufen am 22.07.2024.