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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal.

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Ais Poetik der Renaissance.

stehen, und so vortrefflich und klar die Auseinandersetzungen des Verfassers siud,
so glücklich er die ungeheure Fülle des Einzelmaterials bewältigt, die dem
Kundigen ans den Anmerkungen deutlich wird, so setzt die Befassung mit einem
Werke wie dieses doch schon eine ausgebreitete Kenntnis der Literatur und zwar
zumeist jener Literatur voraus, die nicht mehr genossen, sondern lediglich studirt
zu werden pflegt. Umsomehr Dank wird mau es dem Verfasser wissen, daß er sich
zu einer Form entschlossen hat, die es den Nichtfachgcnossen wenigstens möglich
macht, sich in eine hochinteressante Episode der deutschen Literatnrentwicklung zu
vertiefen. Der außerordentliche Einfluß der Renaissanccpvetik auf die deutsche
Dichtung vom Ende des sechzehnten bis zum Anfang des achtzehnten Jahr¬
hunderts gilt als anerkannte und allbekannte Thatsache. Im Zusammenhange
dargestellt, in alle Einzelerscheinungen hinein verfolgt und aus allen Einzel¬
erscheinungen heraus nachgewiesen, ist er vor dem Borinskischen Buche niemals.
Die Studien des Verfassers wurden durch eine, unsers Wissens von Michael
Bernays veranlaßte, Preisaufgabe der philosophischen Fakultät der Universität
München "Geschichte der Poetiken" ans dies besondre Gebiet gelenkt. Borinski
erkannte, daß in diesen Poetiken, welche die Kunsttheorie und Kunstübung so
vieler Generationen beherrschten, eine Borgeschichte, ein erster Teil der Geschichte
der literarischen Kritik in Deutschland enthalten sei, und er schrak vor der dafür
notwendigen Durchforschung von taufenden höchst unerquicklicher Produkte umso
weniger zurück, als er hier deu Ausgangspunkt besserer Erkenntnis und einer
gegen alles Banausentum, gegen alle nüchterne, fromme oder barbarische Gering¬
schätzung der Poesie geschlitzten freien Würdigung der Poesie wahrnahm. "Ans
der ersten umfassenden Ablagerung des modernem kritischen Bedürfnisses (Sealigers
Poetik) erhebt sich die akademische Kritik des nächsten Jahrhunderts mit ihrem
allen Widerstand niederwerfenden dominirenden Einfluß auf die Produktion
aller Literaturen, ans diesem Boden steht, so sehr er ihn umgeschaffen hat, so
frei und stolz er ans ihm emporragt, der kritische Riese Lessing." In diesem
Betracht und bei der Gewißheit, daß das Verhältnis der modernen Dichtung
zu der kritischen Poetik ein in steigendem Maße abhängiges gewesen sei, daß
die Auffassung der Poesie, die Überzeugung von ihrer Berechtigung und Be¬
deutung für das Leben der Menschheit bei den Poetikern und Poeten der
dentschen Renaissance entwickelter war, als bei den Nachfolgern Luthers und
deu Vertretern der Reformation am Ende des sechzehnten Jahrhunderts, unter¬
nimmt der Verfasser auch eine, freilich sehr eingeschränkte Verteidigung der von
Opitz zum Siege geführten gelehrten Poesie des siebzehnten Jahrhunderts.
"Unsre nationale Ncnaissancedichtuug, eine allerdings wenig erfreuliche Literatur,
wird in Deutschland gewöhnlich als Gelehrtcndichtung bezeichnet, Opitz als ihr
eigentlicher Begründer meist ebenso verdammt, wie er früher als solcher in den
Himmel gehoben wurde. Unglückliche Umstände aller Art haben es bewirkt,
daß diese Dichtung deu widerwärtigen Charakter annahm, der ihr über ein


Ais Poetik der Renaissance.

stehen, und so vortrefflich und klar die Auseinandersetzungen des Verfassers siud,
so glücklich er die ungeheure Fülle des Einzelmaterials bewältigt, die dem
Kundigen ans den Anmerkungen deutlich wird, so setzt die Befassung mit einem
Werke wie dieses doch schon eine ausgebreitete Kenntnis der Literatur und zwar
zumeist jener Literatur voraus, die nicht mehr genossen, sondern lediglich studirt
zu werden pflegt. Umsomehr Dank wird mau es dem Verfasser wissen, daß er sich
zu einer Form entschlossen hat, die es den Nichtfachgcnossen wenigstens möglich
macht, sich in eine hochinteressante Episode der deutschen Literatnrentwicklung zu
vertiefen. Der außerordentliche Einfluß der Renaissanccpvetik auf die deutsche
Dichtung vom Ende des sechzehnten bis zum Anfang des achtzehnten Jahr¬
hunderts gilt als anerkannte und allbekannte Thatsache. Im Zusammenhange
dargestellt, in alle Einzelerscheinungen hinein verfolgt und aus allen Einzel¬
erscheinungen heraus nachgewiesen, ist er vor dem Borinskischen Buche niemals.
Die Studien des Verfassers wurden durch eine, unsers Wissens von Michael
Bernays veranlaßte, Preisaufgabe der philosophischen Fakultät der Universität
München „Geschichte der Poetiken" ans dies besondre Gebiet gelenkt. Borinski
erkannte, daß in diesen Poetiken, welche die Kunsttheorie und Kunstübung so
vieler Generationen beherrschten, eine Borgeschichte, ein erster Teil der Geschichte
der literarischen Kritik in Deutschland enthalten sei, und er schrak vor der dafür
notwendigen Durchforschung von taufenden höchst unerquicklicher Produkte umso
weniger zurück, als er hier deu Ausgangspunkt besserer Erkenntnis und einer
gegen alles Banausentum, gegen alle nüchterne, fromme oder barbarische Gering¬
schätzung der Poesie geschlitzten freien Würdigung der Poesie wahrnahm. „Ans
der ersten umfassenden Ablagerung des modernem kritischen Bedürfnisses (Sealigers
Poetik) erhebt sich die akademische Kritik des nächsten Jahrhunderts mit ihrem
allen Widerstand niederwerfenden dominirenden Einfluß auf die Produktion
aller Literaturen, ans diesem Boden steht, so sehr er ihn umgeschaffen hat, so
frei und stolz er ans ihm emporragt, der kritische Riese Lessing." In diesem
Betracht und bei der Gewißheit, daß das Verhältnis der modernen Dichtung
zu der kritischen Poetik ein in steigendem Maße abhängiges gewesen sei, daß
die Auffassung der Poesie, die Überzeugung von ihrer Berechtigung und Be¬
deutung für das Leben der Menschheit bei den Poetikern und Poeten der
dentschen Renaissance entwickelter war, als bei den Nachfolgern Luthers und
deu Vertretern der Reformation am Ende des sechzehnten Jahrhunderts, unter¬
nimmt der Verfasser auch eine, freilich sehr eingeschränkte Verteidigung der von
Opitz zum Siege geführten gelehrten Poesie des siebzehnten Jahrhunderts.
„Unsre nationale Ncnaissancedichtuug, eine allerdings wenig erfreuliche Literatur,
wird in Deutschland gewöhnlich als Gelehrtcndichtung bezeichnet, Opitz als ihr
eigentlicher Begründer meist ebenso verdammt, wie er früher als solcher in den
Himmel gehoben wurde. Unglückliche Umstände aller Art haben es bewirkt,
daß diese Dichtung deu widerwärtigen Charakter annahm, der ihr über ein


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[0558] Ais Poetik der Renaissance. stehen, und so vortrefflich und klar die Auseinandersetzungen des Verfassers siud, so glücklich er die ungeheure Fülle des Einzelmaterials bewältigt, die dem Kundigen ans den Anmerkungen deutlich wird, so setzt die Befassung mit einem Werke wie dieses doch schon eine ausgebreitete Kenntnis der Literatur und zwar zumeist jener Literatur voraus, die nicht mehr genossen, sondern lediglich studirt zu werden pflegt. Umsomehr Dank wird mau es dem Verfasser wissen, daß er sich zu einer Form entschlossen hat, die es den Nichtfachgcnossen wenigstens möglich macht, sich in eine hochinteressante Episode der deutschen Literatnrentwicklung zu vertiefen. Der außerordentliche Einfluß der Renaissanccpvetik auf die deutsche Dichtung vom Ende des sechzehnten bis zum Anfang des achtzehnten Jahr¬ hunderts gilt als anerkannte und allbekannte Thatsache. Im Zusammenhange dargestellt, in alle Einzelerscheinungen hinein verfolgt und aus allen Einzel¬ erscheinungen heraus nachgewiesen, ist er vor dem Borinskischen Buche niemals. Die Studien des Verfassers wurden durch eine, unsers Wissens von Michael Bernays veranlaßte, Preisaufgabe der philosophischen Fakultät der Universität München „Geschichte der Poetiken" ans dies besondre Gebiet gelenkt. Borinski erkannte, daß in diesen Poetiken, welche die Kunsttheorie und Kunstübung so vieler Generationen beherrschten, eine Borgeschichte, ein erster Teil der Geschichte der literarischen Kritik in Deutschland enthalten sei, und er schrak vor der dafür notwendigen Durchforschung von taufenden höchst unerquicklicher Produkte umso weniger zurück, als er hier deu Ausgangspunkt besserer Erkenntnis und einer gegen alles Banausentum, gegen alle nüchterne, fromme oder barbarische Gering¬ schätzung der Poesie geschlitzten freien Würdigung der Poesie wahrnahm. „Ans der ersten umfassenden Ablagerung des modernem kritischen Bedürfnisses (Sealigers Poetik) erhebt sich die akademische Kritik des nächsten Jahrhunderts mit ihrem allen Widerstand niederwerfenden dominirenden Einfluß auf die Produktion aller Literaturen, ans diesem Boden steht, so sehr er ihn umgeschaffen hat, so frei und stolz er ans ihm emporragt, der kritische Riese Lessing." In diesem Betracht und bei der Gewißheit, daß das Verhältnis der modernen Dichtung zu der kritischen Poetik ein in steigendem Maße abhängiges gewesen sei, daß die Auffassung der Poesie, die Überzeugung von ihrer Berechtigung und Be¬ deutung für das Leben der Menschheit bei den Poetikern und Poeten der dentschen Renaissance entwickelter war, als bei den Nachfolgern Luthers und deu Vertretern der Reformation am Ende des sechzehnten Jahrhunderts, unter¬ nimmt der Verfasser auch eine, freilich sehr eingeschränkte Verteidigung der von Opitz zum Siege geführten gelehrten Poesie des siebzehnten Jahrhunderts. „Unsre nationale Ncnaissancedichtuug, eine allerdings wenig erfreuliche Literatur, wird in Deutschland gewöhnlich als Gelehrtcndichtung bezeichnet, Opitz als ihr eigentlicher Begründer meist ebenso verdammt, wie er früher als solcher in den Himmel gehoben wurde. Unglückliche Umstände aller Art haben es bewirkt, daß diese Dichtung deu widerwärtigen Charakter annahm, der ihr über ein

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198719/558>, abgerufen am 22.07.2024.