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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal.

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Germanische Altertümer eins den Bcmerdörfern Nordnngarns.

Speisekammer gegenüber; die Kinder werden zwei Jahre lang gesäugt, so lange
schlafen sie bei ihren Eltern. Das Ganze steht unter einem gewühlten Vorstande."

G.s Mitteilungen waren für mich so überraschend, die Eigenart der ge¬
schilderten Zustände, mochten sie nun ein Auswuchs örtlicher Besonderheiten
oder in der That, woran ich noch sehr zweifelte, aus Deutschland mitgebracht
sein, erweckte mein Interesse so sehr, daß ich sogleich meine Geneigtheit bezeigte,
mich möglichst bald an Ort und Stelle zu begeben, um selbst das Wunderbare
zu sehen. Wenn Sie nach Krickerhäu gehen, ermahnte mich G., wenden Sie
sich nur an meinen Freund, den Postmeister Wolcmd, da werden Sie sehr gut
aufgehoben sein!

Allerdings haben sich in neuester Zeit die Zeugnisse für eine frühere weitere
Verbreitung der Hausgenossenschaft erheblich vermehrt; wir wissen, daß sie noch
bis in die neuere Zeit in Frankreich vorkam, daß sie bis zur Aufhebung der
Leibeigenschaft unter den großrussischen Bauern allgemein war, aber gerade für
unsre Vorfahren hat man die Möglichkeit eines ähnlichen Zusammenlebens schon
aus psychologischen Erwägungen ablehnen wollen, man hielt es für unglaublich,
daß der harte, spröde, selbstwillige Sinn des Deutschen sich dem Zwange einer
solchen Gemeinwirtschaft hätte unterwerfen können, eine auf die Anschauung
unsers heutigen Vcmcrnlebens gebaute Überzeugung, der schon der alte Lepner
in seinem Büchlein über das preußische Lithauen (1690) bei der Beschreibung
des patriarchalische" Lebens im lithauischen Hause Ausdruck giebt. "Mau muß
sich verwundern -- sind seine Worte -- über die Einträchtigkeit dieser Leute. Bei
dem deutschen Bauer gehet solches nicht an; da kann selten ein Sohn mit seinem
Vater im Hause leben: dnfern der Sohn dem Vater zur Hand geht, geschieht
es doch nicht von der Schwiegertochter."

Daß indeß die Hausgenosscnschaftcn trotzdem auch bei unsern germanischen
Vorfahren in alter Zeit üblich gewesen sind, wird schon durch die bei Maurer,
Geschichte der Frohnhöfe, S. 285 ff. gegebenen Nachweisungen außer Frage
gestellt, und wenn bei ihm zunächst von den hörigen "Geschlechtern" der Frohn-
höfe die Rede ist, so ergänzt diese Lücke Denman Roß (UM^ Listor/ eilt^nä-
HolclinA Äinong' t>it"z (Formens S. 25, Anmerkungen, bes. 72) durch weitere
Zeugnisse für den Stand der Freien. Ja noch im Anfang unsers Jahrhunderts
scheint die Hausgenossenschaft nach den fast unzweideutigen Angaben Rußwurms
(Mdoiovcs, Neval, 1855) bei den Jnselschweden an den Küsten der Ostsee¬
provinzen verbreitet gewesen zu sein. "Ans Rums -- sagt er Z 219 -- ge¬
hören vier bis fünf Familien zu einem Brote oder einer Gesellschaft, wo trM-P
(im Wörterverzeichnis verdeutscht er dro mit Brot, gemeinschaftliche Kost, Haus¬
halt, und vergleicht das Altschwcdische i driarchi, im Brote, d. h. in der Familie)
die durch enges Zusammenhalten und raschere Vollendung der gemeinsamen
Arbeiten meist zu größerm Wohlstande gelangen." Dazu paßt freilich nicht
recht, daß, wie er a. a. O. behauptet, alle schwedischen Bauergüter unteilbare


Germanische Altertümer eins den Bcmerdörfern Nordnngarns.

Speisekammer gegenüber; die Kinder werden zwei Jahre lang gesäugt, so lange
schlafen sie bei ihren Eltern. Das Ganze steht unter einem gewühlten Vorstande."

G.s Mitteilungen waren für mich so überraschend, die Eigenart der ge¬
schilderten Zustände, mochten sie nun ein Auswuchs örtlicher Besonderheiten
oder in der That, woran ich noch sehr zweifelte, aus Deutschland mitgebracht
sein, erweckte mein Interesse so sehr, daß ich sogleich meine Geneigtheit bezeigte,
mich möglichst bald an Ort und Stelle zu begeben, um selbst das Wunderbare
zu sehen. Wenn Sie nach Krickerhäu gehen, ermahnte mich G., wenden Sie
sich nur an meinen Freund, den Postmeister Wolcmd, da werden Sie sehr gut
aufgehoben sein!

Allerdings haben sich in neuester Zeit die Zeugnisse für eine frühere weitere
Verbreitung der Hausgenossenschaft erheblich vermehrt; wir wissen, daß sie noch
bis in die neuere Zeit in Frankreich vorkam, daß sie bis zur Aufhebung der
Leibeigenschaft unter den großrussischen Bauern allgemein war, aber gerade für
unsre Vorfahren hat man die Möglichkeit eines ähnlichen Zusammenlebens schon
aus psychologischen Erwägungen ablehnen wollen, man hielt es für unglaublich,
daß der harte, spröde, selbstwillige Sinn des Deutschen sich dem Zwange einer
solchen Gemeinwirtschaft hätte unterwerfen können, eine auf die Anschauung
unsers heutigen Vcmcrnlebens gebaute Überzeugung, der schon der alte Lepner
in seinem Büchlein über das preußische Lithauen (1690) bei der Beschreibung
des patriarchalische» Lebens im lithauischen Hause Ausdruck giebt. „Mau muß
sich verwundern — sind seine Worte — über die Einträchtigkeit dieser Leute. Bei
dem deutschen Bauer gehet solches nicht an; da kann selten ein Sohn mit seinem
Vater im Hause leben: dnfern der Sohn dem Vater zur Hand geht, geschieht
es doch nicht von der Schwiegertochter."

Daß indeß die Hausgenosscnschaftcn trotzdem auch bei unsern germanischen
Vorfahren in alter Zeit üblich gewesen sind, wird schon durch die bei Maurer,
Geschichte der Frohnhöfe, S. 285 ff. gegebenen Nachweisungen außer Frage
gestellt, und wenn bei ihm zunächst von den hörigen „Geschlechtern" der Frohn-
höfe die Rede ist, so ergänzt diese Lücke Denman Roß (UM^ Listor/ eilt^nä-
HolclinA Äinong' t>it«z (Formens S. 25, Anmerkungen, bes. 72) durch weitere
Zeugnisse für den Stand der Freien. Ja noch im Anfang unsers Jahrhunderts
scheint die Hausgenossenschaft nach den fast unzweideutigen Angaben Rußwurms
(Mdoiovcs, Neval, 1855) bei den Jnselschweden an den Küsten der Ostsee¬
provinzen verbreitet gewesen zu sein. „Ans Rums — sagt er Z 219 — ge¬
hören vier bis fünf Familien zu einem Brote oder einer Gesellschaft, wo trM-P
(im Wörterverzeichnis verdeutscht er dro mit Brot, gemeinschaftliche Kost, Haus¬
halt, und vergleicht das Altschwcdische i driarchi, im Brote, d. h. in der Familie)
die durch enges Zusammenhalten und raschere Vollendung der gemeinsamen
Arbeiten meist zu größerm Wohlstande gelangen." Dazu paßt freilich nicht
recht, daß, wie er a. a. O. behauptet, alle schwedischen Bauergüter unteilbare


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198719/506>, abgerufen am 22.07.2024.