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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal.

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Die Meineidpest.

Ebensowenig vermag ich das dritte Bedenken zu teilen; wenn der Richter
über Wahrheit und Unwahrheit der thatsächlichen Behauptungen der Parteien
"unter Berücksichtigung des gesamten Inhaltes der Verhandlungen und des Er¬
gebnisses einer etwaigen Beweisaufnahme nach freier Überzeugung entscheiden"
soll, so kann einem verständigen Richter diese Aufgabe nur wesentlich erleichtert
werden, wenn er auch die Parteien von Angesicht zu Angesicht und ihre Per¬
sönlichkeit würdigen kann; wer dies nicht glaubt, der beantrage doch lieber gleich
die Abschaffung des öffentlich-mündlichen Strafverfahrens; für einen Angeklagten
ist es doch noch viel bedenklicher als für eine Partei im Zivilprozesse, wenn
der Richter "auf seine Persönlichkeit und sein Benehmen Gewicht zu legen" ver¬
anlaßt wird!

Als vollberechtigt erkenne ich das vierte Bedenken an; aber meinem Vor¬
schlage steht dasselbe nicht im Wege; ich sage nur: an die Stelle des Schieds-
eidcs soll die Vernehmung der Partei als Zeuge treten, nicht "die zeugeneidliche
Vernehmung der Partei"; über die Vereidigung der als Zeuge vernommenen
Partei soll vielmehr der Richter gerade so entscheiden wie über die Vereidigung
jedes andern Zeugen. Die Bedeutung des Unterschiedes zwischen meinem und
dem von dem Verfasser der Motive zur Zivilprozeßordnung bekämpften Vor¬
schlage möge ein im wesentlichen dem Leben entnommener Fall veranschaulichen.
In einem Prozesse über Anerkennung der Vaterschaft eines unehelichen Kindes
hat der Beklagte behauptet, daß die Klägerin nicht bloß mit ihm, sondern gleich¬
zeitig auch mit einem andern Manne unerlaubten Verkehr gehabt habe; ein von
ihm benannter eidlich vernommener Zeuge hat seine Behauptung bestätigt; das
Gericht hat aber hinsichtlich der Glaubwürdigkeit des Zeugen einige Bedenken;
kann es diese nicht überwinden, so bleibt nach dem heutigen Stande der Gesetz¬
gebung nichts andres übrig, als der Klägerin über die Unwahrheit der Be¬
hauptung des Gegners den Eid aufzuerlegen; die Klägerin leistet ihn trotz aller
Verwarnung und gewinnt den Prozeß; und der Erfolg ist eine alsbaldige De¬
nunziation derselben durch den Beklagten wegen Meineides und mit aller Wahr¬
scheinlichkeit ihre Verurteilung. Kaum besser ist die Sache bei zeugcneidlicher
Vernehmung der Klägerin: vielleicht weist der Richter auf Grund der freien
Veweiswürdigung die Klägerin ab, weil er ihr Zeugnis nicht glaubwürdig
findet; ihr Meineid aber bleibt bestehen. Nach meinem Vorschlage prüft der
Richter die Glaubwürdigkeit der Aussage und macht sich hiernach über die Ver¬
eidigung schlüssig; entscheidet er sich aus haltbaren Gründen dafür, so wird der
Strafrichter nach geleisteten Eide einer Meineidsdenunziation kaum stattgeben;
entscheidet er sich dagegen, so weist er ohne Eid oder Meineid der Klägerin die
Klage ab. Ich meine, die Wahl zwischen diesen drei Arten des Verfahrens
kann kaum zweifelhaft sein.

Soviel über die Beseitigung des Parteieneides und die Entfernung des
Schiedseides aus dein Zivilprozeß. Außerhalb des Prozesses mögen die Parteien


Grenzboten III. 1886. 51
Die Meineidpest.

Ebensowenig vermag ich das dritte Bedenken zu teilen; wenn der Richter
über Wahrheit und Unwahrheit der thatsächlichen Behauptungen der Parteien
„unter Berücksichtigung des gesamten Inhaltes der Verhandlungen und des Er¬
gebnisses einer etwaigen Beweisaufnahme nach freier Überzeugung entscheiden"
soll, so kann einem verständigen Richter diese Aufgabe nur wesentlich erleichtert
werden, wenn er auch die Parteien von Angesicht zu Angesicht und ihre Per¬
sönlichkeit würdigen kann; wer dies nicht glaubt, der beantrage doch lieber gleich
die Abschaffung des öffentlich-mündlichen Strafverfahrens; für einen Angeklagten
ist es doch noch viel bedenklicher als für eine Partei im Zivilprozesse, wenn
der Richter „auf seine Persönlichkeit und sein Benehmen Gewicht zu legen" ver¬
anlaßt wird!

Als vollberechtigt erkenne ich das vierte Bedenken an; aber meinem Vor¬
schlage steht dasselbe nicht im Wege; ich sage nur: an die Stelle des Schieds-
eidcs soll die Vernehmung der Partei als Zeuge treten, nicht „die zeugeneidliche
Vernehmung der Partei"; über die Vereidigung der als Zeuge vernommenen
Partei soll vielmehr der Richter gerade so entscheiden wie über die Vereidigung
jedes andern Zeugen. Die Bedeutung des Unterschiedes zwischen meinem und
dem von dem Verfasser der Motive zur Zivilprozeßordnung bekämpften Vor¬
schlage möge ein im wesentlichen dem Leben entnommener Fall veranschaulichen.
In einem Prozesse über Anerkennung der Vaterschaft eines unehelichen Kindes
hat der Beklagte behauptet, daß die Klägerin nicht bloß mit ihm, sondern gleich¬
zeitig auch mit einem andern Manne unerlaubten Verkehr gehabt habe; ein von
ihm benannter eidlich vernommener Zeuge hat seine Behauptung bestätigt; das
Gericht hat aber hinsichtlich der Glaubwürdigkeit des Zeugen einige Bedenken;
kann es diese nicht überwinden, so bleibt nach dem heutigen Stande der Gesetz¬
gebung nichts andres übrig, als der Klägerin über die Unwahrheit der Be¬
hauptung des Gegners den Eid aufzuerlegen; die Klägerin leistet ihn trotz aller
Verwarnung und gewinnt den Prozeß; und der Erfolg ist eine alsbaldige De¬
nunziation derselben durch den Beklagten wegen Meineides und mit aller Wahr¬
scheinlichkeit ihre Verurteilung. Kaum besser ist die Sache bei zeugcneidlicher
Vernehmung der Klägerin: vielleicht weist der Richter auf Grund der freien
Veweiswürdigung die Klägerin ab, weil er ihr Zeugnis nicht glaubwürdig
findet; ihr Meineid aber bleibt bestehen. Nach meinem Vorschlage prüft der
Richter die Glaubwürdigkeit der Aussage und macht sich hiernach über die Ver¬
eidigung schlüssig; entscheidet er sich aus haltbaren Gründen dafür, so wird der
Strafrichter nach geleisteten Eide einer Meineidsdenunziation kaum stattgeben;
entscheidet er sich dagegen, so weist er ohne Eid oder Meineid der Klägerin die
Klage ab. Ich meine, die Wahl zwischen diesen drei Arten des Verfahrens
kann kaum zweifelhaft sein.

Soviel über die Beseitigung des Parteieneides und die Entfernung des
Schiedseides aus dein Zivilprozeß. Außerhalb des Prozesses mögen die Parteien


Grenzboten III. 1886. 51
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[0409] Die Meineidpest. Ebensowenig vermag ich das dritte Bedenken zu teilen; wenn der Richter über Wahrheit und Unwahrheit der thatsächlichen Behauptungen der Parteien „unter Berücksichtigung des gesamten Inhaltes der Verhandlungen und des Er¬ gebnisses einer etwaigen Beweisaufnahme nach freier Überzeugung entscheiden" soll, so kann einem verständigen Richter diese Aufgabe nur wesentlich erleichtert werden, wenn er auch die Parteien von Angesicht zu Angesicht und ihre Per¬ sönlichkeit würdigen kann; wer dies nicht glaubt, der beantrage doch lieber gleich die Abschaffung des öffentlich-mündlichen Strafverfahrens; für einen Angeklagten ist es doch noch viel bedenklicher als für eine Partei im Zivilprozesse, wenn der Richter „auf seine Persönlichkeit und sein Benehmen Gewicht zu legen" ver¬ anlaßt wird! Als vollberechtigt erkenne ich das vierte Bedenken an; aber meinem Vor¬ schlage steht dasselbe nicht im Wege; ich sage nur: an die Stelle des Schieds- eidcs soll die Vernehmung der Partei als Zeuge treten, nicht „die zeugeneidliche Vernehmung der Partei"; über die Vereidigung der als Zeuge vernommenen Partei soll vielmehr der Richter gerade so entscheiden wie über die Vereidigung jedes andern Zeugen. Die Bedeutung des Unterschiedes zwischen meinem und dem von dem Verfasser der Motive zur Zivilprozeßordnung bekämpften Vor¬ schlage möge ein im wesentlichen dem Leben entnommener Fall veranschaulichen. In einem Prozesse über Anerkennung der Vaterschaft eines unehelichen Kindes hat der Beklagte behauptet, daß die Klägerin nicht bloß mit ihm, sondern gleich¬ zeitig auch mit einem andern Manne unerlaubten Verkehr gehabt habe; ein von ihm benannter eidlich vernommener Zeuge hat seine Behauptung bestätigt; das Gericht hat aber hinsichtlich der Glaubwürdigkeit des Zeugen einige Bedenken; kann es diese nicht überwinden, so bleibt nach dem heutigen Stande der Gesetz¬ gebung nichts andres übrig, als der Klägerin über die Unwahrheit der Be¬ hauptung des Gegners den Eid aufzuerlegen; die Klägerin leistet ihn trotz aller Verwarnung und gewinnt den Prozeß; und der Erfolg ist eine alsbaldige De¬ nunziation derselben durch den Beklagten wegen Meineides und mit aller Wahr¬ scheinlichkeit ihre Verurteilung. Kaum besser ist die Sache bei zeugcneidlicher Vernehmung der Klägerin: vielleicht weist der Richter auf Grund der freien Veweiswürdigung die Klägerin ab, weil er ihr Zeugnis nicht glaubwürdig findet; ihr Meineid aber bleibt bestehen. Nach meinem Vorschlage prüft der Richter die Glaubwürdigkeit der Aussage und macht sich hiernach über die Ver¬ eidigung schlüssig; entscheidet er sich aus haltbaren Gründen dafür, so wird der Strafrichter nach geleisteten Eide einer Meineidsdenunziation kaum stattgeben; entscheidet er sich dagegen, so weist er ohne Eid oder Meineid der Klägerin die Klage ab. Ich meine, die Wahl zwischen diesen drei Arten des Verfahrens kann kaum zweifelhaft sein. Soviel über die Beseitigung des Parteieneides und die Entfernung des Schiedseides aus dein Zivilprozeß. Außerhalb des Prozesses mögen die Parteien Grenzboten III. 1886. 51

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198719/409>, abgerufen am 25.08.2024.