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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal.

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teilungen wegen fahrlässigen Meineides. Und die Folge solcher Verurteilungen?
Der eine Zuhörer denkt: Wenn das ein Meineid ist, daß man eine längst ver¬
gessene, garnicht hierher gehörige Sache verschweigt, dann ist der Meineid kein
so gar schweres Verbrechen. Und der andre: Der fahrlässige Meineid ist eine
nützliche Erfindung; wenn ich einmal wegen Meineides in Untersuchung komme,
so helfe ich mir mit der Behauptung, ich hätte die falsche Thatsache, die ich
bezeugt habe, für unerheblich gehalten; die Geschwornen werden es mir wohl
glauben. So treten uns auch hier die entsittlichenden Folgen verkehrter Gesetze
entgegen.

Die Mittel, die zuletzt besprochenen untergeordneten Quellen des Meineids
zu verstopfe", find einfach: der Gesetzgeber schaffe sein unglückliches Geschöpf,
genannt "fahrlässiger Meineid," aus der Welt, und der Richter strafe als Zeugcn-
meiueid nur, was wirklich Meineid ist, d. h. die eidliche falsche Aussage über
deu Gegenstand der Vernehmung des Zeugen. Nicht ebenso einfach ist die
Antwort auf die Frage: Wie ist der eigentliche Sitz des Übels zu bekämpfen?
nämlich der Widerspruch zwischen den gesetzlichen Bestimmungen über den Parteien-
und den Zeugencid und dem Prinzip der freien Beweiswürdignng.

Zunächst bieten sich zwei Radikalmittel dar: entweder schafft man die freie
Beweiswürdigung oder man schafft den Eid ab. Allein weder das eine noch
das andre Mittel ist brauchbar. Die Abschaffung der freien Beweiswürdigung
wäre ein Rückschritt ins Mittelalter, die Rückkehr zur gemeinrechtlichen Beweis¬
theorie wird kaum mehr Verteidiger finden als die Rückkehr zu Gottesurteil und
Zweikampf. Und kaum viel mehr Anklang wird die Abschaffung des Eides
finden. Hohlköpfe, die sich mit ihrem Atheismus brüsten, stellen zwar die Ab¬
schaffung des religiösen Eides als eine Forderung der modernen Stciatsvernunft
hin und empfehlen die Nachahmung des französischen Eides to.jnrs; allein
ein Eid ohne Beziehung auf Gott ist überhaupt kein Eid; in Rom konnte jemand
schwören xsr sslutöin suA" oder per "ickutcmi libsrorrun suorum, der Name
der Gottheit mußte nicht genannt werden, aber anch von einem solchen Eide
sagt der römische Jurist mit Recht, er werde geleistet iLLpsotu cllvim numinis:
der Schwörende fordert die Gottheit auf, seinen Meineid an seinem oder seiner
Kinder Wohl zu rächen; ein Eid bei nichts aber ist ein Unding. Die theo¬
retische Rechtfertigung des Eideszwanges überlasse ich den Theologen und Rechts-
philosophen; hier genügt es zu sagen: unser Staat wird in absehbarer Zeit auf
den Eid nicht verzichten. Soll aber sowohl die freie Beweiswürdigung als auch
der Eid erhalte" bleiben, so kann die Aufgabe nur 'darin bestehen, die Vor¬
schriften über beide in bessern Einklang zu bringen, als sie es zur Zeit sind,
an den Vorschriften über die Beweiswürdigung aber läßt sich nichts ändern;
hier kann nur das Verlangen gestellt werden: man gebe die unentbehrliche, aber
gefährliche Waffe nur in die Hände von Richtern, die sie zu gebrauchen wissen,
von Richtern, von denen nach ihrer geistigen und sittliche" Tüchtigkeit ein Urteil


teilungen wegen fahrlässigen Meineides. Und die Folge solcher Verurteilungen?
Der eine Zuhörer denkt: Wenn das ein Meineid ist, daß man eine längst ver¬
gessene, garnicht hierher gehörige Sache verschweigt, dann ist der Meineid kein
so gar schweres Verbrechen. Und der andre: Der fahrlässige Meineid ist eine
nützliche Erfindung; wenn ich einmal wegen Meineides in Untersuchung komme,
so helfe ich mir mit der Behauptung, ich hätte die falsche Thatsache, die ich
bezeugt habe, für unerheblich gehalten; die Geschwornen werden es mir wohl
glauben. So treten uns auch hier die entsittlichenden Folgen verkehrter Gesetze
entgegen.

Die Mittel, die zuletzt besprochenen untergeordneten Quellen des Meineids
zu verstopfe», find einfach: der Gesetzgeber schaffe sein unglückliches Geschöpf,
genannt „fahrlässiger Meineid," aus der Welt, und der Richter strafe als Zeugcn-
meiueid nur, was wirklich Meineid ist, d. h. die eidliche falsche Aussage über
deu Gegenstand der Vernehmung des Zeugen. Nicht ebenso einfach ist die
Antwort auf die Frage: Wie ist der eigentliche Sitz des Übels zu bekämpfen?
nämlich der Widerspruch zwischen den gesetzlichen Bestimmungen über den Parteien-
und den Zeugencid und dem Prinzip der freien Beweiswürdignng.

Zunächst bieten sich zwei Radikalmittel dar: entweder schafft man die freie
Beweiswürdigung oder man schafft den Eid ab. Allein weder das eine noch
das andre Mittel ist brauchbar. Die Abschaffung der freien Beweiswürdigung
wäre ein Rückschritt ins Mittelalter, die Rückkehr zur gemeinrechtlichen Beweis¬
theorie wird kaum mehr Verteidiger finden als die Rückkehr zu Gottesurteil und
Zweikampf. Und kaum viel mehr Anklang wird die Abschaffung des Eides
finden. Hohlköpfe, die sich mit ihrem Atheismus brüsten, stellen zwar die Ab¬
schaffung des religiösen Eides als eine Forderung der modernen Stciatsvernunft
hin und empfehlen die Nachahmung des französischen Eides to.jnrs; allein
ein Eid ohne Beziehung auf Gott ist überhaupt kein Eid; in Rom konnte jemand
schwören xsr sslutöin suA» oder per «ickutcmi libsrorrun suorum, der Name
der Gottheit mußte nicht genannt werden, aber anch von einem solchen Eide
sagt der römische Jurist mit Recht, er werde geleistet iLLpsotu cllvim numinis:
der Schwörende fordert die Gottheit auf, seinen Meineid an seinem oder seiner
Kinder Wohl zu rächen; ein Eid bei nichts aber ist ein Unding. Die theo¬
retische Rechtfertigung des Eideszwanges überlasse ich den Theologen und Rechts-
philosophen; hier genügt es zu sagen: unser Staat wird in absehbarer Zeit auf
den Eid nicht verzichten. Soll aber sowohl die freie Beweiswürdigung als auch
der Eid erhalte» bleiben, so kann die Aufgabe nur 'darin bestehen, die Vor¬
schriften über beide in bessern Einklang zu bringen, als sie es zur Zeit sind,
an den Vorschriften über die Beweiswürdigung aber läßt sich nichts ändern;
hier kann nur das Verlangen gestellt werden: man gebe die unentbehrliche, aber
gefährliche Waffe nur in die Hände von Richtern, die sie zu gebrauchen wissen,
von Richtern, von denen nach ihrer geistigen und sittliche» Tüchtigkeit ein Urteil


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[0404] teilungen wegen fahrlässigen Meineides. Und die Folge solcher Verurteilungen? Der eine Zuhörer denkt: Wenn das ein Meineid ist, daß man eine längst ver¬ gessene, garnicht hierher gehörige Sache verschweigt, dann ist der Meineid kein so gar schweres Verbrechen. Und der andre: Der fahrlässige Meineid ist eine nützliche Erfindung; wenn ich einmal wegen Meineides in Untersuchung komme, so helfe ich mir mit der Behauptung, ich hätte die falsche Thatsache, die ich bezeugt habe, für unerheblich gehalten; die Geschwornen werden es mir wohl glauben. So treten uns auch hier die entsittlichenden Folgen verkehrter Gesetze entgegen. Die Mittel, die zuletzt besprochenen untergeordneten Quellen des Meineids zu verstopfe», find einfach: der Gesetzgeber schaffe sein unglückliches Geschöpf, genannt „fahrlässiger Meineid," aus der Welt, und der Richter strafe als Zeugcn- meiueid nur, was wirklich Meineid ist, d. h. die eidliche falsche Aussage über deu Gegenstand der Vernehmung des Zeugen. Nicht ebenso einfach ist die Antwort auf die Frage: Wie ist der eigentliche Sitz des Übels zu bekämpfen? nämlich der Widerspruch zwischen den gesetzlichen Bestimmungen über den Parteien- und den Zeugencid und dem Prinzip der freien Beweiswürdignng. Zunächst bieten sich zwei Radikalmittel dar: entweder schafft man die freie Beweiswürdigung oder man schafft den Eid ab. Allein weder das eine noch das andre Mittel ist brauchbar. Die Abschaffung der freien Beweiswürdigung wäre ein Rückschritt ins Mittelalter, die Rückkehr zur gemeinrechtlichen Beweis¬ theorie wird kaum mehr Verteidiger finden als die Rückkehr zu Gottesurteil und Zweikampf. Und kaum viel mehr Anklang wird die Abschaffung des Eides finden. Hohlköpfe, die sich mit ihrem Atheismus brüsten, stellen zwar die Ab¬ schaffung des religiösen Eides als eine Forderung der modernen Stciatsvernunft hin und empfehlen die Nachahmung des französischen Eides to.jnrs; allein ein Eid ohne Beziehung auf Gott ist überhaupt kein Eid; in Rom konnte jemand schwören xsr sslutöin suA» oder per «ickutcmi libsrorrun suorum, der Name der Gottheit mußte nicht genannt werden, aber anch von einem solchen Eide sagt der römische Jurist mit Recht, er werde geleistet iLLpsotu cllvim numinis: der Schwörende fordert die Gottheit auf, seinen Meineid an seinem oder seiner Kinder Wohl zu rächen; ein Eid bei nichts aber ist ein Unding. Die theo¬ retische Rechtfertigung des Eideszwanges überlasse ich den Theologen und Rechts- philosophen; hier genügt es zu sagen: unser Staat wird in absehbarer Zeit auf den Eid nicht verzichten. Soll aber sowohl die freie Beweiswürdigung als auch der Eid erhalte» bleiben, so kann die Aufgabe nur 'darin bestehen, die Vor¬ schriften über beide in bessern Einklang zu bringen, als sie es zur Zeit sind, an den Vorschriften über die Beweiswürdigung aber läßt sich nichts ändern; hier kann nur das Verlangen gestellt werden: man gebe die unentbehrliche, aber gefährliche Waffe nur in die Hände von Richtern, die sie zu gebrauchen wissen, von Richtern, von denen nach ihrer geistigen und sittliche» Tüchtigkeit ein Urteil

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198719/404>, abgerufen am 23.07.2024.