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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal.

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Die Neuhebriden-Frage.

Diese Erklärungen sind nicht geeignet, die Engländer vollständig zu be¬
ruhigen, da aus ihnen hervorgeht, daß in Paris niemand imstande oder willens
ist, über die Dauer der Besetzung der Inseln auch mir annähernd Bestimmtes
zu sagen. Anderseits ist, obwohl die überseeische Politik der Republik sich bis¬
her nicht gerade durch Weisheit und Genügsamkeit auszeichnete, nicht an¬
zunehmen, Frankreich werde England in dieser Frage herausfordern. Das Recht
des letztern ist klar, es liegt in dem Vertrage von 1878, nach welchem beide
Parteien verpflichtet sind, von einer Annexion der Neuhebriden abzusehen, und
welcher für die Australier, als sie Besitznahme der Inseln wünschten, eine un-
übersteigliche Schranke war. Was könnte nun Frankreich veranlassen, sich der¬
selben zu bemächtigen? Der einzige Beweggrund dazu würde die Absicht sein,
in diesen Meeren noch eine Verbrecherkolonie zu gründen. Die Franzosen sind
kein Bienenvolk, das ausschwärmt und neue Stöcke bildet, und ihre besten Ko¬
lonien sind, das nahe Algerien teilweise ausgenommen, in der Regel von Sol¬
daten und Beamten sowie einigen von diesen beiden Klassen abhängigen Leuten
bewohnt. Neukaledonien ist ein Zuchthaus und nichts weiter. Es ist für die
Australier schon unangenehm genug, ein solches Etablissement in ihrer Nach¬
barschaft zu haben, ein zweites würde für sie unerträglich sein. Frankreich
würde dann große Massen von Verbrechern hierher schaffen, die ihm zu Hause
unbequem sind und hier Verlegenheit bereiten. Infolge der Milde seiner Ge-
schwornengerichte entgehen nicht wenige Räuber und Mörder der Todesstrafe
und werden nur zu lebenslänglicher Einsperrung verurteilt. Die Bewachung
derselben im Inlande ist schwierig und kostspielig. Auf einer fernen, kleinen,
dünnbevölkerten Insel dagegen kann man sie leicht überwachen und ihnen sogar
ein gewisses Maß von Freiheit gewähren. Das letztere ist für die Australier
eine Gefahr. Entlaufene Gefangne und entlassene Züchtlinge wenden sich meist
nach Brisbane und Sidney und mischen mit sich der dortigen Bevölkerung ein
sehr unwillkommenes Element bei. Das muß ertragen werden, da Frankreich
Neukaledonien schon einige Jahre besitzt, aber mehr von solcher Gefahr auf den
Neuhebriden mare kaum zu dulden.

Der Wunsch Frankreichs, diese Inseln zu besitzen, spielt schon geraume
Zeit, und es hat die Einwilligung Englands in die Annexion in einer Weise
nachgesucht, welche gewissermaßen eine Drohung einschließt: das auswärtige
Amt in Paris deutet an, wenn man in London die französische Besitznahme
gestatte, so werde Frankreich aufhören, Verbrecher nach Neukaledonien zu senden,
sonst aber damit fortfahren. Das erscheint wie ein Eingeständnis des Umstandes,
daß die genannte französische Verbrecherkolonie eine Ungehörigkeit und ein Ärger¬
nis ist, welches man abstellen will, wenn England den Franzosen den Willen
thut. Der letztere wird ferner damit erklärt, daß die Neuhebriden, wenn sie in
ihren Besitz gelangten, ihnen die Arbeitskräfte liefern würden, die sie jetzt in
Ketten einführen müssen. Dieser Grund wäre aber nur dann stichhaltig, wenn


Die Neuhebriden-Frage.

Diese Erklärungen sind nicht geeignet, die Engländer vollständig zu be¬
ruhigen, da aus ihnen hervorgeht, daß in Paris niemand imstande oder willens
ist, über die Dauer der Besetzung der Inseln auch mir annähernd Bestimmtes
zu sagen. Anderseits ist, obwohl die überseeische Politik der Republik sich bis¬
her nicht gerade durch Weisheit und Genügsamkeit auszeichnete, nicht an¬
zunehmen, Frankreich werde England in dieser Frage herausfordern. Das Recht
des letztern ist klar, es liegt in dem Vertrage von 1878, nach welchem beide
Parteien verpflichtet sind, von einer Annexion der Neuhebriden abzusehen, und
welcher für die Australier, als sie Besitznahme der Inseln wünschten, eine un-
übersteigliche Schranke war. Was könnte nun Frankreich veranlassen, sich der¬
selben zu bemächtigen? Der einzige Beweggrund dazu würde die Absicht sein,
in diesen Meeren noch eine Verbrecherkolonie zu gründen. Die Franzosen sind
kein Bienenvolk, das ausschwärmt und neue Stöcke bildet, und ihre besten Ko¬
lonien sind, das nahe Algerien teilweise ausgenommen, in der Regel von Sol¬
daten und Beamten sowie einigen von diesen beiden Klassen abhängigen Leuten
bewohnt. Neukaledonien ist ein Zuchthaus und nichts weiter. Es ist für die
Australier schon unangenehm genug, ein solches Etablissement in ihrer Nach¬
barschaft zu haben, ein zweites würde für sie unerträglich sein. Frankreich
würde dann große Massen von Verbrechern hierher schaffen, die ihm zu Hause
unbequem sind und hier Verlegenheit bereiten. Infolge der Milde seiner Ge-
schwornengerichte entgehen nicht wenige Räuber und Mörder der Todesstrafe
und werden nur zu lebenslänglicher Einsperrung verurteilt. Die Bewachung
derselben im Inlande ist schwierig und kostspielig. Auf einer fernen, kleinen,
dünnbevölkerten Insel dagegen kann man sie leicht überwachen und ihnen sogar
ein gewisses Maß von Freiheit gewähren. Das letztere ist für die Australier
eine Gefahr. Entlaufene Gefangne und entlassene Züchtlinge wenden sich meist
nach Brisbane und Sidney und mischen mit sich der dortigen Bevölkerung ein
sehr unwillkommenes Element bei. Das muß ertragen werden, da Frankreich
Neukaledonien schon einige Jahre besitzt, aber mehr von solcher Gefahr auf den
Neuhebriden mare kaum zu dulden.

Der Wunsch Frankreichs, diese Inseln zu besitzen, spielt schon geraume
Zeit, und es hat die Einwilligung Englands in die Annexion in einer Weise
nachgesucht, welche gewissermaßen eine Drohung einschließt: das auswärtige
Amt in Paris deutet an, wenn man in London die französische Besitznahme
gestatte, so werde Frankreich aufhören, Verbrecher nach Neukaledonien zu senden,
sonst aber damit fortfahren. Das erscheint wie ein Eingeständnis des Umstandes,
daß die genannte französische Verbrecherkolonie eine Ungehörigkeit und ein Ärger¬
nis ist, welches man abstellen will, wenn England den Franzosen den Willen
thut. Der letztere wird ferner damit erklärt, daß die Neuhebriden, wenn sie in
ihren Besitz gelangten, ihnen die Arbeitskräfte liefern würden, die sie jetzt in
Ketten einführen müssen. Dieser Grund wäre aber nur dann stichhaltig, wenn


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[0040] Die Neuhebriden-Frage. Diese Erklärungen sind nicht geeignet, die Engländer vollständig zu be¬ ruhigen, da aus ihnen hervorgeht, daß in Paris niemand imstande oder willens ist, über die Dauer der Besetzung der Inseln auch mir annähernd Bestimmtes zu sagen. Anderseits ist, obwohl die überseeische Politik der Republik sich bis¬ her nicht gerade durch Weisheit und Genügsamkeit auszeichnete, nicht an¬ zunehmen, Frankreich werde England in dieser Frage herausfordern. Das Recht des letztern ist klar, es liegt in dem Vertrage von 1878, nach welchem beide Parteien verpflichtet sind, von einer Annexion der Neuhebriden abzusehen, und welcher für die Australier, als sie Besitznahme der Inseln wünschten, eine un- übersteigliche Schranke war. Was könnte nun Frankreich veranlassen, sich der¬ selben zu bemächtigen? Der einzige Beweggrund dazu würde die Absicht sein, in diesen Meeren noch eine Verbrecherkolonie zu gründen. Die Franzosen sind kein Bienenvolk, das ausschwärmt und neue Stöcke bildet, und ihre besten Ko¬ lonien sind, das nahe Algerien teilweise ausgenommen, in der Regel von Sol¬ daten und Beamten sowie einigen von diesen beiden Klassen abhängigen Leuten bewohnt. Neukaledonien ist ein Zuchthaus und nichts weiter. Es ist für die Australier schon unangenehm genug, ein solches Etablissement in ihrer Nach¬ barschaft zu haben, ein zweites würde für sie unerträglich sein. Frankreich würde dann große Massen von Verbrechern hierher schaffen, die ihm zu Hause unbequem sind und hier Verlegenheit bereiten. Infolge der Milde seiner Ge- schwornengerichte entgehen nicht wenige Räuber und Mörder der Todesstrafe und werden nur zu lebenslänglicher Einsperrung verurteilt. Die Bewachung derselben im Inlande ist schwierig und kostspielig. Auf einer fernen, kleinen, dünnbevölkerten Insel dagegen kann man sie leicht überwachen und ihnen sogar ein gewisses Maß von Freiheit gewähren. Das letztere ist für die Australier eine Gefahr. Entlaufene Gefangne und entlassene Züchtlinge wenden sich meist nach Brisbane und Sidney und mischen mit sich der dortigen Bevölkerung ein sehr unwillkommenes Element bei. Das muß ertragen werden, da Frankreich Neukaledonien schon einige Jahre besitzt, aber mehr von solcher Gefahr auf den Neuhebriden mare kaum zu dulden. Der Wunsch Frankreichs, diese Inseln zu besitzen, spielt schon geraume Zeit, und es hat die Einwilligung Englands in die Annexion in einer Weise nachgesucht, welche gewissermaßen eine Drohung einschließt: das auswärtige Amt in Paris deutet an, wenn man in London die französische Besitznahme gestatte, so werde Frankreich aufhören, Verbrecher nach Neukaledonien zu senden, sonst aber damit fortfahren. Das erscheint wie ein Eingeständnis des Umstandes, daß die genannte französische Verbrecherkolonie eine Ungehörigkeit und ein Ärger¬ nis ist, welches man abstellen will, wenn England den Franzosen den Willen thut. Der letztere wird ferner damit erklärt, daß die Neuhebriden, wenn sie in ihren Besitz gelangten, ihnen die Arbeitskräfte liefern würden, die sie jetzt in Ketten einführen müssen. Dieser Grund wäre aber nur dann stichhaltig, wenn

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198719/40>, abgerufen am 22.07.2024.