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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal.

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Ein zukünftiger Kriegsschauplatz.

sie als Schloß bezeichnen darf. Diese Thatsachen beeinflussen die Kriegführung
in doppelter Weise: hinsichtlich der Unterbringung der Truppen und in Bezug
auf die Verwendung der Örtlichkeiten bei Gefechten. Wirkt schon der Umstand,
daß die Orte fast überall weit von einander liegen, dahin, daß sie sich nicht
gut zu Kantonnements eignen, so gilt dies von der elenden Banart der Dörfer,
der Enge der Wohnungen und der beispiellosen Unsauberkeit derselben noch mehr.
Selbst die Stallungen lassen sich meist kaum benutzen, wenn Truppcnpferdc
uuter Dach zu bringen sind; denn jene Räume siud gewöhnlich sehr niedrig
und ihre Thüren nur für das kleine magere Vieh des polnischen Bauern be¬
rechnet. Die Folge ist, daß die Truppen hier weit mehr biwakiren müssen als
in westlicher gelegnen Gegenden. Anderseits schließt der Umstand, daß die
Dörfer ganz, die kleinen Städte und Flecken beinahe durchweg aus Holzwerk
bestehen, fast jedes Gemäuer fehlt und die Höfe und Gärten nur mit Zäunen
von Latten oder geflochtenen Unter eingefaßt siud, die Benutzung der Ortschaften
zu taktischen Zwecken in den meisten Fällen gänzlich aus. Nirgends würde es
sich empfehlen, ein polnisches Dorf zu besetzen und zu verteidigen, es wäre denn,
daß ausnahmsweise die beherrschende Lage, ein massives Gebäude oder eine
steinerne Kirchhofsmauer dies ratsam erscheinen ließen. Irgendwelcher Schutz
gegen Feuerwirkung ist von Wänden aus Pfosten und Brettern nicht zu er¬
warten, und die erste feindliche Granate muß das Strohdach in Brand setzen.
An die Stelle der in deu letzten Kriegen vielfach vorgekommene" Ortsgefechte
wird daher auf polnisch-russischem Boden der Kampf auf freiem Felde treten
müssen. Der Schützengraben vor der Einfassung des Dorfes wird der Besetzung
des letzteren vorgezogen werden.

Die durchschnittliche Dichtigkeit der Bevölkerung zeigt in den zehn Weichsel-
gonvcrnemcnts 56 Einwohner auf dem Quadratkilometer, etwa wie in Hannover
und Westpreußen. Jene haben ferner uur eine Stadt (Warschau) mit mehr als
100 000 und zwei (Lodz und Lubliu) mit mehr als 30 000 Seelen. Im
übrigen bewegen sich die Eiuwvhuerzahleu der Gouvcrucmentsstädte zwischen
12 000 und 24 000, diejenigen der 85 Kreisstädte zwischen 4000 und 10 000
Einwohnern. Die Leistungsfähigkeit der gedachten Gouvernements in Bezug
uns landwirtschaftliche Erzeugnisse sieht derjenigen der Staaten und Provinzen
des deutschen Reiches im Durchschnitt nur wenig nach, übertrifft diese aber in
den Gouvernements Kalisch, Plvek und Lubliu. Alle führen Getreide und Vieh
eins, und es ist deshalb ein Irrtum, wenn behauptet wird, Polen eigne sich
nicht zur Kriegführung mit größern Truppenmassen, weil die Verpflegung der¬
selben dort nicht sichergestellt werden könne. Das Gegenteil ist der Fall, und
zwar nicht bloß in den genannten drei Gouvernements, sondern auch in mehreren
andern, z. B. im Gouvernement Kowno, das zwischen Ostpreußen und Kurland
fast bis an die See reicht, und das besonders in seinen westlichen Strichen
nicht nur von Natur äußerst fruchtbar, sondern auch, da die großen Güter sich


Ein zukünftiger Kriegsschauplatz.

sie als Schloß bezeichnen darf. Diese Thatsachen beeinflussen die Kriegführung
in doppelter Weise: hinsichtlich der Unterbringung der Truppen und in Bezug
auf die Verwendung der Örtlichkeiten bei Gefechten. Wirkt schon der Umstand,
daß die Orte fast überall weit von einander liegen, dahin, daß sie sich nicht
gut zu Kantonnements eignen, so gilt dies von der elenden Banart der Dörfer,
der Enge der Wohnungen und der beispiellosen Unsauberkeit derselben noch mehr.
Selbst die Stallungen lassen sich meist kaum benutzen, wenn Truppcnpferdc
uuter Dach zu bringen sind; denn jene Räume siud gewöhnlich sehr niedrig
und ihre Thüren nur für das kleine magere Vieh des polnischen Bauern be¬
rechnet. Die Folge ist, daß die Truppen hier weit mehr biwakiren müssen als
in westlicher gelegnen Gegenden. Anderseits schließt der Umstand, daß die
Dörfer ganz, die kleinen Städte und Flecken beinahe durchweg aus Holzwerk
bestehen, fast jedes Gemäuer fehlt und die Höfe und Gärten nur mit Zäunen
von Latten oder geflochtenen Unter eingefaßt siud, die Benutzung der Ortschaften
zu taktischen Zwecken in den meisten Fällen gänzlich aus. Nirgends würde es
sich empfehlen, ein polnisches Dorf zu besetzen und zu verteidigen, es wäre denn,
daß ausnahmsweise die beherrschende Lage, ein massives Gebäude oder eine
steinerne Kirchhofsmauer dies ratsam erscheinen ließen. Irgendwelcher Schutz
gegen Feuerwirkung ist von Wänden aus Pfosten und Brettern nicht zu er¬
warten, und die erste feindliche Granate muß das Strohdach in Brand setzen.
An die Stelle der in deu letzten Kriegen vielfach vorgekommene» Ortsgefechte
wird daher auf polnisch-russischem Boden der Kampf auf freiem Felde treten
müssen. Der Schützengraben vor der Einfassung des Dorfes wird der Besetzung
des letzteren vorgezogen werden.

Die durchschnittliche Dichtigkeit der Bevölkerung zeigt in den zehn Weichsel-
gonvcrnemcnts 56 Einwohner auf dem Quadratkilometer, etwa wie in Hannover
und Westpreußen. Jene haben ferner uur eine Stadt (Warschau) mit mehr als
100 000 und zwei (Lodz und Lubliu) mit mehr als 30 000 Seelen. Im
übrigen bewegen sich die Eiuwvhuerzahleu der Gouvcrucmentsstädte zwischen
12 000 und 24 000, diejenigen der 85 Kreisstädte zwischen 4000 und 10 000
Einwohnern. Die Leistungsfähigkeit der gedachten Gouvernements in Bezug
uns landwirtschaftliche Erzeugnisse sieht derjenigen der Staaten und Provinzen
des deutschen Reiches im Durchschnitt nur wenig nach, übertrifft diese aber in
den Gouvernements Kalisch, Plvek und Lubliu. Alle führen Getreide und Vieh
eins, und es ist deshalb ein Irrtum, wenn behauptet wird, Polen eigne sich
nicht zur Kriegführung mit größern Truppenmassen, weil die Verpflegung der¬
selben dort nicht sichergestellt werden könne. Das Gegenteil ist der Fall, und
zwar nicht bloß in den genannten drei Gouvernements, sondern auch in mehreren
andern, z. B. im Gouvernement Kowno, das zwischen Ostpreußen und Kurland
fast bis an die See reicht, und das besonders in seinen westlichen Strichen
nicht nur von Natur äußerst fruchtbar, sondern auch, da die großen Güter sich


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[0397] Ein zukünftiger Kriegsschauplatz. sie als Schloß bezeichnen darf. Diese Thatsachen beeinflussen die Kriegführung in doppelter Weise: hinsichtlich der Unterbringung der Truppen und in Bezug auf die Verwendung der Örtlichkeiten bei Gefechten. Wirkt schon der Umstand, daß die Orte fast überall weit von einander liegen, dahin, daß sie sich nicht gut zu Kantonnements eignen, so gilt dies von der elenden Banart der Dörfer, der Enge der Wohnungen und der beispiellosen Unsauberkeit derselben noch mehr. Selbst die Stallungen lassen sich meist kaum benutzen, wenn Truppcnpferdc uuter Dach zu bringen sind; denn jene Räume siud gewöhnlich sehr niedrig und ihre Thüren nur für das kleine magere Vieh des polnischen Bauern be¬ rechnet. Die Folge ist, daß die Truppen hier weit mehr biwakiren müssen als in westlicher gelegnen Gegenden. Anderseits schließt der Umstand, daß die Dörfer ganz, die kleinen Städte und Flecken beinahe durchweg aus Holzwerk bestehen, fast jedes Gemäuer fehlt und die Höfe und Gärten nur mit Zäunen von Latten oder geflochtenen Unter eingefaßt siud, die Benutzung der Ortschaften zu taktischen Zwecken in den meisten Fällen gänzlich aus. Nirgends würde es sich empfehlen, ein polnisches Dorf zu besetzen und zu verteidigen, es wäre denn, daß ausnahmsweise die beherrschende Lage, ein massives Gebäude oder eine steinerne Kirchhofsmauer dies ratsam erscheinen ließen. Irgendwelcher Schutz gegen Feuerwirkung ist von Wänden aus Pfosten und Brettern nicht zu er¬ warten, und die erste feindliche Granate muß das Strohdach in Brand setzen. An die Stelle der in deu letzten Kriegen vielfach vorgekommene» Ortsgefechte wird daher auf polnisch-russischem Boden der Kampf auf freiem Felde treten müssen. Der Schützengraben vor der Einfassung des Dorfes wird der Besetzung des letzteren vorgezogen werden. Die durchschnittliche Dichtigkeit der Bevölkerung zeigt in den zehn Weichsel- gonvcrnemcnts 56 Einwohner auf dem Quadratkilometer, etwa wie in Hannover und Westpreußen. Jene haben ferner uur eine Stadt (Warschau) mit mehr als 100 000 und zwei (Lodz und Lubliu) mit mehr als 30 000 Seelen. Im übrigen bewegen sich die Eiuwvhuerzahleu der Gouvcrucmentsstädte zwischen 12 000 und 24 000, diejenigen der 85 Kreisstädte zwischen 4000 und 10 000 Einwohnern. Die Leistungsfähigkeit der gedachten Gouvernements in Bezug uns landwirtschaftliche Erzeugnisse sieht derjenigen der Staaten und Provinzen des deutschen Reiches im Durchschnitt nur wenig nach, übertrifft diese aber in den Gouvernements Kalisch, Plvek und Lubliu. Alle führen Getreide und Vieh eins, und es ist deshalb ein Irrtum, wenn behauptet wird, Polen eigne sich nicht zur Kriegführung mit größern Truppenmassen, weil die Verpflegung der¬ selben dort nicht sichergestellt werden könne. Das Gegenteil ist der Fall, und zwar nicht bloß in den genannten drei Gouvernements, sondern auch in mehreren andern, z. B. im Gouvernement Kowno, das zwischen Ostpreußen und Kurland fast bis an die See reicht, und das besonders in seinen westlichen Strichen nicht nur von Natur äußerst fruchtbar, sondern auch, da die großen Güter sich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198719/397>, abgerufen am 22.07.2024.