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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal.

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Die Nleineidpest.

er ihn frei, so sagt sein Urteil, wenn auch nicht sein Mund, daß er die beiden
Zeugen für meineidig halte; er kann an die Wahrheit der Aussagen nicht
glauben, er kann aber ebensowenig die Zeugen des Meineides überführen; nach
dem Grundsatze der freien Bewciswürdigung wird und muß er den Angeklagten
freisprechen; aber was wird, wenn solche Fälle sich einigemale wiederholen, seine
Auffassung von der Heiligkeit des Eides sein? Es kann garnicht fehlen: er
gewohnt sich daran, den Eid als eine leere Formalität anzusehen; ob der Zeuge
sagt: "Ich schwöre es, so wahr mir Gott helfe!" oder ob er sagt: "Ich schwöre
es, so wahr 2 x 2 4 ist," macht für ihn schließlich keinen Unterschied.
Wie sich die Eidesabnahmen vor einem so denkenden Richter gestalten, möge
sich der Leser selbst ausmalen.

Und nun vollends die Wirkung solcher Vorgänge auf Parteien und Zeugen!
In einem Beleidig ungsprozesse hat der Kläger zwei Zeugen benannt, die eidlich
aussagen, daß der Beschuldigte die und die ehreukränkenden Worte gegen den
Kläger gebraucht, letzterer die Beleidigung nicht erwiedert habe; der Beschuldigte
hat seine Frau und seinen Sohn als Zeugen gestellt, daß der Kläger auch ihn
beleidigt habe, oder auch: daß er den Kläger nicht beleidigt habe, und diese
Zeugen habe" -- unvereidigt -- zu seinen Gunsten ausgesagt; ein skrupulöser
Richter (und es giebt oft ganz verzweifelt skrupulöse Richter) kann sich bei dieser
Sachlage von der Schuld oder der alleinigen Schuld des Angeklagten nicht
überzeugen und spricht ihn frei. Was werden hier die Empfindungen und Ge¬
danken des Klägers und seiner Zeugen sein? "Wir haben die Wahrheit gesagt
und auf unsre Aussagen geschworen; das Gericht aber hat unsre Angaben ver¬
worfen, es hält uns für meineidig; wozu da ein andresmal die Wahrheit sagen?
gilt ja Wahrheit und Unwahrheit vor Gericht gleich viel." Der Beschuldigte
aber triumphirt: "Nichts hat es dem Kläger vor dem gerechten Richter ge¬
holfen, daß er mit zwei meineidiger Zeugen aufgetreten ist!" Und nun denke
man sich einen solchen Vorfall sich abspielend zwischen zwei Arbeitern einer
Fabrik, zwischen zwei Bauern eines Dorfes: hier nimmt das ganze Dorf, dort
das ganze Fabritpersonal für und wider den Kläger oder den Angeklagten
Partei, der Gerichtssaal ist voll von Zuhörern, welche das Urteil und die Ent-
scheidungsgründe vernehmen: wie die Parteien und die Zeugen, so urteilen auch
die beiderseitigen Anhänger, auch noch außerhalb des Gerichtssaalcs wird der
Fall lebhaft erörtert und wird gefragt: "Haben die Belastungszeugen wirklich
einen Meineid geschworen? Die Entscheidungsgründe des Urteils geben es zu
verstehen; warum läßt man sie denn ungestraft herumgehen?" Und der Erfolg?
In der ganzen Fabrik, im ganzen Dorfe ist die Achtung vor der Heiligkeit des
Eides wo nicht vernichtet, so doch aufs schwerste geschädigt; es soll mir einer
von der Partei des Beschuldigten zu einem der Zeugen sagen: seinen Meineid
habe er auch umsonst geschworen, der Zeuge erhebt Strnfklagc, und alsbald er¬
stehen hüben und drüben Zeugen, welche in dem neuen Prozesse ans die Wahr-


Die Nleineidpest.

er ihn frei, so sagt sein Urteil, wenn auch nicht sein Mund, daß er die beiden
Zeugen für meineidig halte; er kann an die Wahrheit der Aussagen nicht
glauben, er kann aber ebensowenig die Zeugen des Meineides überführen; nach
dem Grundsatze der freien Bewciswürdigung wird und muß er den Angeklagten
freisprechen; aber was wird, wenn solche Fälle sich einigemale wiederholen, seine
Auffassung von der Heiligkeit des Eides sein? Es kann garnicht fehlen: er
gewohnt sich daran, den Eid als eine leere Formalität anzusehen; ob der Zeuge
sagt: „Ich schwöre es, so wahr mir Gott helfe!" oder ob er sagt: „Ich schwöre
es, so wahr 2 x 2 4 ist," macht für ihn schließlich keinen Unterschied.
Wie sich die Eidesabnahmen vor einem so denkenden Richter gestalten, möge
sich der Leser selbst ausmalen.

Und nun vollends die Wirkung solcher Vorgänge auf Parteien und Zeugen!
In einem Beleidig ungsprozesse hat der Kläger zwei Zeugen benannt, die eidlich
aussagen, daß der Beschuldigte die und die ehreukränkenden Worte gegen den
Kläger gebraucht, letzterer die Beleidigung nicht erwiedert habe; der Beschuldigte
hat seine Frau und seinen Sohn als Zeugen gestellt, daß der Kläger auch ihn
beleidigt habe, oder auch: daß er den Kläger nicht beleidigt habe, und diese
Zeugen habe» — unvereidigt — zu seinen Gunsten ausgesagt; ein skrupulöser
Richter (und es giebt oft ganz verzweifelt skrupulöse Richter) kann sich bei dieser
Sachlage von der Schuld oder der alleinigen Schuld des Angeklagten nicht
überzeugen und spricht ihn frei. Was werden hier die Empfindungen und Ge¬
danken des Klägers und seiner Zeugen sein? „Wir haben die Wahrheit gesagt
und auf unsre Aussagen geschworen; das Gericht aber hat unsre Angaben ver¬
worfen, es hält uns für meineidig; wozu da ein andresmal die Wahrheit sagen?
gilt ja Wahrheit und Unwahrheit vor Gericht gleich viel." Der Beschuldigte
aber triumphirt: „Nichts hat es dem Kläger vor dem gerechten Richter ge¬
holfen, daß er mit zwei meineidiger Zeugen aufgetreten ist!" Und nun denke
man sich einen solchen Vorfall sich abspielend zwischen zwei Arbeitern einer
Fabrik, zwischen zwei Bauern eines Dorfes: hier nimmt das ganze Dorf, dort
das ganze Fabritpersonal für und wider den Kläger oder den Angeklagten
Partei, der Gerichtssaal ist voll von Zuhörern, welche das Urteil und die Ent-
scheidungsgründe vernehmen: wie die Parteien und die Zeugen, so urteilen auch
die beiderseitigen Anhänger, auch noch außerhalb des Gerichtssaalcs wird der
Fall lebhaft erörtert und wird gefragt: „Haben die Belastungszeugen wirklich
einen Meineid geschworen? Die Entscheidungsgründe des Urteils geben es zu
verstehen; warum läßt man sie denn ungestraft herumgehen?" Und der Erfolg?
In der ganzen Fabrik, im ganzen Dorfe ist die Achtung vor der Heiligkeit des
Eides wo nicht vernichtet, so doch aufs schwerste geschädigt; es soll mir einer
von der Partei des Beschuldigten zu einem der Zeugen sagen: seinen Meineid
habe er auch umsonst geschworen, der Zeuge erhebt Strnfklagc, und alsbald er¬
stehen hüben und drüben Zeugen, welche in dem neuen Prozesse ans die Wahr-


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[0366] Die Nleineidpest. er ihn frei, so sagt sein Urteil, wenn auch nicht sein Mund, daß er die beiden Zeugen für meineidig halte; er kann an die Wahrheit der Aussagen nicht glauben, er kann aber ebensowenig die Zeugen des Meineides überführen; nach dem Grundsatze der freien Bewciswürdigung wird und muß er den Angeklagten freisprechen; aber was wird, wenn solche Fälle sich einigemale wiederholen, seine Auffassung von der Heiligkeit des Eides sein? Es kann garnicht fehlen: er gewohnt sich daran, den Eid als eine leere Formalität anzusehen; ob der Zeuge sagt: „Ich schwöre es, so wahr mir Gott helfe!" oder ob er sagt: „Ich schwöre es, so wahr 2 x 2 4 ist," macht für ihn schließlich keinen Unterschied. Wie sich die Eidesabnahmen vor einem so denkenden Richter gestalten, möge sich der Leser selbst ausmalen. Und nun vollends die Wirkung solcher Vorgänge auf Parteien und Zeugen! In einem Beleidig ungsprozesse hat der Kläger zwei Zeugen benannt, die eidlich aussagen, daß der Beschuldigte die und die ehreukränkenden Worte gegen den Kläger gebraucht, letzterer die Beleidigung nicht erwiedert habe; der Beschuldigte hat seine Frau und seinen Sohn als Zeugen gestellt, daß der Kläger auch ihn beleidigt habe, oder auch: daß er den Kläger nicht beleidigt habe, und diese Zeugen habe» — unvereidigt — zu seinen Gunsten ausgesagt; ein skrupulöser Richter (und es giebt oft ganz verzweifelt skrupulöse Richter) kann sich bei dieser Sachlage von der Schuld oder der alleinigen Schuld des Angeklagten nicht überzeugen und spricht ihn frei. Was werden hier die Empfindungen und Ge¬ danken des Klägers und seiner Zeugen sein? „Wir haben die Wahrheit gesagt und auf unsre Aussagen geschworen; das Gericht aber hat unsre Angaben ver¬ worfen, es hält uns für meineidig; wozu da ein andresmal die Wahrheit sagen? gilt ja Wahrheit und Unwahrheit vor Gericht gleich viel." Der Beschuldigte aber triumphirt: „Nichts hat es dem Kläger vor dem gerechten Richter ge¬ holfen, daß er mit zwei meineidiger Zeugen aufgetreten ist!" Und nun denke man sich einen solchen Vorfall sich abspielend zwischen zwei Arbeitern einer Fabrik, zwischen zwei Bauern eines Dorfes: hier nimmt das ganze Dorf, dort das ganze Fabritpersonal für und wider den Kläger oder den Angeklagten Partei, der Gerichtssaal ist voll von Zuhörern, welche das Urteil und die Ent- scheidungsgründe vernehmen: wie die Parteien und die Zeugen, so urteilen auch die beiderseitigen Anhänger, auch noch außerhalb des Gerichtssaalcs wird der Fall lebhaft erörtert und wird gefragt: „Haben die Belastungszeugen wirklich einen Meineid geschworen? Die Entscheidungsgründe des Urteils geben es zu verstehen; warum läßt man sie denn ungestraft herumgehen?" Und der Erfolg? In der ganzen Fabrik, im ganzen Dorfe ist die Achtung vor der Heiligkeit des Eides wo nicht vernichtet, so doch aufs schwerste geschädigt; es soll mir einer von der Partei des Beschuldigten zu einem der Zeugen sagen: seinen Meineid habe er auch umsonst geschworen, der Zeuge erhebt Strnfklagc, und alsbald er¬ stehen hüben und drüben Zeugen, welche in dem neuen Prozesse ans die Wahr-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198719/366>, abgerufen am 22.07.2024.