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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal.

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Die Memcidxest.

auch traurige Folge des die Lehre vom Parteieneid beherrschenden Forma¬
lismus.

Mit den Bestimmungen über den Parteieneid hat die Reichszivilvrozeß-
ordnung in der Hauptsache das seither bestandene Recht wiederholt; eine wesent¬
liche Zunahme der Meineide wird daher durch sie nicht veranlaßt worden sein;
allein es ist schon schlimm genug, wenn sie überhaupt zum Meineid Anlaß geben.
Anders beim Zcugeucid; auch hier haben die neuen Prozeßgesetze in der Haupt¬
sache die frühern Vorschriften über die Vereidigung der Zeugen -- wann sie
zu erfolgen und wann sie zu unterbleiben habe -- wiederholt; daran aber,
daß mit diesen Vorschriften das Prinzip der freien Beweiswürdignng unvereinbar
sei, scheint der Gesetzgeber garnicht gedacht zu haben. Ich weise den Wider¬
spruch zunächst an einem vom Reichsgerichte entschiedenen Fall nach.

Eine Partei war verurteilt worden auf Grund der unvereidigtcn Aussage
eines Zeugen, dessen Vereidigung nach dem Gesetze in das Ermessen des Ge¬
richtes gestellt war. Die von der Partei auf Unterlassung der Vereidigung ge¬
stützte Revision wurde vom Reichsgericht verworfen, weil das Gesetz dem Richter
die freie Würdigung der Aussagen der in F 358 der Zivilprozeßordnung be¬
zeichneten Zeugen anheimgebe, mögen sie unvercidigt geblieben sein, weil das
Gesetz die Vereidigung nicht zuläßt, oder aber, weil das Gericht ihre nachträg¬
liche Vereidigung nicht für angemessen oder erforderlich erachtete.

Diese Entscheidung war zweifellos vollkommen gesetzlich richtig; sie, be¬
ziehentlich das angefochtene Urteil, war vermutlich auch sachlich richtig, denn
der uuvereidigte Zeuge war der leibliche Sohn der Beklagten und von ihr selbst
vorgeschlagen, dem eben deshalb der Richter vollen Glauben beigemessen hatte.
Wie aber, wenn der Zeuge der vom Kläger vorgeschlagene Sohn des Klägers
gewesen wäre? Das Reichsgericht hätte auch in diesem Falle, bei allem Zweifel
an der materielle" Gerechtigkeit des Urteils, die Revision verwerfen müssen;
denn wenn der Berufuugsrichter zur Begründung der unterbliebenen Vereidigung
angeführt hätte: "Der Zeuge habe den Eindruck eines durchaus glaubwürdigen
Mannes gemacht und seine Aussage werde durch den oder jenen Umstand unter¬
stützt," so war diese Begründung, die gegen keinen Rechtssatz verstieß, mit der
Revision nicht anzufechten, obwohl in diesem Falle der innere Widerspruch der Ent¬
scheidung schlechterdings nicht wegzuleugnen war: wäre die Entscheidung erfolgt auf
Grund der Aussage eines völlig unparteiischen Zeugen, so hätte sie, wenn der Zeuge
aus Versehen uicht vereidigt worden war, unbedingt vernichtet werden müssen; weil
aber der Zeuge als nächster Verwandter der Partei, für die er aussagt, unver¬
cidigt vernommen worden ist, bleibt die Entscheidung zu Recht bestehen. Was das
Reichsgericht zur Rechtfertigung dieses Widerspruches an allgemeinen Gründen
vorbringt, ist augenscheinlich nicht stichhaltig. Es bemerkt: Die Frage, ob ein
solcher (verdächtiger) Zeuge zu vereidige" sei, berühre zunächst nnr die Beob¬
achtung der für die Beweisaufnahme gegebenen Vorschriften, nur indirekt be-


Die Memcidxest.

auch traurige Folge des die Lehre vom Parteieneid beherrschenden Forma¬
lismus.

Mit den Bestimmungen über den Parteieneid hat die Reichszivilvrozeß-
ordnung in der Hauptsache das seither bestandene Recht wiederholt; eine wesent¬
liche Zunahme der Meineide wird daher durch sie nicht veranlaßt worden sein;
allein es ist schon schlimm genug, wenn sie überhaupt zum Meineid Anlaß geben.
Anders beim Zcugeucid; auch hier haben die neuen Prozeßgesetze in der Haupt¬
sache die frühern Vorschriften über die Vereidigung der Zeugen — wann sie
zu erfolgen und wann sie zu unterbleiben habe — wiederholt; daran aber,
daß mit diesen Vorschriften das Prinzip der freien Beweiswürdignng unvereinbar
sei, scheint der Gesetzgeber garnicht gedacht zu haben. Ich weise den Wider¬
spruch zunächst an einem vom Reichsgerichte entschiedenen Fall nach.

Eine Partei war verurteilt worden auf Grund der unvereidigtcn Aussage
eines Zeugen, dessen Vereidigung nach dem Gesetze in das Ermessen des Ge¬
richtes gestellt war. Die von der Partei auf Unterlassung der Vereidigung ge¬
stützte Revision wurde vom Reichsgericht verworfen, weil das Gesetz dem Richter
die freie Würdigung der Aussagen der in F 358 der Zivilprozeßordnung be¬
zeichneten Zeugen anheimgebe, mögen sie unvercidigt geblieben sein, weil das
Gesetz die Vereidigung nicht zuläßt, oder aber, weil das Gericht ihre nachträg¬
liche Vereidigung nicht für angemessen oder erforderlich erachtete.

Diese Entscheidung war zweifellos vollkommen gesetzlich richtig; sie, be¬
ziehentlich das angefochtene Urteil, war vermutlich auch sachlich richtig, denn
der uuvereidigte Zeuge war der leibliche Sohn der Beklagten und von ihr selbst
vorgeschlagen, dem eben deshalb der Richter vollen Glauben beigemessen hatte.
Wie aber, wenn der Zeuge der vom Kläger vorgeschlagene Sohn des Klägers
gewesen wäre? Das Reichsgericht hätte auch in diesem Falle, bei allem Zweifel
an der materielle» Gerechtigkeit des Urteils, die Revision verwerfen müssen;
denn wenn der Berufuugsrichter zur Begründung der unterbliebenen Vereidigung
angeführt hätte: „Der Zeuge habe den Eindruck eines durchaus glaubwürdigen
Mannes gemacht und seine Aussage werde durch den oder jenen Umstand unter¬
stützt," so war diese Begründung, die gegen keinen Rechtssatz verstieß, mit der
Revision nicht anzufechten, obwohl in diesem Falle der innere Widerspruch der Ent¬
scheidung schlechterdings nicht wegzuleugnen war: wäre die Entscheidung erfolgt auf
Grund der Aussage eines völlig unparteiischen Zeugen, so hätte sie, wenn der Zeuge
aus Versehen uicht vereidigt worden war, unbedingt vernichtet werden müssen; weil
aber der Zeuge als nächster Verwandter der Partei, für die er aussagt, unver¬
cidigt vernommen worden ist, bleibt die Entscheidung zu Recht bestehen. Was das
Reichsgericht zur Rechtfertigung dieses Widerspruches an allgemeinen Gründen
vorbringt, ist augenscheinlich nicht stichhaltig. Es bemerkt: Die Frage, ob ein
solcher (verdächtiger) Zeuge zu vereidige» sei, berühre zunächst nnr die Beob¬
achtung der für die Beweisaufnahme gegebenen Vorschriften, nur indirekt be-


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[0364] Die Memcidxest. auch traurige Folge des die Lehre vom Parteieneid beherrschenden Forma¬ lismus. Mit den Bestimmungen über den Parteieneid hat die Reichszivilvrozeß- ordnung in der Hauptsache das seither bestandene Recht wiederholt; eine wesent¬ liche Zunahme der Meineide wird daher durch sie nicht veranlaßt worden sein; allein es ist schon schlimm genug, wenn sie überhaupt zum Meineid Anlaß geben. Anders beim Zcugeucid; auch hier haben die neuen Prozeßgesetze in der Haupt¬ sache die frühern Vorschriften über die Vereidigung der Zeugen — wann sie zu erfolgen und wann sie zu unterbleiben habe — wiederholt; daran aber, daß mit diesen Vorschriften das Prinzip der freien Beweiswürdignng unvereinbar sei, scheint der Gesetzgeber garnicht gedacht zu haben. Ich weise den Wider¬ spruch zunächst an einem vom Reichsgerichte entschiedenen Fall nach. Eine Partei war verurteilt worden auf Grund der unvereidigtcn Aussage eines Zeugen, dessen Vereidigung nach dem Gesetze in das Ermessen des Ge¬ richtes gestellt war. Die von der Partei auf Unterlassung der Vereidigung ge¬ stützte Revision wurde vom Reichsgericht verworfen, weil das Gesetz dem Richter die freie Würdigung der Aussagen der in F 358 der Zivilprozeßordnung be¬ zeichneten Zeugen anheimgebe, mögen sie unvercidigt geblieben sein, weil das Gesetz die Vereidigung nicht zuläßt, oder aber, weil das Gericht ihre nachträg¬ liche Vereidigung nicht für angemessen oder erforderlich erachtete. Diese Entscheidung war zweifellos vollkommen gesetzlich richtig; sie, be¬ ziehentlich das angefochtene Urteil, war vermutlich auch sachlich richtig, denn der uuvereidigte Zeuge war der leibliche Sohn der Beklagten und von ihr selbst vorgeschlagen, dem eben deshalb der Richter vollen Glauben beigemessen hatte. Wie aber, wenn der Zeuge der vom Kläger vorgeschlagene Sohn des Klägers gewesen wäre? Das Reichsgericht hätte auch in diesem Falle, bei allem Zweifel an der materielle» Gerechtigkeit des Urteils, die Revision verwerfen müssen; denn wenn der Berufuugsrichter zur Begründung der unterbliebenen Vereidigung angeführt hätte: „Der Zeuge habe den Eindruck eines durchaus glaubwürdigen Mannes gemacht und seine Aussage werde durch den oder jenen Umstand unter¬ stützt," so war diese Begründung, die gegen keinen Rechtssatz verstieß, mit der Revision nicht anzufechten, obwohl in diesem Falle der innere Widerspruch der Ent¬ scheidung schlechterdings nicht wegzuleugnen war: wäre die Entscheidung erfolgt auf Grund der Aussage eines völlig unparteiischen Zeugen, so hätte sie, wenn der Zeuge aus Versehen uicht vereidigt worden war, unbedingt vernichtet werden müssen; weil aber der Zeuge als nächster Verwandter der Partei, für die er aussagt, unver¬ cidigt vernommen worden ist, bleibt die Entscheidung zu Recht bestehen. Was das Reichsgericht zur Rechtfertigung dieses Widerspruches an allgemeinen Gründen vorbringt, ist augenscheinlich nicht stichhaltig. Es bemerkt: Die Frage, ob ein solcher (verdächtiger) Zeuge zu vereidige» sei, berühre zunächst nnr die Beob¬ achtung der für die Beweisaufnahme gegebenen Vorschriften, nur indirekt be-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198719/364>, abgerufen am 22.07.2024.