Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Neuhebriden-Frage.

Schlangen, die er, als sie verweist waren, mitleidig groß gezogen hatte. Sie
verliehen ihm die Gabe, die Stimmen der Vögel zu verstehen und alle Zukunft
zu deuten. Durch Schlangen war Kassaudm, des Priamos Tochter, zur Pro¬
phetin geworden. So hatte denn auch der Heilgott als Symbol seiner Kunst
eine Schlange bei sich. Mit diesem zauberkräftigen Wesen der Schlangen sowie
zugleich mit der diesen Tieren im Volksglauben eignen Vorliebe für das Glän¬
zende, Kostbare hängt wohl auch die Thatsache zusammen, daß um" kostbarem,
besonders goldnem Geschmeide zu Schmuck und Waffen von uralter Zeit her
gern die Gestalt einer Schlange gegeben hat.

Auch eine ciudre Sage aus Alt-Griechenland, die im spätern Griechentum
unbeachtet blieb, kehrt in sehr bekannten und verbreiteten Märchen wieder. Von
allen Griechen war der schlaueste und listenreichste der alte Sisyphos. Da er
den Zeus selber betrogen hatte, so schickt dieser den Tod ab, ihn zu holen. Der
schlaue Manu aber fesselt den Tod mit listigen Bauden, sodaß um niemand
sterben kann, bis zuletzt der Kriegsgott Ares selbst den Tod befreit. Aber auch
aus der Unterwelt rettet sich Sisyphos noch einmal durch seine Hinterlist. Leider
ist uns nichts näheres über die Sage erhalten; dieser dürftige Rest der Über¬
lieferung genügt aber vollkommen, um sicherzustellen, daß hier dieselbe Sage
vorliegt wie im deutschen Märchen vom Spiclhansel, der einen Birnbaum hat,
von welchem niemand wieder herunter kann ohne seinen Willen. Als nun der
Tod kommt, deu Hansel zu holen, veranlaßt dieser ihn, auf den Baum zu steigen,
wo er sieben Jahre lang sitzen muß. Niemand in der Welt stirbt, bis Hansel
endlich einmal ein Vaterunser betet; da wird der Tod frei. Auch die Listen des
Spielhansels nach seinem Tode stimmen mit der Sage von Sisyphos überein.
Diese Geschichte ist in sehr zahlreichen Abarten in Deutschland verbreitet, und
zwar ist es gewöhnlich ein listiger Schmied, der den Tod gefangen hält, der
dann auch Tod und Teufel mit seinem Hammer quält. Eine gewisse Ver¬
wandtschaft hiermit scheint das Märchen vom Meister Dieb zu haben, zu welchem
dann wieder die altägyptische Sage vom Schatz des Nhampsinit in engster Be¬
ziehung steht. (Schluß folgt.)




Die Neuhebriden-Frage.

le Frage wegen der Absichten Frankreichs auf die Neuhebridcn,
welche vor kurzem in einigermaßen beunruhigender Gestalt aus dem
stillen Ozean auftauchte, indem sie wie der Anfang zu einem Kon¬
flikte zwischen Frankreich und England aussah, hat seitdem eine we¬
niger dunkle Farbe angenommen, ist aber noch keineswegs licht ge¬
worden; sie ist weder genügend erklärt, noch beigelegt, und so erheischt sie eine
Besprechung, die wir umso lieber vornehmen, als uns dazu gute Quellen zur Ver-


Die Neuhebriden-Frage.

Schlangen, die er, als sie verweist waren, mitleidig groß gezogen hatte. Sie
verliehen ihm die Gabe, die Stimmen der Vögel zu verstehen und alle Zukunft
zu deuten. Durch Schlangen war Kassaudm, des Priamos Tochter, zur Pro¬
phetin geworden. So hatte denn auch der Heilgott als Symbol seiner Kunst
eine Schlange bei sich. Mit diesem zauberkräftigen Wesen der Schlangen sowie
zugleich mit der diesen Tieren im Volksglauben eignen Vorliebe für das Glän¬
zende, Kostbare hängt wohl auch die Thatsache zusammen, daß um» kostbarem,
besonders goldnem Geschmeide zu Schmuck und Waffen von uralter Zeit her
gern die Gestalt einer Schlange gegeben hat.

Auch eine ciudre Sage aus Alt-Griechenland, die im spätern Griechentum
unbeachtet blieb, kehrt in sehr bekannten und verbreiteten Märchen wieder. Von
allen Griechen war der schlaueste und listenreichste der alte Sisyphos. Da er
den Zeus selber betrogen hatte, so schickt dieser den Tod ab, ihn zu holen. Der
schlaue Manu aber fesselt den Tod mit listigen Bauden, sodaß um niemand
sterben kann, bis zuletzt der Kriegsgott Ares selbst den Tod befreit. Aber auch
aus der Unterwelt rettet sich Sisyphos noch einmal durch seine Hinterlist. Leider
ist uns nichts näheres über die Sage erhalten; dieser dürftige Rest der Über¬
lieferung genügt aber vollkommen, um sicherzustellen, daß hier dieselbe Sage
vorliegt wie im deutschen Märchen vom Spiclhansel, der einen Birnbaum hat,
von welchem niemand wieder herunter kann ohne seinen Willen. Als nun der
Tod kommt, deu Hansel zu holen, veranlaßt dieser ihn, auf den Baum zu steigen,
wo er sieben Jahre lang sitzen muß. Niemand in der Welt stirbt, bis Hansel
endlich einmal ein Vaterunser betet; da wird der Tod frei. Auch die Listen des
Spielhansels nach seinem Tode stimmen mit der Sage von Sisyphos überein.
Diese Geschichte ist in sehr zahlreichen Abarten in Deutschland verbreitet, und
zwar ist es gewöhnlich ein listiger Schmied, der den Tod gefangen hält, der
dann auch Tod und Teufel mit seinem Hammer quält. Eine gewisse Ver¬
wandtschaft hiermit scheint das Märchen vom Meister Dieb zu haben, zu welchem
dann wieder die altägyptische Sage vom Schatz des Nhampsinit in engster Be¬
ziehung steht. (Schluß folgt.)




Die Neuhebriden-Frage.

le Frage wegen der Absichten Frankreichs auf die Neuhebridcn,
welche vor kurzem in einigermaßen beunruhigender Gestalt aus dem
stillen Ozean auftauchte, indem sie wie der Anfang zu einem Kon¬
flikte zwischen Frankreich und England aussah, hat seitdem eine we¬
niger dunkle Farbe angenommen, ist aber noch keineswegs licht ge¬
worden; sie ist weder genügend erklärt, noch beigelegt, und so erheischt sie eine
Besprechung, die wir umso lieber vornehmen, als uns dazu gute Quellen zur Ver-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0036" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/198756"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Neuhebriden-Frage.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_94" prev="#ID_93"> Schlangen, die er, als sie verweist waren, mitleidig groß gezogen hatte. Sie<lb/>
verliehen ihm die Gabe, die Stimmen der Vögel zu verstehen und alle Zukunft<lb/>
zu deuten. Durch Schlangen war Kassaudm, des Priamos Tochter, zur Pro¬<lb/>
phetin geworden. So hatte denn auch der Heilgott als Symbol seiner Kunst<lb/>
eine Schlange bei sich. Mit diesem zauberkräftigen Wesen der Schlangen sowie<lb/>
zugleich mit der diesen Tieren im Volksglauben eignen Vorliebe für das Glän¬<lb/>
zende, Kostbare hängt wohl auch die Thatsache zusammen, daß um» kostbarem,<lb/>
besonders goldnem Geschmeide zu Schmuck und Waffen von uralter Zeit her<lb/>
gern die Gestalt einer Schlange gegeben hat.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_95"> Auch eine ciudre Sage aus Alt-Griechenland, die im spätern Griechentum<lb/>
unbeachtet blieb, kehrt in sehr bekannten und verbreiteten Märchen wieder. Von<lb/>
allen Griechen war der schlaueste und listenreichste der alte Sisyphos. Da er<lb/>
den Zeus selber betrogen hatte, so schickt dieser den Tod ab, ihn zu holen. Der<lb/>
schlaue Manu aber fesselt den Tod mit listigen Bauden, sodaß um niemand<lb/>
sterben kann, bis zuletzt der Kriegsgott Ares selbst den Tod befreit. Aber auch<lb/>
aus der Unterwelt rettet sich Sisyphos noch einmal durch seine Hinterlist. Leider<lb/>
ist uns nichts näheres über die Sage erhalten; dieser dürftige Rest der Über¬<lb/>
lieferung genügt aber vollkommen, um sicherzustellen, daß hier dieselbe Sage<lb/>
vorliegt wie im deutschen Märchen vom Spiclhansel, der einen Birnbaum hat,<lb/>
von welchem niemand wieder herunter kann ohne seinen Willen. Als nun der<lb/>
Tod kommt, deu Hansel zu holen, veranlaßt dieser ihn, auf den Baum zu steigen,<lb/>
wo er sieben Jahre lang sitzen muß. Niemand in der Welt stirbt, bis Hansel<lb/>
endlich einmal ein Vaterunser betet; da wird der Tod frei. Auch die Listen des<lb/>
Spielhansels nach seinem Tode stimmen mit der Sage von Sisyphos überein.<lb/>
Diese Geschichte ist in sehr zahlreichen Abarten in Deutschland verbreitet, und<lb/>
zwar ist es gewöhnlich ein listiger Schmied, der den Tod gefangen hält, der<lb/>
dann auch Tod und Teufel mit seinem Hammer quält. Eine gewisse Ver¬<lb/>
wandtschaft hiermit scheint das Märchen vom Meister Dieb zu haben, zu welchem<lb/>
dann wieder die altägyptische Sage vom Schatz des Nhampsinit in engster Be¬<lb/>
ziehung steht. (Schluß folgt.)</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Die Neuhebriden-Frage.</head><lb/>
          <p xml:id="ID_96" next="#ID_97"> le Frage wegen der Absichten Frankreichs auf die Neuhebridcn,<lb/>
welche vor kurzem in einigermaßen beunruhigender Gestalt aus dem<lb/>
stillen Ozean auftauchte, indem sie wie der Anfang zu einem Kon¬<lb/>
flikte zwischen Frankreich und England aussah, hat seitdem eine we¬<lb/>
niger dunkle Farbe angenommen, ist aber noch keineswegs licht ge¬<lb/>
worden; sie ist weder genügend erklärt, noch beigelegt, und so erheischt sie eine<lb/>
Besprechung, die wir umso lieber vornehmen, als uns dazu gute Quellen zur Ver-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0036] Die Neuhebriden-Frage. Schlangen, die er, als sie verweist waren, mitleidig groß gezogen hatte. Sie verliehen ihm die Gabe, die Stimmen der Vögel zu verstehen und alle Zukunft zu deuten. Durch Schlangen war Kassaudm, des Priamos Tochter, zur Pro¬ phetin geworden. So hatte denn auch der Heilgott als Symbol seiner Kunst eine Schlange bei sich. Mit diesem zauberkräftigen Wesen der Schlangen sowie zugleich mit der diesen Tieren im Volksglauben eignen Vorliebe für das Glän¬ zende, Kostbare hängt wohl auch die Thatsache zusammen, daß um» kostbarem, besonders goldnem Geschmeide zu Schmuck und Waffen von uralter Zeit her gern die Gestalt einer Schlange gegeben hat. Auch eine ciudre Sage aus Alt-Griechenland, die im spätern Griechentum unbeachtet blieb, kehrt in sehr bekannten und verbreiteten Märchen wieder. Von allen Griechen war der schlaueste und listenreichste der alte Sisyphos. Da er den Zeus selber betrogen hatte, so schickt dieser den Tod ab, ihn zu holen. Der schlaue Manu aber fesselt den Tod mit listigen Bauden, sodaß um niemand sterben kann, bis zuletzt der Kriegsgott Ares selbst den Tod befreit. Aber auch aus der Unterwelt rettet sich Sisyphos noch einmal durch seine Hinterlist. Leider ist uns nichts näheres über die Sage erhalten; dieser dürftige Rest der Über¬ lieferung genügt aber vollkommen, um sicherzustellen, daß hier dieselbe Sage vorliegt wie im deutschen Märchen vom Spiclhansel, der einen Birnbaum hat, von welchem niemand wieder herunter kann ohne seinen Willen. Als nun der Tod kommt, deu Hansel zu holen, veranlaßt dieser ihn, auf den Baum zu steigen, wo er sieben Jahre lang sitzen muß. Niemand in der Welt stirbt, bis Hansel endlich einmal ein Vaterunser betet; da wird der Tod frei. Auch die Listen des Spielhansels nach seinem Tode stimmen mit der Sage von Sisyphos überein. Diese Geschichte ist in sehr zahlreichen Abarten in Deutschland verbreitet, und zwar ist es gewöhnlich ein listiger Schmied, der den Tod gefangen hält, der dann auch Tod und Teufel mit seinem Hammer quält. Eine gewisse Ver¬ wandtschaft hiermit scheint das Märchen vom Meister Dieb zu haben, zu welchem dann wieder die altägyptische Sage vom Schatz des Nhampsinit in engster Be¬ ziehung steht. (Schluß folgt.) Die Neuhebriden-Frage. le Frage wegen der Absichten Frankreichs auf die Neuhebridcn, welche vor kurzem in einigermaßen beunruhigender Gestalt aus dem stillen Ozean auftauchte, indem sie wie der Anfang zu einem Kon¬ flikte zwischen Frankreich und England aussah, hat seitdem eine we¬ niger dunkle Farbe angenommen, ist aber noch keineswegs licht ge¬ worden; sie ist weder genügend erklärt, noch beigelegt, und so erheischt sie eine Besprechung, die wir umso lieber vornehmen, als uns dazu gute Quellen zur Ver-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198719
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198719/36
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198719/36>, abgerufen am 03.07.2024.