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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal.

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Die Meineidpest.

unterlief, daß die Regeln des Zweikampfs beobachtet wurden; war der Eid von
der Partei und ihren Eideshelfern geschworen, war die Feuer- oder Wasserprobe
bestanden, war der Zweiknmpf ausgefochten, so fällte er sein Urteil: was be¬
schworen war, war unumstößlich wahr; wer die Probe bestanden hatte, war
unschuldig, wer sie nicht bestanden hatte, war schuldig; der Sieger im Zwei¬
kampf hatte Recht, der Besiegte Unrecht; mochte der Spruch des Richters falsch
sein: sein Gewissen wurde dadurch nicht beschwert; nicht er, sondern die
Schwörenden und die Gottheit hatten ihn zu vertreten.

Ein ganz andres Bild zeigt uns das römische Recht ans dem Höhepunkte
seiner Entwicklung, in den ersten Jahrhunderten der Kaiserzeit. An den Kaiser
Hadrian hatte sich ein Richter mit der Anfrage gewendet, nach welchen Grund¬
sätzen er die ihm vorgeführten Beweise zu beurteilen habe; der Kaiser antwortete
ihm: "Welche Beweismittel zur Feststellung der Wahrheit irgendeiner Thatsache
genügen, darüber lassen sich allgemeingiltige Regeln nicht aufstellen... Nur
soviel kann ich dir in aller Kürze antworten: nicht schlechthin vom Erfolg eines
einzelnen Beweismittels darf das Urteil abhängig gemacht werden, sondern nach
deiner gewissenhaften Überzeugung mußt du dich schlüssig machen, was du glauben
und was du als unerwiesen betrachten willst." Hier war die Entscheidung über
Recht und Unrecht, über Wahrheit und Unwahrheit in die Hand des Richters
gelegt; aber er hatte freilich nicht nach reiner Willkür und auch nicht -- wie
die Geschwornen im französisch-deutschen Schwurgericht -- nach der auf einem
oft genug dunkeln und trüben Gesamteindruck beruhenden "innigen Überzeugung"
zu urteilen, sondern eine strenge, verstandesmäßige Prüfung aller vorgeführten
Beweise war ihm zur Pflicht gemacht, und er war an gewisse, in der Natur
der Sache liegende Regeln gebunden: manche Urkunden lieferten vollen Beweis;
Zeugenaussagen durfte er uur berücksichtige", wenn die Zeugen persönlich ver¬
nommen waren, ein schriftliches Zeugnis war unbeweisend. Der Zeugcneid ist
zwar dem römischen Recht dieser Periode unbekannt, wohl aber spielt der
Parteieneid im Zivilprozeß eine Rolle, und zwar eine doppelte. Der Eid kommt
vor als ein Mittel zur Erledigung des Rechtsstreites: die Partei schwört auf
Verlangen des Gegners über ihr Recht (ich schwöre, daß dieses Haus mir
gehört -- ich schwöre, daß du mir tausend Mark schuldig bist); durch Zuschicbung
und Annahme des Eides wird der Rechtsstreit hier wie durch einen Vergleich
erledigt, der geleistete Eid vertritt die Stelle des Urteils. Daneben erscheint
aber auch der Eid als Beweismittel, als Mittel zur Feststellung der Wahrheit
einer einzelnen Thatsache, welche die Grundlage für das richterliche Urteil ab¬
geben soll.

Bei diesem Verfahren waren -- von den Fällen der Entscheidung des
Streites durch Eid abgesehen -- an die intellektuelle und moralische Tüchtigkeit
des Richters die höchsten Anforderungen gestellt; er sollte die materielle Wahr¬
heit ergründen, eine Aufgabe, die in ihrer ganzen Strenge unlösbar ist; denn


Die Meineidpest.

unterlief, daß die Regeln des Zweikampfs beobachtet wurden; war der Eid von
der Partei und ihren Eideshelfern geschworen, war die Feuer- oder Wasserprobe
bestanden, war der Zweiknmpf ausgefochten, so fällte er sein Urteil: was be¬
schworen war, war unumstößlich wahr; wer die Probe bestanden hatte, war
unschuldig, wer sie nicht bestanden hatte, war schuldig; der Sieger im Zwei¬
kampf hatte Recht, der Besiegte Unrecht; mochte der Spruch des Richters falsch
sein: sein Gewissen wurde dadurch nicht beschwert; nicht er, sondern die
Schwörenden und die Gottheit hatten ihn zu vertreten.

Ein ganz andres Bild zeigt uns das römische Recht ans dem Höhepunkte
seiner Entwicklung, in den ersten Jahrhunderten der Kaiserzeit. An den Kaiser
Hadrian hatte sich ein Richter mit der Anfrage gewendet, nach welchen Grund¬
sätzen er die ihm vorgeführten Beweise zu beurteilen habe; der Kaiser antwortete
ihm: „Welche Beweismittel zur Feststellung der Wahrheit irgendeiner Thatsache
genügen, darüber lassen sich allgemeingiltige Regeln nicht aufstellen... Nur
soviel kann ich dir in aller Kürze antworten: nicht schlechthin vom Erfolg eines
einzelnen Beweismittels darf das Urteil abhängig gemacht werden, sondern nach
deiner gewissenhaften Überzeugung mußt du dich schlüssig machen, was du glauben
und was du als unerwiesen betrachten willst." Hier war die Entscheidung über
Recht und Unrecht, über Wahrheit und Unwahrheit in die Hand des Richters
gelegt; aber er hatte freilich nicht nach reiner Willkür und auch nicht — wie
die Geschwornen im französisch-deutschen Schwurgericht — nach der auf einem
oft genug dunkeln und trüben Gesamteindruck beruhenden „innigen Überzeugung"
zu urteilen, sondern eine strenge, verstandesmäßige Prüfung aller vorgeführten
Beweise war ihm zur Pflicht gemacht, und er war an gewisse, in der Natur
der Sache liegende Regeln gebunden: manche Urkunden lieferten vollen Beweis;
Zeugenaussagen durfte er uur berücksichtige», wenn die Zeugen persönlich ver¬
nommen waren, ein schriftliches Zeugnis war unbeweisend. Der Zeugcneid ist
zwar dem römischen Recht dieser Periode unbekannt, wohl aber spielt der
Parteieneid im Zivilprozeß eine Rolle, und zwar eine doppelte. Der Eid kommt
vor als ein Mittel zur Erledigung des Rechtsstreites: die Partei schwört auf
Verlangen des Gegners über ihr Recht (ich schwöre, daß dieses Haus mir
gehört — ich schwöre, daß du mir tausend Mark schuldig bist); durch Zuschicbung
und Annahme des Eides wird der Rechtsstreit hier wie durch einen Vergleich
erledigt, der geleistete Eid vertritt die Stelle des Urteils. Daneben erscheint
aber auch der Eid als Beweismittel, als Mittel zur Feststellung der Wahrheit
einer einzelnen Thatsache, welche die Grundlage für das richterliche Urteil ab¬
geben soll.

Bei diesem Verfahren waren — von den Fällen der Entscheidung des
Streites durch Eid abgesehen — an die intellektuelle und moralische Tüchtigkeit
des Richters die höchsten Anforderungen gestellt; er sollte die materielle Wahr¬
heit ergründen, eine Aufgabe, die in ihrer ganzen Strenge unlösbar ist; denn


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[0354] Die Meineidpest. unterlief, daß die Regeln des Zweikampfs beobachtet wurden; war der Eid von der Partei und ihren Eideshelfern geschworen, war die Feuer- oder Wasserprobe bestanden, war der Zweiknmpf ausgefochten, so fällte er sein Urteil: was be¬ schworen war, war unumstößlich wahr; wer die Probe bestanden hatte, war unschuldig, wer sie nicht bestanden hatte, war schuldig; der Sieger im Zwei¬ kampf hatte Recht, der Besiegte Unrecht; mochte der Spruch des Richters falsch sein: sein Gewissen wurde dadurch nicht beschwert; nicht er, sondern die Schwörenden und die Gottheit hatten ihn zu vertreten. Ein ganz andres Bild zeigt uns das römische Recht ans dem Höhepunkte seiner Entwicklung, in den ersten Jahrhunderten der Kaiserzeit. An den Kaiser Hadrian hatte sich ein Richter mit der Anfrage gewendet, nach welchen Grund¬ sätzen er die ihm vorgeführten Beweise zu beurteilen habe; der Kaiser antwortete ihm: „Welche Beweismittel zur Feststellung der Wahrheit irgendeiner Thatsache genügen, darüber lassen sich allgemeingiltige Regeln nicht aufstellen... Nur soviel kann ich dir in aller Kürze antworten: nicht schlechthin vom Erfolg eines einzelnen Beweismittels darf das Urteil abhängig gemacht werden, sondern nach deiner gewissenhaften Überzeugung mußt du dich schlüssig machen, was du glauben und was du als unerwiesen betrachten willst." Hier war die Entscheidung über Recht und Unrecht, über Wahrheit und Unwahrheit in die Hand des Richters gelegt; aber er hatte freilich nicht nach reiner Willkür und auch nicht — wie die Geschwornen im französisch-deutschen Schwurgericht — nach der auf einem oft genug dunkeln und trüben Gesamteindruck beruhenden „innigen Überzeugung" zu urteilen, sondern eine strenge, verstandesmäßige Prüfung aller vorgeführten Beweise war ihm zur Pflicht gemacht, und er war an gewisse, in der Natur der Sache liegende Regeln gebunden: manche Urkunden lieferten vollen Beweis; Zeugenaussagen durfte er uur berücksichtige», wenn die Zeugen persönlich ver¬ nommen waren, ein schriftliches Zeugnis war unbeweisend. Der Zeugcneid ist zwar dem römischen Recht dieser Periode unbekannt, wohl aber spielt der Parteieneid im Zivilprozeß eine Rolle, und zwar eine doppelte. Der Eid kommt vor als ein Mittel zur Erledigung des Rechtsstreites: die Partei schwört auf Verlangen des Gegners über ihr Recht (ich schwöre, daß dieses Haus mir gehört — ich schwöre, daß du mir tausend Mark schuldig bist); durch Zuschicbung und Annahme des Eides wird der Rechtsstreit hier wie durch einen Vergleich erledigt, der geleistete Eid vertritt die Stelle des Urteils. Daneben erscheint aber auch der Eid als Beweismittel, als Mittel zur Feststellung der Wahrheit einer einzelnen Thatsache, welche die Grundlage für das richterliche Urteil ab¬ geben soll. Bei diesem Verfahren waren — von den Fällen der Entscheidung des Streites durch Eid abgesehen — an die intellektuelle und moralische Tüchtigkeit des Richters die höchsten Anforderungen gestellt; er sollte die materielle Wahr¬ heit ergründen, eine Aufgabe, die in ihrer ganzen Strenge unlösbar ist; denn

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198719/354>, abgerufen am 22.07.2024.