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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal.

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Antike Märchen in deutschem Gewände.

starb, flogen Naben über ihn hin, und er sagte, diese würden seinen Tod offen¬
baren. Als min die Mörder später einmal mit einander in Zürich vor einem
Wirtshause saßen und einige Naben vorbeiflogen, sagte der eine spöttisch zu
seinem Kameraden: "Siehe da, Meinrads Naben!" Das hörte ein Vorüber¬
gehender und zeigte es dem Gerichte an, worauf die beiden eingezogen, des Ver¬
brechens schuldig befunden und bestraft wurden. Ein andres deutsches Märchen
lautet: Ein König verspricht einem Juden sicheres Geleit durch einen großen
Wald. Den Schenk des Königs, der den alten Mann geleiten soll, treibt aber
die Goldgier selbst zum Morde. Als der Jude das Vorhaben merkt, spricht
er: "Die Vögel des Waldes werden den Mord offenbaren!" Der Schenk lacht
darüber, und als er das Schwert gezogen hat, und gerade ein Rebhuhn daher¬
komme, spricht er spottend: "Jude, nimm wahr, das Nebhuhn wirds offenbaren!"
Darauf mordet er ihn, nimmt das Gold und geht heim. Nicht lange, so wird
dem König ein Rebhuhn aufgetragen: Der Schenk denkt dabei an des Juden Wort
und lacht verstohlen. Der König aber sieht es, zwingt ihn den Grund zu bekennen,
und er kommt an den Galgen. Derselbe Gedanke liegt endlich auch dem bekannten
Grimmschcn Märchen: "Die klare Sonne bringt es an den Tag" zu Grunde.

Im alten Griechenland ging von Glaukos, dem Sohne des Kreterkönigs
Minus, die Sage, er sei eines frühen Todes gestorben, und da habe sein Vater
den berühmten Seher Polyidos in die Grabkammer zu der Leiche seines Sohnes
eingeschlossen und habe ihm befohlen, denselben wieder vom Tode zu erwecken.
Polyidos aber sah, wie eine Schlange aus dem Gewölbe hervor und zu ihm
herankroch; da erschlug er sie ans Furcht. Bald kam eine zweite Schlange
hervor, lind als sie die erste tot fand, trug sie ein Kraut herbei, legte das der
Toten auf den Leib und erweckte sie dadurch zum Leben. Polyidos eilte nun herzu,
nahm das Kraut und legte es auf den tote" Knaben; da erwachte auch dieser von,
Tode. Obgleich diese Sage im Altertum selbst sehr wenig bekannt gewesen zu
sein scheint, dn nie ein Knnstdichter sie ausgeführt hat, so ist sie doch im deutschen
Märchen in folgender Gestalt vorhanden: Ein Jüngling hat eine Königstochter
geheiratet, mit der Bedingung, daß er sich mit ihr lebendig begraben lassen muß,
wenn sie früher stirbt. Bald geschieht es auch also. Als er aber bei der Toten
in der Grabkammer sitzt, ereignet sich ganz dasselbe wie in der griechischen Sage.

Mit diesem Märchen vom Schlangenkraut stehen alle diejenigen Sagen
in innerem Zusammenhange, durch welche das Zauberkräftige oder Heilkundige
der Schlangen ausgedrückt wird. Wer Schlangen oder Schlangenblut genoß,
verstand alsbald die Sprache der Tiere; so ging es dem Jüngling in dein
deutschen Märchen von der weißen Schlange, so dem Herrn von der Seeburg,
der darauf durch das Krähen des Hahnes noch zur rechten Zeit erfuhr, daß
sein Schloß unterzugehen im Begriff sei, so dem dummen Siegfried, als er
den mit dem Drachenblute befleckten Finger in den Mund steckte. So verdankte
nach altgrichischer Sage der Seher Melnmpus seine Weissageknnst einer Brut


Antike Märchen in deutschem Gewände.

starb, flogen Naben über ihn hin, und er sagte, diese würden seinen Tod offen¬
baren. Als min die Mörder später einmal mit einander in Zürich vor einem
Wirtshause saßen und einige Naben vorbeiflogen, sagte der eine spöttisch zu
seinem Kameraden: „Siehe da, Meinrads Naben!" Das hörte ein Vorüber¬
gehender und zeigte es dem Gerichte an, worauf die beiden eingezogen, des Ver¬
brechens schuldig befunden und bestraft wurden. Ein andres deutsches Märchen
lautet: Ein König verspricht einem Juden sicheres Geleit durch einen großen
Wald. Den Schenk des Königs, der den alten Mann geleiten soll, treibt aber
die Goldgier selbst zum Morde. Als der Jude das Vorhaben merkt, spricht
er: „Die Vögel des Waldes werden den Mord offenbaren!" Der Schenk lacht
darüber, und als er das Schwert gezogen hat, und gerade ein Rebhuhn daher¬
komme, spricht er spottend: „Jude, nimm wahr, das Nebhuhn wirds offenbaren!"
Darauf mordet er ihn, nimmt das Gold und geht heim. Nicht lange, so wird
dem König ein Rebhuhn aufgetragen: Der Schenk denkt dabei an des Juden Wort
und lacht verstohlen. Der König aber sieht es, zwingt ihn den Grund zu bekennen,
und er kommt an den Galgen. Derselbe Gedanke liegt endlich auch dem bekannten
Grimmschcn Märchen: „Die klare Sonne bringt es an den Tag" zu Grunde.

Im alten Griechenland ging von Glaukos, dem Sohne des Kreterkönigs
Minus, die Sage, er sei eines frühen Todes gestorben, und da habe sein Vater
den berühmten Seher Polyidos in die Grabkammer zu der Leiche seines Sohnes
eingeschlossen und habe ihm befohlen, denselben wieder vom Tode zu erwecken.
Polyidos aber sah, wie eine Schlange aus dem Gewölbe hervor und zu ihm
herankroch; da erschlug er sie ans Furcht. Bald kam eine zweite Schlange
hervor, lind als sie die erste tot fand, trug sie ein Kraut herbei, legte das der
Toten auf den Leib und erweckte sie dadurch zum Leben. Polyidos eilte nun herzu,
nahm das Kraut und legte es auf den tote» Knaben; da erwachte auch dieser von,
Tode. Obgleich diese Sage im Altertum selbst sehr wenig bekannt gewesen zu
sein scheint, dn nie ein Knnstdichter sie ausgeführt hat, so ist sie doch im deutschen
Märchen in folgender Gestalt vorhanden: Ein Jüngling hat eine Königstochter
geheiratet, mit der Bedingung, daß er sich mit ihr lebendig begraben lassen muß,
wenn sie früher stirbt. Bald geschieht es auch also. Als er aber bei der Toten
in der Grabkammer sitzt, ereignet sich ganz dasselbe wie in der griechischen Sage.

Mit diesem Märchen vom Schlangenkraut stehen alle diejenigen Sagen
in innerem Zusammenhange, durch welche das Zauberkräftige oder Heilkundige
der Schlangen ausgedrückt wird. Wer Schlangen oder Schlangenblut genoß,
verstand alsbald die Sprache der Tiere; so ging es dem Jüngling in dein
deutschen Märchen von der weißen Schlange, so dem Herrn von der Seeburg,
der darauf durch das Krähen des Hahnes noch zur rechten Zeit erfuhr, daß
sein Schloß unterzugehen im Begriff sei, so dem dummen Siegfried, als er
den mit dem Drachenblute befleckten Finger in den Mund steckte. So verdankte
nach altgrichischer Sage der Seher Melnmpus seine Weissageknnst einer Brut


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[0035] Antike Märchen in deutschem Gewände. starb, flogen Naben über ihn hin, und er sagte, diese würden seinen Tod offen¬ baren. Als min die Mörder später einmal mit einander in Zürich vor einem Wirtshause saßen und einige Naben vorbeiflogen, sagte der eine spöttisch zu seinem Kameraden: „Siehe da, Meinrads Naben!" Das hörte ein Vorüber¬ gehender und zeigte es dem Gerichte an, worauf die beiden eingezogen, des Ver¬ brechens schuldig befunden und bestraft wurden. Ein andres deutsches Märchen lautet: Ein König verspricht einem Juden sicheres Geleit durch einen großen Wald. Den Schenk des Königs, der den alten Mann geleiten soll, treibt aber die Goldgier selbst zum Morde. Als der Jude das Vorhaben merkt, spricht er: „Die Vögel des Waldes werden den Mord offenbaren!" Der Schenk lacht darüber, und als er das Schwert gezogen hat, und gerade ein Rebhuhn daher¬ komme, spricht er spottend: „Jude, nimm wahr, das Nebhuhn wirds offenbaren!" Darauf mordet er ihn, nimmt das Gold und geht heim. Nicht lange, so wird dem König ein Rebhuhn aufgetragen: Der Schenk denkt dabei an des Juden Wort und lacht verstohlen. Der König aber sieht es, zwingt ihn den Grund zu bekennen, und er kommt an den Galgen. Derselbe Gedanke liegt endlich auch dem bekannten Grimmschcn Märchen: „Die klare Sonne bringt es an den Tag" zu Grunde. Im alten Griechenland ging von Glaukos, dem Sohne des Kreterkönigs Minus, die Sage, er sei eines frühen Todes gestorben, und da habe sein Vater den berühmten Seher Polyidos in die Grabkammer zu der Leiche seines Sohnes eingeschlossen und habe ihm befohlen, denselben wieder vom Tode zu erwecken. Polyidos aber sah, wie eine Schlange aus dem Gewölbe hervor und zu ihm herankroch; da erschlug er sie ans Furcht. Bald kam eine zweite Schlange hervor, lind als sie die erste tot fand, trug sie ein Kraut herbei, legte das der Toten auf den Leib und erweckte sie dadurch zum Leben. Polyidos eilte nun herzu, nahm das Kraut und legte es auf den tote» Knaben; da erwachte auch dieser von, Tode. Obgleich diese Sage im Altertum selbst sehr wenig bekannt gewesen zu sein scheint, dn nie ein Knnstdichter sie ausgeführt hat, so ist sie doch im deutschen Märchen in folgender Gestalt vorhanden: Ein Jüngling hat eine Königstochter geheiratet, mit der Bedingung, daß er sich mit ihr lebendig begraben lassen muß, wenn sie früher stirbt. Bald geschieht es auch also. Als er aber bei der Toten in der Grabkammer sitzt, ereignet sich ganz dasselbe wie in der griechischen Sage. Mit diesem Märchen vom Schlangenkraut stehen alle diejenigen Sagen in innerem Zusammenhange, durch welche das Zauberkräftige oder Heilkundige der Schlangen ausgedrückt wird. Wer Schlangen oder Schlangenblut genoß, verstand alsbald die Sprache der Tiere; so ging es dem Jüngling in dein deutschen Märchen von der weißen Schlange, so dem Herrn von der Seeburg, der darauf durch das Krähen des Hahnes noch zur rechten Zeit erfuhr, daß sein Schloß unterzugehen im Begriff sei, so dem dummen Siegfried, als er den mit dem Drachenblute befleckten Finger in den Mund steckte. So verdankte nach altgrichischer Sage der Seher Melnmpus seine Weissageknnst einer Brut

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198719/35>, abgerufen am 22.07.2024.