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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal.

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Antike Märchen in deutschem Gewände.

Bei den Indern lebt ganz dieselbe Sage, und Philemon und Baucis sind dort
der Brahmine Soodam und sein Weib.

Alles dieses gehört in den reichen Kreis jener Sagen vom Wandern und
Reisen der Götter, welche die Odyssee andeutet mit den Worten:


Selige Götter in wandernder Fremdlinge Bildung,
Jede Gestalt nachahmend, durchgehn oft Länder und Städte,
Daß sie der Sterblichen Frevel sowohl als Frömmigkeit anschaun.

Hierher gehören also auch die griechischen Sagen von der Irrfahrt der Demeter,
der griechischen wtttsr avia'vLg,, von den Zügen des Weingottes Dionysos und
wiederum die altgermanische Mythe von der Wanderung des Wuotan, Loki
und Höuir und ihrer Einkehr bei den Menschen.

Von hohem Alter ist auch diejenige Gruppe von Sagen, welche man uuter
dem Gesamtnmneu "Zauberlehrlinge" begreifen könnte. Dädalos, der wunderbar
geschickte Baumeister des Königs Minos, hatte sich ein Federkleid gefertigt, mit
welchem er sich aus der Gefangenschaft befreite, ganz wie in germanischer Sage
der kunstreiche Schmied Wieland. Aber des Dädalos Sohn Ikaros, der seinem
Vater im Fliegen nacheifern, ja ihn übertreffen will, findet dabei den Tod. El"
ähnliches Motiv enthält die Sage vom Phaetho", der seinen Vater, den Sonnen¬
gott, bat, ihm für einen Tag die Leitung des Souuenwageus zu überlasse".
Der Jüngling vermochte die wilden Rosse nicht zu zügeln, der Wagen kam
aus seiner Bahn und streifte versengend den Teil der Erde, welchen die Äthivpen
bewohnen, die noch heute davon schwarz sind. Phnethvn wird ans dem Wagen
geschleudert und stirbt. Da ergreift der Sonnengott selber die Zügel, und
willig gehorchen die Rosse der Hand des Meisters. Diejenige Gestalt dieser
Sage, welche durch Goethe eine so herrliche Darstellung im "Zauberlehrling"
gefunden hat, findet sich erst im spülen Griechentum des zweiten nachchrist¬
lichen Jahrhunderts, ausgezeichnet. Mit dieser Sage stimmt sehr genau
das Grimmsche Märchen vom süßen Brei überein, nur daß hier der Meister
ein Kind ist und der Lehrling ihre Mutter, welche das Wort vergißt, womit
der Topf, welcher unaufhörlich den "gute", süßen Hirsenbrei" kocht, zum Still¬
stand gebracht wird. Und hiermit scheint wiederum das alte deutsche Volks¬
märchen vom Berge Semsi verwandt zu sei", welcher sich nur auf das richtige
Wort öffnet und schließt. Aber der habgierige Reiche, welcher hier der Zauber¬
lehrling ist, vergißt das Wort und kommt um. Wuuderbarcrweise stimmt dieses
Märchen genau bis auf den Namen überein mit dem arabischen ans 100k Nacht
bekannten Märchen vom Berge Scham.

Ein andrer den Griechen und Deutschen gemeinsamer Sagenkreis enthält
den Gedanken, daß kein Verbrechen verschwiegen und uugerücht bleibt. Die
griechische Sage von den Kranichen des Ibykos kehrt in Süddeutschland in der
Geschichte von den Raben des Se. Meinrad wieder. Dieser Heilige wurde im
Jahre 861 in einer Einsiedelei von zwei Mördern umgebracht. Bevor er aber


Antike Märchen in deutschem Gewände.

Bei den Indern lebt ganz dieselbe Sage, und Philemon und Baucis sind dort
der Brahmine Soodam und sein Weib.

Alles dieses gehört in den reichen Kreis jener Sagen vom Wandern und
Reisen der Götter, welche die Odyssee andeutet mit den Worten:


Selige Götter in wandernder Fremdlinge Bildung,
Jede Gestalt nachahmend, durchgehn oft Länder und Städte,
Daß sie der Sterblichen Frevel sowohl als Frömmigkeit anschaun.

Hierher gehören also auch die griechischen Sagen von der Irrfahrt der Demeter,
der griechischen wtttsr avia'vLg,, von den Zügen des Weingottes Dionysos und
wiederum die altgermanische Mythe von der Wanderung des Wuotan, Loki
und Höuir und ihrer Einkehr bei den Menschen.

Von hohem Alter ist auch diejenige Gruppe von Sagen, welche man uuter
dem Gesamtnmneu „Zauberlehrlinge" begreifen könnte. Dädalos, der wunderbar
geschickte Baumeister des Königs Minos, hatte sich ein Federkleid gefertigt, mit
welchem er sich aus der Gefangenschaft befreite, ganz wie in germanischer Sage
der kunstreiche Schmied Wieland. Aber des Dädalos Sohn Ikaros, der seinem
Vater im Fliegen nacheifern, ja ihn übertreffen will, findet dabei den Tod. El»
ähnliches Motiv enthält die Sage vom Phaetho», der seinen Vater, den Sonnen¬
gott, bat, ihm für einen Tag die Leitung des Souuenwageus zu überlasse».
Der Jüngling vermochte die wilden Rosse nicht zu zügeln, der Wagen kam
aus seiner Bahn und streifte versengend den Teil der Erde, welchen die Äthivpen
bewohnen, die noch heute davon schwarz sind. Phnethvn wird ans dem Wagen
geschleudert und stirbt. Da ergreift der Sonnengott selber die Zügel, und
willig gehorchen die Rosse der Hand des Meisters. Diejenige Gestalt dieser
Sage, welche durch Goethe eine so herrliche Darstellung im „Zauberlehrling"
gefunden hat, findet sich erst im spülen Griechentum des zweiten nachchrist¬
lichen Jahrhunderts, ausgezeichnet. Mit dieser Sage stimmt sehr genau
das Grimmsche Märchen vom süßen Brei überein, nur daß hier der Meister
ein Kind ist und der Lehrling ihre Mutter, welche das Wort vergißt, womit
der Topf, welcher unaufhörlich den „gute», süßen Hirsenbrei" kocht, zum Still¬
stand gebracht wird. Und hiermit scheint wiederum das alte deutsche Volks¬
märchen vom Berge Semsi verwandt zu sei», welcher sich nur auf das richtige
Wort öffnet und schließt. Aber der habgierige Reiche, welcher hier der Zauber¬
lehrling ist, vergißt das Wort und kommt um. Wuuderbarcrweise stimmt dieses
Märchen genau bis auf den Namen überein mit dem arabischen ans 100k Nacht
bekannten Märchen vom Berge Scham.

Ein andrer den Griechen und Deutschen gemeinsamer Sagenkreis enthält
den Gedanken, daß kein Verbrechen verschwiegen und uugerücht bleibt. Die
griechische Sage von den Kranichen des Ibykos kehrt in Süddeutschland in der
Geschichte von den Raben des Se. Meinrad wieder. Dieser Heilige wurde im
Jahre 861 in einer Einsiedelei von zwei Mördern umgebracht. Bevor er aber


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[0034] Antike Märchen in deutschem Gewände. Bei den Indern lebt ganz dieselbe Sage, und Philemon und Baucis sind dort der Brahmine Soodam und sein Weib. Alles dieses gehört in den reichen Kreis jener Sagen vom Wandern und Reisen der Götter, welche die Odyssee andeutet mit den Worten: Selige Götter in wandernder Fremdlinge Bildung, Jede Gestalt nachahmend, durchgehn oft Länder und Städte, Daß sie der Sterblichen Frevel sowohl als Frömmigkeit anschaun. Hierher gehören also auch die griechischen Sagen von der Irrfahrt der Demeter, der griechischen wtttsr avia'vLg,, von den Zügen des Weingottes Dionysos und wiederum die altgermanische Mythe von der Wanderung des Wuotan, Loki und Höuir und ihrer Einkehr bei den Menschen. Von hohem Alter ist auch diejenige Gruppe von Sagen, welche man uuter dem Gesamtnmneu „Zauberlehrlinge" begreifen könnte. Dädalos, der wunderbar geschickte Baumeister des Königs Minos, hatte sich ein Federkleid gefertigt, mit welchem er sich aus der Gefangenschaft befreite, ganz wie in germanischer Sage der kunstreiche Schmied Wieland. Aber des Dädalos Sohn Ikaros, der seinem Vater im Fliegen nacheifern, ja ihn übertreffen will, findet dabei den Tod. El» ähnliches Motiv enthält die Sage vom Phaetho», der seinen Vater, den Sonnen¬ gott, bat, ihm für einen Tag die Leitung des Souuenwageus zu überlasse». Der Jüngling vermochte die wilden Rosse nicht zu zügeln, der Wagen kam aus seiner Bahn und streifte versengend den Teil der Erde, welchen die Äthivpen bewohnen, die noch heute davon schwarz sind. Phnethvn wird ans dem Wagen geschleudert und stirbt. Da ergreift der Sonnengott selber die Zügel, und willig gehorchen die Rosse der Hand des Meisters. Diejenige Gestalt dieser Sage, welche durch Goethe eine so herrliche Darstellung im „Zauberlehrling" gefunden hat, findet sich erst im spülen Griechentum des zweiten nachchrist¬ lichen Jahrhunderts, ausgezeichnet. Mit dieser Sage stimmt sehr genau das Grimmsche Märchen vom süßen Brei überein, nur daß hier der Meister ein Kind ist und der Lehrling ihre Mutter, welche das Wort vergißt, womit der Topf, welcher unaufhörlich den „gute», süßen Hirsenbrei" kocht, zum Still¬ stand gebracht wird. Und hiermit scheint wiederum das alte deutsche Volks¬ märchen vom Berge Semsi verwandt zu sei», welcher sich nur auf das richtige Wort öffnet und schließt. Aber der habgierige Reiche, welcher hier der Zauber¬ lehrling ist, vergißt das Wort und kommt um. Wuuderbarcrweise stimmt dieses Märchen genau bis auf den Namen überein mit dem arabischen ans 100k Nacht bekannten Märchen vom Berge Scham. Ein andrer den Griechen und Deutschen gemeinsamer Sagenkreis enthält den Gedanken, daß kein Verbrechen verschwiegen und uugerücht bleibt. Die griechische Sage von den Kranichen des Ibykos kehrt in Süddeutschland in der Geschichte von den Raben des Se. Meinrad wieder. Dieser Heilige wurde im Jahre 861 in einer Einsiedelei von zwei Mördern umgebracht. Bevor er aber

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198719/34>, abgerufen am 03.07.2024.