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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal.

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Antike Märchen in deutschem Gewände.

Aber die Zwergmutter fühlt Erbarmen, sie heißt ihn die Jungfrau wieder zurück¬
führen, ihr ahnt großes Unglück. Als sie zurückkommen, liegt der treue Ritter
tot unter der Linde, er hat sich erstochen. Da zieht die Maid das Schwert
aus seiner Brust und stößt es in die eigne.

Das Lied ist im echten deutschen Volkstone gehalten, und doch ist es
wahrscheinlich ein Fremdling. Ovid nämlich erzählt im vierten Buche seiner
Verwandlungen folgende Geschichte: Pyramus liebte die Thisbe, die schönste
assyrische Jungfrau. Beide verabreden eine Zusammenkunft, da wo am Grabe
des Ninus unter einem Maulbeerbäume eine Quelle entspringt. Ein jeder
täuscht die Wächter des Hauses und kommt zu dem bezeichneten Orte. Thisbe
zuerst. Als sie anlangt, erblickt sie eine Löwin, deren Nachen nach dem Morde
der Rinder noch vom Blute trieft. Eilends flicht sie in eine ucche Höhle, ver¬
liert aber ans der Flucht ihren Schleier. Die Löwin ergreift diesen und be¬
sudelt ihn mit ihrem blutigen Nachen, dann läuft sie davon. Jetzt kommt
Pyramus, sieht die wohlbekannte Spur des wildeu Tieres, sieht und erkennt
Thisbcs blutiges Gewand und -- ersticht sich in Verzweiflung. Endlich wagt
sich auch Thisbe aus der schützenden Höhle, und als sie ihr Unglück genährt,
giebt sie sich gleichfalls den Tod.

Es ist klar, daß uns hier ganz dieselbe Sage vorliegt. Thisbe ist die
Königstochter des deutschen Liedes, Pyramus der Ritter. Sogar der Wächter,
der Brunnen und der "hohle Stein" siud vorhanden; der Maulbeerbnnm ist
in die deutsche Linde verwandelt. Mit der fremdländischen Löwin konnte sich
unser Lied nicht befreunden, dafür wurde, um die Entfernung der Jungfrau zu
motiviren, ein heimischer Zwerg eingeführt. Bei dieser Veränderung entging
den deutschen Dichtern, daß damit zugleich das eigentliche Motiv für den Tod
des Ritters wegfiel. Dies ist der Grund, weshalb mau hier vielleicht eine
direkte Entstehung des deutschen Liedes aus der lateinischen Quelle durch Ver¬
mittlung eines mittelalterlichen deutschem Kunstgedichtes annehmen darf.

Ein Volkslied, dessen traurige Weise aus dem Kansu des dänischen und
norwegischen Fischers erklingt, welches auch bei uns Annette von Droste-Hülshoff
im Münsterlande auf dem Dorfe singen hörte, ist die Ballade von den zwei
Königskindern, die sich so lieb haben, die aber ein breites Wasser trennt. Der
Jüngling schwimmt in der Nacht hinüber, während ihm zwei Kerzen, welche die
Maid drüben angezündet hat, die Richtung anzeigen. Aber eine falsche, neidische
Nonne löscht die Kerzen aus, und der Jüngling "bleibt in der See." Daß
dieses Lied den gleichen Inhalt mit einem altgriechischen Gedichte hat, ist so
bekannt, daß man ihm sogar bisweilen die unpassende antike Überschrift "Hero
und Leander" gegeben hat. Der Ursprung der Sage scheint aber älter zu sein
als das Griechentum, da sie schon in den heiligen Liedern der alten Inder und
Perser anklingt. Überdies lebte im Altertum die Sage in einer Gestalt, welche
uns ihre Verwandtschaft mit einem weiteren Kreise von Mythen beweist. Am


Antike Märchen in deutschem Gewände.

Aber die Zwergmutter fühlt Erbarmen, sie heißt ihn die Jungfrau wieder zurück¬
führen, ihr ahnt großes Unglück. Als sie zurückkommen, liegt der treue Ritter
tot unter der Linde, er hat sich erstochen. Da zieht die Maid das Schwert
aus seiner Brust und stößt es in die eigne.

Das Lied ist im echten deutschen Volkstone gehalten, und doch ist es
wahrscheinlich ein Fremdling. Ovid nämlich erzählt im vierten Buche seiner
Verwandlungen folgende Geschichte: Pyramus liebte die Thisbe, die schönste
assyrische Jungfrau. Beide verabreden eine Zusammenkunft, da wo am Grabe
des Ninus unter einem Maulbeerbäume eine Quelle entspringt. Ein jeder
täuscht die Wächter des Hauses und kommt zu dem bezeichneten Orte. Thisbe
zuerst. Als sie anlangt, erblickt sie eine Löwin, deren Nachen nach dem Morde
der Rinder noch vom Blute trieft. Eilends flicht sie in eine ucche Höhle, ver¬
liert aber ans der Flucht ihren Schleier. Die Löwin ergreift diesen und be¬
sudelt ihn mit ihrem blutigen Nachen, dann läuft sie davon. Jetzt kommt
Pyramus, sieht die wohlbekannte Spur des wildeu Tieres, sieht und erkennt
Thisbcs blutiges Gewand und — ersticht sich in Verzweiflung. Endlich wagt
sich auch Thisbe aus der schützenden Höhle, und als sie ihr Unglück genährt,
giebt sie sich gleichfalls den Tod.

Es ist klar, daß uns hier ganz dieselbe Sage vorliegt. Thisbe ist die
Königstochter des deutschen Liedes, Pyramus der Ritter. Sogar der Wächter,
der Brunnen und der „hohle Stein" siud vorhanden; der Maulbeerbnnm ist
in die deutsche Linde verwandelt. Mit der fremdländischen Löwin konnte sich
unser Lied nicht befreunden, dafür wurde, um die Entfernung der Jungfrau zu
motiviren, ein heimischer Zwerg eingeführt. Bei dieser Veränderung entging
den deutschen Dichtern, daß damit zugleich das eigentliche Motiv für den Tod
des Ritters wegfiel. Dies ist der Grund, weshalb mau hier vielleicht eine
direkte Entstehung des deutschen Liedes aus der lateinischen Quelle durch Ver¬
mittlung eines mittelalterlichen deutschem Kunstgedichtes annehmen darf.

Ein Volkslied, dessen traurige Weise aus dem Kansu des dänischen und
norwegischen Fischers erklingt, welches auch bei uns Annette von Droste-Hülshoff
im Münsterlande auf dem Dorfe singen hörte, ist die Ballade von den zwei
Königskindern, die sich so lieb haben, die aber ein breites Wasser trennt. Der
Jüngling schwimmt in der Nacht hinüber, während ihm zwei Kerzen, welche die
Maid drüben angezündet hat, die Richtung anzeigen. Aber eine falsche, neidische
Nonne löscht die Kerzen aus, und der Jüngling „bleibt in der See." Daß
dieses Lied den gleichen Inhalt mit einem altgriechischen Gedichte hat, ist so
bekannt, daß man ihm sogar bisweilen die unpassende antike Überschrift „Hero
und Leander" gegeben hat. Der Ursprung der Sage scheint aber älter zu sein
als das Griechentum, da sie schon in den heiligen Liedern der alten Inder und
Perser anklingt. Überdies lebte im Altertum die Sage in einer Gestalt, welche
uns ihre Verwandtschaft mit einem weiteren Kreise von Mythen beweist. Am


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[0032] Antike Märchen in deutschem Gewände. Aber die Zwergmutter fühlt Erbarmen, sie heißt ihn die Jungfrau wieder zurück¬ führen, ihr ahnt großes Unglück. Als sie zurückkommen, liegt der treue Ritter tot unter der Linde, er hat sich erstochen. Da zieht die Maid das Schwert aus seiner Brust und stößt es in die eigne. Das Lied ist im echten deutschen Volkstone gehalten, und doch ist es wahrscheinlich ein Fremdling. Ovid nämlich erzählt im vierten Buche seiner Verwandlungen folgende Geschichte: Pyramus liebte die Thisbe, die schönste assyrische Jungfrau. Beide verabreden eine Zusammenkunft, da wo am Grabe des Ninus unter einem Maulbeerbäume eine Quelle entspringt. Ein jeder täuscht die Wächter des Hauses und kommt zu dem bezeichneten Orte. Thisbe zuerst. Als sie anlangt, erblickt sie eine Löwin, deren Nachen nach dem Morde der Rinder noch vom Blute trieft. Eilends flicht sie in eine ucche Höhle, ver¬ liert aber ans der Flucht ihren Schleier. Die Löwin ergreift diesen und be¬ sudelt ihn mit ihrem blutigen Nachen, dann läuft sie davon. Jetzt kommt Pyramus, sieht die wohlbekannte Spur des wildeu Tieres, sieht und erkennt Thisbcs blutiges Gewand und — ersticht sich in Verzweiflung. Endlich wagt sich auch Thisbe aus der schützenden Höhle, und als sie ihr Unglück genährt, giebt sie sich gleichfalls den Tod. Es ist klar, daß uns hier ganz dieselbe Sage vorliegt. Thisbe ist die Königstochter des deutschen Liedes, Pyramus der Ritter. Sogar der Wächter, der Brunnen und der „hohle Stein" siud vorhanden; der Maulbeerbnnm ist in die deutsche Linde verwandelt. Mit der fremdländischen Löwin konnte sich unser Lied nicht befreunden, dafür wurde, um die Entfernung der Jungfrau zu motiviren, ein heimischer Zwerg eingeführt. Bei dieser Veränderung entging den deutschen Dichtern, daß damit zugleich das eigentliche Motiv für den Tod des Ritters wegfiel. Dies ist der Grund, weshalb mau hier vielleicht eine direkte Entstehung des deutschen Liedes aus der lateinischen Quelle durch Ver¬ mittlung eines mittelalterlichen deutschem Kunstgedichtes annehmen darf. Ein Volkslied, dessen traurige Weise aus dem Kansu des dänischen und norwegischen Fischers erklingt, welches auch bei uns Annette von Droste-Hülshoff im Münsterlande auf dem Dorfe singen hörte, ist die Ballade von den zwei Königskindern, die sich so lieb haben, die aber ein breites Wasser trennt. Der Jüngling schwimmt in der Nacht hinüber, während ihm zwei Kerzen, welche die Maid drüben angezündet hat, die Richtung anzeigen. Aber eine falsche, neidische Nonne löscht die Kerzen aus, und der Jüngling „bleibt in der See." Daß dieses Lied den gleichen Inhalt mit einem altgriechischen Gedichte hat, ist so bekannt, daß man ihm sogar bisweilen die unpassende antike Überschrift „Hero und Leander" gegeben hat. Der Ursprung der Sage scheint aber älter zu sein als das Griechentum, da sie schon in den heiligen Liedern der alten Inder und Perser anklingt. Überdies lebte im Altertum die Sage in einer Gestalt, welche uns ihre Verwandtschaft mit einem weiteren Kreise von Mythen beweist. Am

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198719/32>, abgerufen am 22.07.2024.