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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal.

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Chauvinisten und Regierung in Rußland.

lassen. Wäre jene Partei, die wir auch als die russische Kriegspartei bezeichnen
dürfen, etwa auch eine Macht? Müßte man sie berücksichtigen, sie gewähren
lassen?

Ein Schreiben, welches vor kurzem in der "Politischen Korrespondenz"
erschien und, offenbar aus offiziöser Quelle in Petersburg stammend, Aufsehe"
erregte, stellte diese Bedeutung der Chauvinisten und ihrer Presse sehr entschieden
in Abrede und erklärte es für Pflicht, "das europäische Publikum darauf auf¬
merksam zu machen, daß die fanatischen Tiraden einiger Schreier nicht als
Ausdruck der Gesinnungen des russische" Volkes angesehen werden dürfen."
Das letztere sei, so fuhr das Schreiben fort, durchaus dem Frieden zugeneigt,
dabei aber auch jederzeit bereit, seine Interessen und seine Würde kräftig zu
schützen, es sei ferner groß und stark, und es gehöre zu jenen Böllern, "die im
kritischen Momente energisch handeln und ihre Zeit nicht mit unnötigen Kund¬
gebungen verlieren. Jene Schreier -- hieß es weiter -- können nicht einmal deu
Patriotismus, mit dem sie sich brüsten, als Entschuldigungsgrund für ihre auf-
regende Sprache geltend macheu; denn der wahre Patriotismus besteht darin,
daß man schweigend über die öffentlichen Interessen wacht, um durch die That
alle Anstalten zum Schutze derselben zu treffen, nicht aber darin, daß man seine
moralische Kraft in Deklamationen verschleudert und sein Vaterland ander"
Staaten gegenüber durch leere Drohungen kompromittirt und bei alleu Freunden
des Friedens Argwohn hervorruft." Das enthielt ohne Zweifel viel Wahres,
aber wenn es eine Entschuldigung vor den von der chauvinistischen Presse an¬
gebellten westlichen Nachbarn sein sollte, so konnte man darin zwischen den
Zeilen mich eine Verteidigung der Negicrnngspolitik gegen die Vorwürfe der
Chauvinisten lesen. Diese Partei konnte also nicht so klein und unbedeutend
sein, als das Schreiben an mehreren Stellen versicherte, und das ist sie in der
That nicht. Der russische Chauvinismus ist eine Erscheinung von altem Datum,
er hat nicht immer die Stellung einer Opposition eingenommen, und es ist nicht
undenkbar, daß er, welcher wiederholt schon die Negierung verhängnisvoll be¬
einflußte, einmal völlig an die Regierung kommt. In den "Russisch-Baltischen
Blättern" finden wir einen Blick auf das Wesen und die Geschichte dieser Er¬
scheinung,") eine Betrachtung, deren Ausführungen und Ergebnissen wir zwar
nicht in allen Stücken beistimmen können, die aber augenscheinlich auf guter
Kenntnis beruht und insofern Beachtung verdient, weshalb wir im Folgenden
das Wesentlichste daraus, soweit es mit unsrer Überzeugung sich deckt, mitteile".

Der russische Chauvinismus existirt uicht, wie manche meine", seit gestern,
und wird nicht morgen verschwinden. Er ist das jüngste Glied einer langen
.Kette von Bestrebungen, die ursprünglich und bis zum Anfange unsers Jahr¬
hunderts, praktisch-politische Ziele verfolgend, mir in den höchsten staatliche"



") Heft 1, Wolken im Osten,
Chauvinisten und Regierung in Rußland.

lassen. Wäre jene Partei, die wir auch als die russische Kriegspartei bezeichnen
dürfen, etwa auch eine Macht? Müßte man sie berücksichtigen, sie gewähren
lassen?

Ein Schreiben, welches vor kurzem in der „Politischen Korrespondenz"
erschien und, offenbar aus offiziöser Quelle in Petersburg stammend, Aufsehe»
erregte, stellte diese Bedeutung der Chauvinisten und ihrer Presse sehr entschieden
in Abrede und erklärte es für Pflicht, „das europäische Publikum darauf auf¬
merksam zu machen, daß die fanatischen Tiraden einiger Schreier nicht als
Ausdruck der Gesinnungen des russische» Volkes angesehen werden dürfen."
Das letztere sei, so fuhr das Schreiben fort, durchaus dem Frieden zugeneigt,
dabei aber auch jederzeit bereit, seine Interessen und seine Würde kräftig zu
schützen, es sei ferner groß und stark, und es gehöre zu jenen Böllern, „die im
kritischen Momente energisch handeln und ihre Zeit nicht mit unnötigen Kund¬
gebungen verlieren. Jene Schreier — hieß es weiter — können nicht einmal deu
Patriotismus, mit dem sie sich brüsten, als Entschuldigungsgrund für ihre auf-
regende Sprache geltend macheu; denn der wahre Patriotismus besteht darin,
daß man schweigend über die öffentlichen Interessen wacht, um durch die That
alle Anstalten zum Schutze derselben zu treffen, nicht aber darin, daß man seine
moralische Kraft in Deklamationen verschleudert und sein Vaterland ander»
Staaten gegenüber durch leere Drohungen kompromittirt und bei alleu Freunden
des Friedens Argwohn hervorruft." Das enthielt ohne Zweifel viel Wahres,
aber wenn es eine Entschuldigung vor den von der chauvinistischen Presse an¬
gebellten westlichen Nachbarn sein sollte, so konnte man darin zwischen den
Zeilen mich eine Verteidigung der Negicrnngspolitik gegen die Vorwürfe der
Chauvinisten lesen. Diese Partei konnte also nicht so klein und unbedeutend
sein, als das Schreiben an mehreren Stellen versicherte, und das ist sie in der
That nicht. Der russische Chauvinismus ist eine Erscheinung von altem Datum,
er hat nicht immer die Stellung einer Opposition eingenommen, und es ist nicht
undenkbar, daß er, welcher wiederholt schon die Negierung verhängnisvoll be¬
einflußte, einmal völlig an die Regierung kommt. In den „Russisch-Baltischen
Blättern" finden wir einen Blick auf das Wesen und die Geschichte dieser Er¬
scheinung,") eine Betrachtung, deren Ausführungen und Ergebnissen wir zwar
nicht in allen Stücken beistimmen können, die aber augenscheinlich auf guter
Kenntnis beruht und insofern Beachtung verdient, weshalb wir im Folgenden
das Wesentlichste daraus, soweit es mit unsrer Überzeugung sich deckt, mitteile».

Der russische Chauvinismus existirt uicht, wie manche meine», seit gestern,
und wird nicht morgen verschwinden. Er ist das jüngste Glied einer langen
.Kette von Bestrebungen, die ursprünglich und bis zum Anfange unsers Jahr¬
hunderts, praktisch-politische Ziele verfolgend, mir in den höchsten staatliche»



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[0298] Chauvinisten und Regierung in Rußland. lassen. Wäre jene Partei, die wir auch als die russische Kriegspartei bezeichnen dürfen, etwa auch eine Macht? Müßte man sie berücksichtigen, sie gewähren lassen? Ein Schreiben, welches vor kurzem in der „Politischen Korrespondenz" erschien und, offenbar aus offiziöser Quelle in Petersburg stammend, Aufsehe» erregte, stellte diese Bedeutung der Chauvinisten und ihrer Presse sehr entschieden in Abrede und erklärte es für Pflicht, „das europäische Publikum darauf auf¬ merksam zu machen, daß die fanatischen Tiraden einiger Schreier nicht als Ausdruck der Gesinnungen des russische» Volkes angesehen werden dürfen." Das letztere sei, so fuhr das Schreiben fort, durchaus dem Frieden zugeneigt, dabei aber auch jederzeit bereit, seine Interessen und seine Würde kräftig zu schützen, es sei ferner groß und stark, und es gehöre zu jenen Böllern, „die im kritischen Momente energisch handeln und ihre Zeit nicht mit unnötigen Kund¬ gebungen verlieren. Jene Schreier — hieß es weiter — können nicht einmal deu Patriotismus, mit dem sie sich brüsten, als Entschuldigungsgrund für ihre auf- regende Sprache geltend macheu; denn der wahre Patriotismus besteht darin, daß man schweigend über die öffentlichen Interessen wacht, um durch die That alle Anstalten zum Schutze derselben zu treffen, nicht aber darin, daß man seine moralische Kraft in Deklamationen verschleudert und sein Vaterland ander» Staaten gegenüber durch leere Drohungen kompromittirt und bei alleu Freunden des Friedens Argwohn hervorruft." Das enthielt ohne Zweifel viel Wahres, aber wenn es eine Entschuldigung vor den von der chauvinistischen Presse an¬ gebellten westlichen Nachbarn sein sollte, so konnte man darin zwischen den Zeilen mich eine Verteidigung der Negicrnngspolitik gegen die Vorwürfe der Chauvinisten lesen. Diese Partei konnte also nicht so klein und unbedeutend sein, als das Schreiben an mehreren Stellen versicherte, und das ist sie in der That nicht. Der russische Chauvinismus ist eine Erscheinung von altem Datum, er hat nicht immer die Stellung einer Opposition eingenommen, und es ist nicht undenkbar, daß er, welcher wiederholt schon die Negierung verhängnisvoll be¬ einflußte, einmal völlig an die Regierung kommt. In den „Russisch-Baltischen Blättern" finden wir einen Blick auf das Wesen und die Geschichte dieser Er¬ scheinung,") eine Betrachtung, deren Ausführungen und Ergebnissen wir zwar nicht in allen Stücken beistimmen können, die aber augenscheinlich auf guter Kenntnis beruht und insofern Beachtung verdient, weshalb wir im Folgenden das Wesentlichste daraus, soweit es mit unsrer Überzeugung sich deckt, mitteile». Der russische Chauvinismus existirt uicht, wie manche meine», seit gestern, und wird nicht morgen verschwinden. Er ist das jüngste Glied einer langen .Kette von Bestrebungen, die ursprünglich und bis zum Anfange unsers Jahr¬ hunderts, praktisch-politische Ziele verfolgend, mir in den höchsten staatliche» ») Heft 1, Wolken im Osten,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198719/298>, abgerufen am 03.07.2024.